Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2025: Studium und Lehre

„Welches Buch hat Dein Leben verändert?“ Ein Podcast über Literatur – von Vater zu Tochter

Studienprojekt untersucht die Frage, welche Bedeutung Bücher und Literatur für unser Leben haben

Isolde Sellin studiert im Master Literatur- und Kulturtheorie. Ihr Vater hat über 60 Jahre als Buchhändler gearbeitet und mit seiner Tochter viel über Literatur diskutiert. Nachdem bei ihm Krebs diagnostiziert wurde, hat Isolde Sellin mit ihm einen Podcast über die Bücher seines Lebens und die Bedeutung von Literatur produziert – ein literarisches Vermächtnis.

Wie kam es zu dem Podcast „Von Vater zu Tochter: Bücher eines Lebens“?

Mein Vater war sein ganzes Leben lang Buchhändler und Antiquar. Ich habe mit ihm immer über Literatur gesprochen. Man kann vielleicht sagen, dass wir unsere Vater-Tochter-Beziehung in besonderer Weise über Literatur gelebt haben. Die Idee, aus diesen Gesprächen einen Podcast zu machen, kam mir im Sommer 2024, nachdem deutlich wurde, dass mein Vater seine Krebserkrankung nicht überleben würde.

Der Podcast hat für mich den Charakter eines Vermächtnisses und er ist für mich persönlich auch eine Form, Abschied zu nehmen. Gleichzeitig ging es mir mit dieser Studienarbeit darum, das Wissen meines Vaters und diesen großen Fundus an Geschichten über Bücher, über Literatur, über den Buchhandel allgemein und über das Leben als Antiquar zu bewahren.

Mein Vater hat andere Leute immer gefragt: Welches Buch hat dein Leben verändert? Entsprechend waren auch für mich im Podcast die zentralen Fragen an meinen Vater: Welche Bücher haben Dich besonders geprägt? Welche Bedeutung kann Literatur für ein Leben haben? Bei der Moderation des Podcasts habe ich versucht, die Balance so zu halten, dass die Zuhörerinnen und Zuhörer einerseits etwas über meinen Vater und über den Buchhandel allgemein erfahren, andererseits aber auch Informationen zu den Autorinnen und Autoren und ihrer Literatur.

Der Podcast ist zugleich auch Studienarbeit in Ihrem Masterstudiengang…

Ich mache einen Doppel-Master in Literatur- und Kulturtheorie sowie in Allgemeiner Rhetorik. Im Rahmen des Masters Literatur- und Kulturtheorie ist eine freie Studienarbeit, das Projektmodul, verpflichtend. In der Gestaltung sind wir dabei sehr frei: Wir können Veranstaltungen organisieren, eine Zeitschrift konzeptualisieren – oder einen Podcast machen. Generell ist es ein Studiengang mit sehr vielen Freiheiten: Man kann sich aus allen Geistes- und Sozialwissenschaften genau das auswählen, was einen interessiert – das ist toll.

Der Studiengang an sich beinhaltet – wie der Name schon sagt – sehr viel Theorie. Im Projektmodul geht es darum, die Theorie aus dem Studium in die Praxis zu überführen. Denn das ist später auch im Berufsleben ganz elementar, wenn man nicht eine akademische Laufbahn anstrebt. Mich persönlich hat das Medium Podcast schon immer am meisten interessiert. Natürlich ist der Podcast auch eine gute Arbeitsprobe im Hinblick auf mein Ziel, später einmal im Journalismus zu arbeiten.

Nicht alle Studienprojekte haben einen so persönlichen Bezug wie bei mir. Aber Professor Georg Braungart, zu diesem Zeitpunkt noch Studiengangsverantwortlicher, und Dr. Lily Tonger-Erk, die auch Zweit-Betreuerin meiner Masterarbeit ist, waren von Beginn an sehr offen gegenüber meiner Projektidee und haben mich bestmöglich bei der Umsetzung unterstützt.

Wie haben Sie die Idee für den Podcast schließlich realisiert?

Nachdem ich meine Projektidee mit Georg Braungart und Lily Tonger-Erk besprochen hatte, habe ich meinen Vater gefragt, ob er sich überhaupt vorstellen kann, an einem Podcast über Literatur und Bücher mitzuwirken. Er hat schnell Ja gesagt und mir eine Liste mit zwölf Büchern gegeben, die ihm wichtig waren und über die er mit mir reden wollte. Manche davon kannte ich schon, andere habe ich schnell gelesen und versucht, aus diesem Fundus an Büchern Themen für den Podcast zu finden.

Mein Vater war Zeit seines Lebens selbsterklärter passionierter Pessimist. Eine Folge des Podcast beschäftigt sich daher mit dem Thema Pessimismus und dazu passenden Büchern aus der Liste meines Vaters. In einer anderen Folge spreche ich mit ihm über die Schönheit des Lebens, das Naturerlebnis und die Beziehung zur Natur. Grundlage sind hier unter anderem Gedichte von Friedrich Hölderlin und Reiner Maria Rilke. Auf diese Weise sind aus der Bücherliste sechs Folgen für den Podcast entstanden. Die siebte und letzte Folge trägt den Titel „Was ich Dich noch fragen wollte“.

Für jede Folge hatte ich meinem Vater vorab ein paar Fragen gegeben. Ein festes Skript gab es nicht, denn ich wollte, dass mein Vater möglichst authentisch spricht – ohne ständig daran zu denken, dass er gerade aufgenommen wird. Die Produktion des Podcasts hat zwei Monaten gedauert. Ich habe mit kleinen Mikros gearbeitet, die ich meinem Vater angesteckt habe. Alles war semi-professionell, aber meine Priorität war, dass es schnell geht. Denn ich hatte Angst, dass mein Vater zu krank für die Aufnahme wird oder vor Fertigstellung an seiner Erkrankung stirbt. Tatsächlich ist mein Vater wenige Wochen nach der Veröffentlichung des Podcasts gestorben.

Im Anschluss habe ich noch einen Projektbericht geschrieben, in dem ich das Ganze noch mal reflektiert habe: Was waren die Herausforderungen, wie sah der Planungsprozess aus und wie ließ sich mein Konzept letztendlich in der Realität umsetzen? In diesen Bericht sind auch Aspekte aus der literaturwissenschaftlichen Theorie eingeflossen.

Erzählen Sie ein bisschen mehr von Ihrem Vater und von der Rolle, die Bücher und Literatur in Ihrer Familie gespielt haben.

Meine Eltern haben beide nicht studiert. Mein Vater war Jahrgang 1945. Mit 17 Jahren hat er eine Ausbildung zum Buchhändler gemacht und insgesamt über 60 Jahre im Buchhandel gearbeitet, fast bis zuletzt. Dabei musste er sich die Welt der Bücher erst erschließen, denn er kam aus einer Familie, in der es keine Bücher gab. Mit 58 Jahren, zwei Jahre nach meiner Geburt, hat er das Antiquariat meines Großvaters mütterlicherseits in Mainz übernommen, das er dann gemeinsam mit meiner Mutter geführt hat. Sie ist auch Buchhändlerin und seit der Erkrankung meines Vaters führt sie das Antiquariat jetzt alleine.

In meiner Kindheit und Jugend waren Bücher immer vorhanden und frei zugänglich. Wenn ich ein Buch haben wollte, habe ich es bekommen. Ich hatte gewissermaßen meine persönlichen Buchhändlerinnen und habe auch deswegen immer sehr viel gelesen. Bestimmte Bücher habe ich immer wieder gelesen, zum Teil bis zu 25 Mal hintereinander. Das mache ich auch heute noch so. Mein Vater hätte gerne gesehen, dass ich von Anfang an nur Hölderlin und Goethe lese. Ich wollte dagegen als Jugendliche auch „Harry Potter“ oder „Die Tribute von Panem“ lesen.

Mein Vater und meine Mutter sind vermutlich die einzigen Eltern, die so ziemlich jedes Buch, das ihre Tochter im Studium gelesen hat, vom Namen kennen, obwohl sie die meisten davon nicht selbst gelesen haben. Aber sie konnten mir fast immer sofort den Verlag und die Farbe des Buchtitels von den Büchern nennen. Ich habe als Kind sehr viel Zeit im Antiquariat verbracht, und die Liebe zur Literatur habe ich auf jeden Fall von meinen Eltern übernommen.

Was sind Ihre persönlichen Lieblingsbücher?

Den ersten Zugang zu Literatur habe ich bekommen über meine Begeisterung für „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde. Generell waren Oscar Wilde und die englische Literatur sehr wichtig für mich. Zuletzt habe im Rahmen eines Seminars zu Arthur Schnitzler gearbeitet und dabei eine große Liebe für seine Werke entwickelt. An Lyrik schätze ich besonders Else Lasker-Schüler. Vor allem aber habe ich eine große Leidenschaft für die deutsch-jüdische Dichterin Mascha Kaléko, von der ich fast alle Gedichte großartig finde. Seitdem ich diese Leidenschaft entwickelt habe, hatten meine Eltern in ihrem Laden immer viele Bücher von Mascha Kaléko und haben sie auch proaktiv anderen Leuten empfohlen.

Was bleibt?

Meine Hoffnung ist, dass es meinem Vater und mir mit dem Podcast gelungen ist, auch Leute abzuholen, die sich normalerweise nicht so viel mit Literatur auseinandersetzen. Tatsächlich sind einige Kundinnen und Kunden nach der Veröffentlichung des Podcasts zu meiner Mutter in den Laden gekommen und haben gezielt die Literatur gekauft, die mein Vater empfohlen hat.

Mein Vater hat im Podcast nicht nur über Literatur gesprochen, sondern auch über seinen Blick auf das Leben und sein Verhältnis zum Tod. Es war nicht leicht, hierzu etwas aus ihm herauszukitzeln: Er ist Jahrgang 1945 – über Emotionen zu sprechen ist sicherlich kein Markenzeichen dieser Generation, und über den Tod zu sprechen fällt wahrscheinlich den wenigsten Menschen leicht. Insofern war mein Vater in den Gesprächen authentisch, weil vieles tatsächlich offen blieb – er hat mir keine große emotionale Verkündigung gemacht. Dennoch hat sich in unserer Beziehung bei der Arbeit am Podcast etwas verändert, auch außerhalb des Podcasts.

Vielleicht kann der Podcast auch für andere Menschen – Erwachsene wie Kinder – Anstoß sein, mehr Fragen an die eigenen Eltern zu stellen und ins Gespräch zu kommen. Das würde mich sehr freuen. Insofern ist der Podcast auch ein gutes Beispiel für Wissenschaftskommunikation aus der Literaturwissenschaft, bei der das Emotionale nicht gänzlich hinten runterfällt.

Das Gespräch führte Maximilian von Platen.

Podcast „Von Vater zu Tochter: Bücher eines Lebens“

Welche Bücher haben dich geprägt, ja dich und dein Leben sogar verändert? Diese Frage habe ich meinem Vater gestellt. Als Buchhändler und Antiquar sind seit über 60 Jahren Bücher nicht nur der Mittelpunkt seines Berufslebens, sondern seines ganzen Lebens.

„Von Vater zu Tochter: Bücher eines Lebens“ sind Gespräche über sein Leben, das Lesen, Literatur und über die Krebserkrankung meines Vaters, durch die ihm nicht mehr allzu lang Zeit bleiben wird, um meine Fragen, die Fragen seiner Tochter, zu beantworten.

Ein Podcast für alle, die wissen wollen, wie Literatur ein Leben prägt und was am Ende des Lebens und Lesens bleibt.

Link zum Podcast 

Folge 1: Was ist der Sinn des Lebens, Papa?

Was ist der Sinn des Lebens für meinen 79-jährigen Vater? Welchen Sinn fand er in Büchern, welchen in der Musik? Wie blickt er auf den Sinn, seitdem er mit dem Krebs lebt? In der ersten Folge des Podcasts „Von Vater zu Tochter: Bücher eines Lebens“ über Wilhelm Müllers „Die Winterreise“, Epiktets „Handbüchlein der Moral“ und Arthur Schopenhauers „Philosophische Menschenkunde“ ein.

Literatur

  • Wilhelm Müller: Die Winterreise.
  • Epiktet: Handbüchlein der Moral.
  • Schopenhauer: Philosophische Menschenkunde

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Folge 2: Was ist für dich Weisheit, Papa?

Weisheit – ein seltener, antiquierter Begriff. Fühlt sich mein Vater weise? Wie wird man weise? Und welche Weisheit fand mein Vater im Buch der Bibel Kohelet, dem Prediger Salomo, bei Laotse („Tao te king“) und Epiktet („Handbüchlein der Moral“)?

Literatur

  • Laotse: Tao te king.
  • Epiktet: Handbüchlein der Moral.
  • Kurt Marti: Prediger Salomo. Weisheit inmitten der Globalisierung. [und Original: Der Prediger Salomo]

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Folge 3: Was hast du aus Abenteuern gelernt, Papa?

Welche Abenteuer hat mein Vater in Büchern, welche im echten Leben erlebt? In dieser Folge sprechen wir über Robert Louis Stevensons „Die Schatzinsel“ und Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ – zwei Klassiker der Abenteuerliteratur. Dabei geht es auch darum, wie mein Vater auf jene Bücher blickt, die nicht für alle mit Abenteuer verbunden sind, sondern auch mit Rassismus und Kolonialismus.

Literatur

  • Daniel Defoe: Robinson Crusoe.
  • Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel

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Folge 4: Was berührt dich am Expressionismus, Papa?

Die Lyrik des Expressionismus ist von Industrialisierung, von dem Wachsen von Großstädten, von Unsicherheit, Katastrophen und Krieg geprägt. Was bedeutet meinem Vater diese Lyrik? Welches Lebensgefühl spricht ihn an und welche Gedichte haben ihn in seinem Leben begleitet?

Literatur

  • Kurt Pinthus: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus

 

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Folge 5: Warum bist du so pessimistisch, Papa?

Warum ist mein Vater nur so pessimistisch? Diese Frage stellte ich mir schon als Kind. Es wirkte auf mich immer so verbittert, so wenig auf diese, meine Zukunft ausgerichtet. Doch warum wurde mein Vater so? In diesem Gespräch geht es um die Anziehung des Pessimismus, was Pessimismus als Haltung und Lebensgefühl ausmacht, wo er den Pessimismus in der Literatur fand und ob wir alle Pessimistinnen und Pessimisten sein sollten.

Literatur

  • Rolf Schäfer & Wolfgang Weimer: Man will leben und muss sterben, man will tot sein und muss leben. Die Kontroverse zwischen Optimismus und Pessimismus.
  • Peter Jacob: “Lieber Herr Grünberg”. Oder vom Glück, nicht geboren zu sein. Eine pessimistische Weisheit und ihre Geschichte

 

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Folge 6: Ist das Leben trotzdem schön, Papa?

Mein Vater hat mich durch seinen Pessimismus geprägt – doch ist das wirklich alles? Gibt es nur Hoffnungslosigkeit – oder ist das Leben trotzdem schön? In dieser Folge widmen wir uns der Schönheit der Literatur, insbesondere der Lyrik von Friedrich Hölderlin und Rainer Maria Rilke.

Literatur

  • Hölderlin: Heidelberg, Der Rhein, Patmos.
  • Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. Die erste Elegie

 

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Folge 7: Was ich dich noch fragen wollte, Papa

Was bleibt ungelesen? Wo sind die Autorinnen, die meinen Vater geprägt haben? Was hat ihm die Literatur und der Buchhandel gegeben, was gibt sie ihm weiterhin? In der letzten Folge stelle ich all die Fragen, die noch nicht gestellt wurden und die ich bereuen würde, nie gestellt zu haben.

 

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