Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2023: Studium und Lehre

Sich frühzeitig Unterstützung holen bei Problemen

Ein Gespräch mit Stefan Balz, Leiter der Psychotherapeutischen Beratungsstelle des Studierendenwerks

Bitte stellen Sie die Psychotherapeutische Beratungsstelle kurz vor.

Die Psychotherapeutische Beratungsstelle des Studierendenwerks Tübingen-Hohenheim gibt es bereits seit 1970. Trotzdem kommt es auch heute noch vor, dass Studierende sagen: ich wäre schon viel früher gekommen, aber ich wusste gar nicht, dass es Sie gibt. Wir sind vor knapp drei Jahren in den Blauen Turm gezogen, davor saßen wir etwa 20 Jahre in der Gartenstraße 26. Die Beratungsstelle hat aktuell fünf Beraterinnen und Berater. Nicht alle haben Vollzeitstellen, so dass wir uns gemeinsam 3,5 Stellen teilen. Momentan bin ich als ausgebildeter Verhaltenstherapeut der einzige Approbierte. Aktuell befinden sich aber fast alle meine Kolleginnen in einer Psychotherapie-Ausbildung.

Wie viele Studierende beraten Sie pro Jahr? Und wie viele Beratungsstunden kommen dabei zusammen?

Im Jahr 2021 haben wir 752 Studierende beraten und insgesamt 2373 Beratungsstunden erbracht. Das heißt: im Schnitt kommen die Studierenden ziemlich genau für drei Termine zu uns. Tatsächlich ist unser Angebot auch gar nicht für eine längerfristige Begleitung oder gar Behandlung gedacht. Behandlung ist nicht unser Auftrag – in der Praxis sind die Grenzen zwischen Beratung und Behandlung aber häufig fließend.

Gibt es ein Limit, wie viel Stunden man bei Ihnen bekommen kann? Oder wann sagen Sie, jetzt müssen wir nach einem richtigen Therapieplatz suchen?

Wir haben kein festes Limit der Stunden, sagen aber allen Studierenden, dass unsere Kapazitäten begrenzt sind und wir auch dem Umfang nach keine Psychotherapie oder Ähnliches anbieten können. Wir sind froh, dass wir auf diese Weise den Schnitt von etwa drei Terminen pro Beratungsfall halten können. Natürlich gibt es immer wieder Studierende, die man dann nicht nach drei oder vier Terminen einfach wegschicken kann, allein schon aus ethischer Verantwortung. Beispielsweise bei Beschwerden, für die es keine oder keine zeitnah verfügbaren alternative Behandlungs- oder Unterstützungsmöglichkeiten gibt. Oder auch bei Gruppen, bei denen es generell schwieriger ist, einen Therapieplatz zu finden. Internationale Studierende haben häufig Krankenversicherungen, die überhaupt nicht für eine Psychotherapie aufkommen. Oder sie sind so kurz in Tübingen, dass es keinen Sinn machen würde, dass sie hier eine Therapie hier anfangen – selbst wenn sie einen Therapeuten oder eine Therapeutin finden würden. 

Therapieplätze sind momentan sehr knapp. Spüren Sie eine verstärkte Nachfrage nach Beratung aufgrund der Tatsache, dass viele sehr lange auf einen Therapieplatz warten müssen?

Es kommt immer wieder vor, dass Studierende uns sagen, dass sie keinen Therapieplatz finden und deswegen erstmal zu uns gekommen sind. Aber das gab es auch schon vor der Pandemie. Auch in Tübingen, wo die Versorgungslage mit weit über 100 Psychotherapiepraxen mit Kassenzulassung überdurchschnittlich gut ist.

Wer kommt zu Ihnen in die Beratung?

Im langjährigen Durchschnitt – wir führen seit 2013 eine umfassendere Statistik – sind die Studierenden in der Beratung knapp 25 Jahre alt und im achten Semester. Natürlich war die Gruppe der Studienanfänger von der Corona-Pandemie besonders betroffen. Das ist ja für junge Menschen eine ganz wichtige Phase, in der es darum geht, das Elternhaus zu verlassen, sich abzulösen, sich in Eigenständigkeit zu erproben, sich etwas Eigenes aufzubauen. – All dies war in den letzten drei Jahren sehr erschwert oder zum Teil auch gar nicht möglich. Die älteren Studierenden haben selbstverständlich dieselben sozialen Einschränkungen erlebt, konnten aber in der Regel auf ein soziales Netz aus der Vor-Coronazeit zurückgreifen. Trotzdem hat sich am Alters- und Semester-Durchschnitt in unserer Beratung auch in den Jahren 2020 und 2021 nichts grundlegend geändert. 

Welche Themen sind bei Ihnen in der Beratung die häufigsten?

In unserem Anmeldeformular können die Studierenden ankreuzen, aus welchem Anlass sie nach Beratung suchen, dabei sind auch Mehrfachnennungen möglich. Mehr als 50 Prozent der Studierenden geben depressive Verstimmungen, Ängste, Stressprobleme und Arbeitsstörungen an, Prüfungsangst wird von knapp 30 Prozent genannt. 

Die Zahl der psychischen Erkrankungen ist in den vergangenen drei Jahren stark gestiegen - und das gilt auch gerade für jüngere Menschen. Spüren Sie diese Veränderung in der Beratung? 

Wir beobachten seit langem einen kontinuierlichen Anstieg der Nachfrage nach unseren Beratungsangeboten. Was wir spüren ist eine Zunahme spezifischer Arbeitsstörungen in den vergangenen drei Jahren, auch wenn sich das in der reinen Statistik nicht so deutlich niederschlägt. Öffentliche Lernorte wie Bibliotheken und Institute waren lange Zeit gar nicht oder nur eingeschränkt nutzbar. Die überwiegende und phasenweise sogar ausschließliche Online-Lehre über mehrere Semester, für sich alleine lernen und studieren zu Hause, zum Teil noch im Jugendzimmer bei den Eltern, – all das war eine sehr große Belastung für die Studierenden. Hinzu kommen die vielen sozialen Einbußen während der Pandemie: entweder gar nicht am Studienort zu sein oder am Studienort zu sein – und dennoch sehr eingeschränkte soziale Möglichkeiten zu haben, wie etwa andere Studierende kennenzulernen, Kontakte zu pflegen oder (gemeinsamen) Freizeitaktivitäten nachzugehen. Das hat viele Studierende sehr gestresst, frustriert und vielfach auch enttäuscht.

Im Dezember haben Sie eine Veranstaltung speziell zum Thema Prüfungsangst gemacht. Planen Sie ähnliche Veranstaltungen für die Zukunft?

Tatsächlich war dieser vierstündige Workshop mit acht Teilnehmenden ein neues Format. Das Feedback war durchweg positiv. Künftig wollen wir ähnliche Veranstaltungen mindestens einmal pro Semester anbieten. Gruppenformate als Ergänzung zur Einzelberatung machen meiner Einschätzung nach auch Sinn, wenngleich es die Anzahl der Einzelberatungen nicht reduzierten wird.

Können Sie noch etwas mehr zum Thema Prüfungsangst sagen?

Studierende, die Prüfungsängste haben, sind häufig sehr fokussiert auf das, was sie nicht können, während sie ihre Kompetenzen oder das, was sie alles schon geschafft haben, gar nicht so im Blick haben. Betroffen von Prüfungsängsten sind oft gerade leistungsfähige, leistungsbereite Studierende, die noch nie bei einer Prüfung durchgefallen sind. Viele von ihnen haben in erster Linie Angst vor der Erfahrung, nicht zu bestehen – weil sie diese Erfahrung gar nicht kennen. Andere, die schon mal eine Prüfung nicht bestanden haben, sehen das nicht selten entspannter und pragmatischer, nach dem Motto „dann muss ich die Prüfung halt noch mal machen“.
Menschen mit Prüfungsangst haben darüber hinaus häufig nicht gelernt, innere Anspannung und Nervosität gezielt abzubauen, sie haben keine guten Fähigkeiten zur Selbstberuhigung. In der Beratung setzen wir hier insbesondere an zwei Punkten an: der mentalen Einstellung gegenüber Prüfungen und der Fähigkeit zur emotionalen Regulation. Diese Kombination reicht in den meisten Fällen aus, um die Prüfungsangst zu beheben oder zumindest ausreichend zu mildern – ohne dass man dafür jeden Stein in der Lebensgeschichte umdrehen muss.

Wie sieht die Zusammenarbeit mit der Zentralen Studienberatung (ZSB) der Universität aus?

Wir stehen in regelmäßigem Austausch und treffen uns mindestens 1-2 Mal pro Jahr. Besonders eng ist der Kontakt auch mit den Kolleginnen dort, die die Beratung für Studierende mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen machen. Häufig schreiben wir nach Vermittlung von Studierenden an uns Stellungnahmen für Studierende, etwa wenn es um Anträge zum Nachteilsausgleich, Wiederherstellung eines Prüfungsanspruchs, eine Fristverlängerung oder BAföG-Angelegenheiten geht.
Wo kommen Sie als psychotherapeutische Beratungsstelle an Ihre Grenzen?

Studierende können grundsätzlich mit allen Themen zu uns kommen – egal, ob sie das Studium oder den privaten und persönlichen Bereich betreffen. Wenn wir aber in der Beratung sehen, dass Studierende mehr Unterstützung als nur eine Beratung benötigen, dann verweisen wir an andere Stellen. Im Jahr 2021 haben wir 23 Prozent der Studierenden in unserer Beratung eine Psychotherapie und knapp drei Prozent eine psychiatrische Behandlung empfohlen. 

Häufig zögern Studierende, sich anzumelden..

Ja, das Thema Niederschwelligkeit ist ganz wichtig. Ganz davon abgesehen, dass es vielen schwer fällt sich einzugestehen, dass sie mit etwas alleine nicht mehr gut klarkommen, darf man auch die Hemmschwelle, einen Termin zu vereinbaren, nicht unterschätzen. Wir können diese Hürde nicht ganz auf Null reduzieren. Aber seit Oktober 2022 bieten wir auch die Option an, sich online für ein Erstgespräch anzumelden. Diese Möglichkeit wird sehr stark genutzt, hier haben wir offenbar genau den Nerv getroffen.

Was können Sie den Studierenden empfehlen?

Es gibt immer wieder Studierende, die denken, ihre Probleme seien nicht wichtig genug für eine Beratung. Oder sie haben die Einstellung: „ich will anderen Studierenden nichts wegnehmen“. Beide Einschätzungen teile ich nicht. Ich kann aus meiner langjährigen Erfahrung allen Studierenden nur empfehlen, sich wirklich frühzeitig um Unterstützung zu bemühen – wann immer irgendwo der Schuh unangenehm drückt. Je länger man damit wartet, desto schwieriger wird es oft, Probleme zu lösen und man hat auch eine längere Leidenszeit. Daher meine Einladung an die Studierenden: Nutzen Sie die Angebote der Psychotherapeutischen Beratungsstelle!

Das Interview führte Maximilian von Platen

Service

Einen Überblick über die verschiedenen Angebote der Psychotherapeutischen Beratung für Studierende sowie Kontaktmöglichkeiten zur Terminbereinbarung gibt es auf der Webseite des Studierendenwerks Tübingen-Hohenheim.