Juristische Fakultät

15.12.2021

Herbstsitzung der Juristischen Gesellschaft mit Vorstandswahl und Vortrag Prof. Graßhof

Am 9. November fand die Sitzung der Juristischen Gesellschaft Tübingen e.V. im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Tübingen in Präsenz statt. Die Teilnehmenden durften sich über einen spannenden Vortrag von Prof. Dr. Malte Graßhof (Präs. LVerfGH BW/VG Stuttgart) zum Thema „Föderalismusreform in der Justiz“ freuen. Zudem wurde der neue Vorstand gewählt, der jetzt aus Prof. Hermann Reichold, Dekan Prof. Wolfgang Forster (beide Universität Tübingen), Reiner Frey (LG-Präsident), Prof. Ingo Hauffe (RAK Stuttgart), Dr. Daniela Hüttig (LRA Tübingen) und Alfred Luther (RAK-Präsident Tübingen) besteht.

Zunächst begrüßte der Hausherr Reiner Frey die ca. 40 Teilnehmer im Schwurgerichtssaal und verzichtete dabei auch nicht auf Anekdoten, wie diejenige, wonach ein Straftäter versucht habe durch ein offenes Fenster im Sprung nach unten zu entkommen und dabei auf einem Dienstwagen gelandet sei – Totalschaden! Weiter ging es um die Handhabe des Landgerichts hinsichtlich der Verhandlungen während der Pandemie. So werden beispielsweise laut Frey Maskenverweigerer als nicht erschienene Personen behandelt. Zudem gäbe es jetzt digital über WebEx geführte Verhandlungen, Sachverständige würden nur noch zur Verhandlung zugeschaltet und Anhörungen zum Strafvollzug fänden über die hauseigene Video-Anlage statt. Alles in allem sei die Pandemie für die Gerichtsbarkeit Anlass gewesen, innovative Lösungen im Rahmen der jeweiligen Prozessordnung zu finden. Zu den aktuellen Themen der Gerichtsverhandlungen meinte Frey, dass das Landgericht derzeit keine Corona-Verfahren, dafür aber „Diesel-Klagen“ zu bewältigen habe.

Im Anschluss hieß Prof. Hermann Reichold (Universität Tübingen) als Vorsitzender der JG alle Anwesenden herzlich willkommen. Die Gesellschaft könne recht stabil auf derzeit 516 Mitglieder verweisen, wovon 137 Studierende und 148 Frauen seien. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass eine Mitgliedschaft in der JG Tübingen jederzeit möglich für Studierende sogar kostenlos ist. Reichold wies auch auf die Geschichtsträchtigkeit des 9. Novembers hin, der vier Schicksalstage der deutschen Geschichte von 1848 über 1918, 1938 (Reichspogromnacht) und 1989 (Fall der Mauer) kennzeichne.

Danach berichtete Prof. Wolfgang Forster als Dekan der juristischen Fakultät kurz über den Umgang der Fakultät mit der Pandemie in den letzten Hochschulsemestern. Der Lehrbetrieb musste drei Semester lang digital stattfinden, doch fanden die Prüfungen aus Gründen der Chancengleichheit in Realpräsenz statt. Erfreulicherweise seien die Examensergebnisse im baden-württembergischen Vergleich immer besser geworden, was auch auf das universitätsseitige Repetitorium zurückzuführen sei. Zudem stammte der Examensbesten in der Ersten Staatsprüfung 2019 aus Tübingen, und zwei Tübinger Referendarinnen standen auf Platz 2 und 3 der Bestenliste im Zweiten Staatsexamen.

Nach der Entlastung des Vorstands durch Rechnungsprüfer Dr. Kensbock wurde der neue Vorstand, bestehend aus Prof. Hermann Reichold (1. Vors.), Reiner Frey (stv. Vors.), Prof. Ingo Hauffe (RAK Stuttgart), Dr. Daniela Hüttig (Erste Landesbeamtin LRA Tübingen), Alfred Luther (Anwaltskammerpräsident Tübingen) gewählt. Ausgeschieden sind Grit Puchan (Ministerialdirektorin) und Thorsten Zebisch (Anwaltsverein Tübingen). Beide wurden von Prof. Reichold für ihre langjährige Tätigkeit im Vorstand geehrt und mit Präsenten beglückt.

 

Prof. Graßhof zum Thema „Föderalismus in der Justiz“

Anschließend hielt Prof. Dr. Malte Graßhof (Präs. LVerfGH BW/VG Stuttgart) seinen Vortrag zu Fragestellungen wie der, warum es in der Bundesrepublik keine nach Sachgebieten organisierte mehrinstanzliche Bundesgerichtsbarkeit gebe, oder wie eigenständig die Landesgerichtsbarkeit tatsächlich sei; schließlich, ob auf dem Gebiet der Rechtsprechung das Diversitätspotenzial des Föderalismus genutzt werde und ob es nicht eventuell Zeit für eine „Föderalismusreform III“ für die Justiz wäre. Diese Fragestellungen sowie die Idee zu dem Vortrag seien ihm beim Lesen einer Verfassungsbeschwerde in den Sinn gekommen.

Graßhof gliederte seinen Vortrag in drei Teile. Zunächst ging er auf den IX. Abschnitt des Grundgesetzes ein, der die Art. 92 bis 104 umfasst. Der Zusammenhang der Art. 92, 95 und 96 GG bestätige das föderale Grundprinzip des Art. 30 GG, das die Errichtung der Bundes- und Landesgerichtsbarkeit präge. Der Bund sei auf die obligatorische oberste Bundesgerichtsbarkeit und die fakultativen, abschließend aufgezählten Bundesgerichtsbarkeiten beschränkt. Es stehe dem Bund darüber hinaus nicht zu, was den Ländern nach Art. 101 Abs. 2 erlaubt sei, nämlich Gerichte für besondere Sachgebiete zu errichten. Zudem sei eine Anwendung von Bundesrecht seitens der Landgerichte verfassungsrechtlich unbedenklich und diesen sogar vorgegeben.

Graßhof stellte hierzu die kritische Frage, wozu die Erwähnung der „Gerichtsbarkeit des Bundes“ in Art. 96 Abs. 5 GG dienen solle, die auf konkrete Rechtsgebiete wie z.B. Völkermord und Kriegsverbrechen bezogen sei. Darüber hinaus scheine Art. 99 Alt. 2 GG nicht davon auszugehen, dass die Revisionszuständigkeit der Bundesgerichte für Landgerichte nur eine Ausnahme sei, die der ausdrücklichen Zuweisung der Länder selbst bedürfe. Graßhof meinte hier doch eine Aufteilung der Zuständigkeiten erkennen zu können: auf der einen Seite eine Zuständigkeit der Länder für die Revision in landesrechtlichen Verfahren und auf der anderen Seite eine auch erstinstanzliche Rechtssprechungskompetenz des Bundes in spezifisch bundesrechtlichen Verfahren. Die herrschende Meinung sehe zwar dieses Problem, hielte es aber für gelöst: Art. 96 Abs. 5 GG werde entweder als ein „Systembruch“ deklariert oder die Vorschrift werde als „gravierender Gesetzgebungsfehler“ bewertet, aus dem sich keine systematischen Konsequenzen ergeben könnte. Art. 99 Alt. 2 GG könne wiederum nur im Zusammenhang mit der Gesetzgebungskompetenz des Bundes für gerichtliche Verfahren aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 3 GG gedeutet werden. Es sei den Ländern nur gestattet, nach Art. 99 Alt. 2 GG ihrerseits eine Revisionszuständigkeit der Bundesgerichte zu begründen, sofern der Bund keinen Gebrauch von seiner sachlich unbeschränkten Gesetzgebungskompetenz diesbezüglich gemacht habe. Danach sei der Sinn dieses Artikels nicht in der Erhaltung einer Befugnis für die Länder zu sehen, die originäre Rechtssprechungskompetenz für Revisionsverfahren im Wege der Organleihe durch Bundesgerichte auszuüben, sondern darin, für die Länder eine Möglichkeit der Erzwingung einer Bundesrevision zu schaffen, sofern der Bund die Revisionsgerichtbarkeit nicht wahrnehme. Damit blieben dem Landesgesetzgeber in der Ausgestaltung seiner Gerichte kaum nennenswerte Gestaltungsmöglichkeiten. Insgesamt sei der IX. Abschnitt des GG als unvollständige föderale Regelung der dritten Staatsgewalt zu werten.

Abschließend meinte der LVerfG-Präsident, dass zwei Stoßrichtungen für eine Föderalismusreform für die Justiz möglich seien: zum einen die Stärkung der Bundesgerichtsbarkeit durch Einführung weiterer Bundesgerichte, zum anderen die Stärkung der Landesebene durch das Ermöglichen umfassenderer Rechtsprechungskompetenz. Die Stärkung der Landesebene sei aber ohne einen fundamentalen Eingriff in die föderale Ordnung möglich, da es nur darum gehen würde, den Ländern nebst ihrer Trägerschaft umfassendere inhaltliche Rechtsprechungskompetenzen zu ermöglichen. Hier komme in erster Linie der Bereich der Gerichtsverfassung in Betracht. Graßhof legte nahe, dass die Länder unter Wahrung verwaltungstechnischer Mindeststandards in der Präsidiumsarbeit der Gerichte experimentieren können und verschiedene Modelle ausprobieren dürfen sollten. Hinsichtlich der Gerichtsverfassung könne man deshalb darüber nachdenken, eine Abweichungskompetenz der Länder einzuführen: „Warum müssen etwa neue Ansätze für effizientere, stärker mediationsorientierte, individuellere Verfahrensaspekte den langwierigen und sehr häufig erfolglosen Weg über eine bundesrechtliche Änderung nehmen? Warum wird nicht die Möglichkeit geschaffen, etwa mit der Besetzung der Kammern zu experimentieren?“, so die Vorschläge von Graßhof. Durch solche Modifikationen würde die Justizwelt zwar vielfältiger, allerdings zugleich schwerer überschaubar, als sie es derzeit sei. Auf diesem Wege ließe sich auch keine systematische Klarheit hinsichtlich einer nachvollziehbareren Trennung zwischen Bundes- und Landesgerichtsbarkeit gewinnen, jedoch wäre dies durch die Stärkung der Bundesebene möglich. Dafür müsste die Rechtssprechungskompetenz des Bundes aber an der Gesetzgebungs- und/oder Verwaltungskompetenz des Bundes ausgerichtet werden. Eine durch den Bund organisierte Gerichtsbarkeit könnte die Nebenwirkungen einer föderalen Justiz vermeiden, die Unterschiede bei der Anwendung des Rechts zwischen den Bundesländern zulässt. Doch stelle sich auch die Frage, ob nicht gerade die verschiedenen Justizkulturen der Länder ein Vorteil seien, welche eine zwar unterschiedliche, aber reibungslose Befolgung ermöglichten.

Daher lautete das Fazit von Malte Graßhof: Die föderale Gerichtsstruktur habe sich bewährt und sei nicht zuletzt als Blaupause für die Europäische Union nützlich gewesen, die bislang das bundesdeutsche Justizmodell übernommen habe. Schlussendlich sei eine Umwandlung von Teilen der Landes- in eine Bundesjustiz ebenso mit einem prohibitiven Aufwand verbunden: „Eine Stärkung der bundesrechtlichen Rechtsprechungszuständigkeit mag zunächst ein interessanter Tagtraum im Strandkorb sein, bei näherem Nachdenken erscheint sie mir dann doch eher als Albtraum.“

Die juristische Gesellschaft Tübingen e.V. bedankt sich herzlich bei Prof. Malte Graßhof für den interessanten Vortrag.

 

Text: Evelyn do Nascimento Kloos

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