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18.01.2021

Universität Tübingen will Verbleib von anatomischen Präparaten aufklären

Fachartikel wirft Fragen zum Umgang mit sterblichen Überresten aus der NS-Zeit in den Jahren 1989 und 1990 auf

Die Universität Tübingen hat zugesagt, in einem jüngst publizierten medizinhistorischen Forschungsbeitrag neu aufgeworfene Fragen zum Umgang mit anatomischen Präparaten aus der NS-Zeit systematisch aufzuarbeiten. Die Universität werde alle Möglichkeiten ausschöpfen, um den Sachverhalt aufzuklären, sagte Rektor Professor Bernd Engler: „Ich habe daher umgehend nach Bekanntwerden der Vorwürfe die Historikerin und Leiterin des aktuellen Forschungsprojekts zum so genannten Gräberfeld X, Professorin Benigna Schönhagen beauftragt, den Aktenbestand im Archiv der Universität zu sichten, um so die offenen Fragen zu beantworten.“ Sollte sich der Sachverhalt anhand der Aktenlage nicht klären lassen, werde die Universität mit der Stadt Tübingen über eine mögliche Exhumierung der im Juli 1990 auf dem Gräberfeld X bestatteten sterblichen Überreste beraten.

Der britische Medizinhistoriker Professor Paul Weindling hat in einem jüngst veröffentlichten Fachartikel den Verdacht geäußert, dass Verantwortliche der Universität im Juli 1990 sterbliche Überreste von minderjährigen Euthanasieopfern in Tübingen bestattet haben sollen. Der Vorgang sei seinerzeit gegenüber der Öffentlichkeit und auch gegenüber einer externen, von der Universität beauftragten Untersuchungskommission verschwiegen worden. Die sterblichen Überreste – überwiegend oder ausschließlich Teile von Gehirnen – sollen zusammen mit anderen anatomischen Präparaten aus der NS-Zeit auf dem Gräberfeld X des Tübinger Stadtfriedhofs beigesetzt worden sein. 

„Der von Professor Weindling recherchierte Vorgang wirft auch aus Sicht der Universität eine Vielzahl von Fragen auf“, sagte der Rektor. Die Prüfung des Aktenbestands aus den Jahren 1989/90 – darunter auch die Protokolle von Dienstbesprechungen der damaligen Universitätsleitung – laufe derzeit, habe allerdings bislang keine Klarheit erbracht. Engler erklärte, die Universität werde alle verfügbaren Quellen heranziehen, um den Verbleib der sterblichen Überreste aufzuklären. 

Die Universität war im Jahr 1988/89 mit der Tatsache konfrontiert worden, dass präparierte Körperteile aus der NS-Zeit sich noch immer in verschiedenen medizinischen Lehr- und Schausammlungen befanden. Die Universität richtete daraufhin eine Untersuchungskommission ein, die eine vollständige Bestandsaufnahme vornehmen sollte. In ihrem Abschlussbericht, der im Sommer 1989 vorgelegt wurde, empfahl die Kommission, alle Präparate aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 aus dem Anatomischen Institut und sämtlichen anderen medizinischen Einrichtungen der Universität zu entfernen und in würdiger Form zu bestatten. Die Beisetzung auf dem Gräberfeld X erfolgte unter Ausschluss der Öffentlichkeit am 4. Juli 1990. Eine öffentliche Gedenkfeier fand vier Tage später statt. Laut einem Sachstandsbericht, den Universitätspräsident Adolf Theis am Tag der Beisetzung an das baden-württembergische Ministerium für Wissenschaft und Kunst gesandt hat, wurden zwei Urnen sowie „vier Marmor-Behältnisse mit gläsernen Objektträgern“ bestattet. Unklar bleibt bislang aber, was sich in welchem Behältnis befand und aus welchem Institut die beigesetzten Präparate stammten.  

Nach den Recherchen von Professor Weindling sollen ebenfalls am 4. Juli 1990 die sterblichen Überreste von Euthanasieopfern beigesetzt worden sein. Die Präparate sollen aus der so genannten Kinderfachabteilung Wiesengrund in Berlin-Wittenau stammen, in der während des Zweiten Weltkriegs eine Vielzahl von psychisch kranken Kindern ermordet wurde. An der Einrichtung tätige Ärzte entnahmen den getöteten Kindern die Gehirne und präparierten diese für Forschungszwecke. Der in Wiesengrund tätige Pathologe Berthold Ostertag soll die Hirnpräparate von insgesamt 106 Opfern nach dem Krieg nach Tübingen gebracht haben. Ostertag baute an der Universität Tübingen nach Kriegsende das Institut für Hirnforschung auf und leitete dieses bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1964. Weindling stützt sich in seinen Recherchen maßgeblich auf Aussagen von Ostertags Nachfolger an der Spitze des Tübinger Instituts für Hirnforschung, Professor Jürgen Peiffer, der im Dezember 2006 verstarb.    

Wie aus dem Abschlussbericht der Untersuchungskommission hervorgeht, hatte die Universitätsleitung 1989 alle medizinischen Institute darauf verpflichtet, ihre Sammlungsbestände zu überprüfen und Präparate zu melden, die mutmaßlich von NS-Opfern stammten. Die damalige Leitung des Instituts für Hirnforschung hatte daraufhin schriftlich erklärt, dass sich – auch nach Aussagen von Professor Peiffer – in den Beständen des Instituts keinerlei Präparate aus der Zeit vor Kriegsende befänden. Dementsprechend finden die Hirnpräparate der ermordeten Kinder im Abschlussbericht der Senatskommission keine Erwähnung. 

Publikation:

Paul Weindling, Hiding in Plain View: Burial and Commemoration of Children’s Specimens from Wittenau in the “Gräberfeld/Cemetery X” Tübingen, 4 and 8 July 1990. Medizinhistorisches Journal, 56, 2021. https://doi.org/10.25162/mhj-2020-0016  

Kontakt: 

Universität Tübingen
Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften 
Prof. Dr. Benigna Schönhagen
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