Institut für Kriminologie

Verlaufsmuster und Wendepunkte in der Lebensgeschichte

Eine Untersuchung des Einflusses soziobiographischer Merkmale auf sozial abweichende und sozial integrierte Karrieren.

Im Zentrum der Untersuchung stand ein Vergleich der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung (TJVU) mit der Studie von Sampson/Laub ("Crime in the making"), die eine Reanalyse der Glueck-Daten ("Unraveling Juvenile Delinquency") durchführten. Der Vergleich dieser beiden Längsschnittstudien, die ein ähnliches Forschungsdesign aufweisen, sollte Aufschluss darüber geben, inwieweit die amerikanischen Ergebnisse auch vor europäischem Hintergrund Bestand haben. Ziel der Vergleichsstudie war auch die Klärung kriminologischer Grundfragen hinsichtlich dem Beginn, Verlauf und Ende krimineller Karrieren.

Die Analysen mit der TJVU bestätigten weitgehend die "age-graded informal social control theory" von Sampson und Laub, derzufolge die Bindung des Individuums an die Institutionen der informellen sozialen Kontrolle dafür ausschlaggebend ist, ob sich das Individuum normkonform verhält oder nicht. Es zeigte sich in den Analyen, dass bei einer simultanen Berücksichtigung der wichtisten Institutionen sozialer Kontrolle in der Kindheit und Jugend - Familie, Schule und Peers - jeder dieser Faktoren unabhängig auf schwere Jugendkriminalität einwirkt. Probanden, die in Folge spezifischer Eltern-Kind-Interaktionen nur schwach in ihre Familie eingebunden sind, sind am stärksten gefährdet, in ihrer Jugend eine schwere Form von Kriminalität zu begehen. Doch auch bei Probanden, die diese Defizite der familialen Interaktion nicht aufweisen, kann es in Folge einer fehlenden Einbindung in die Schule oder dem engen Kontakt zu delinquenten Peers zu schweren und/oder wiederholten strafrechtlichen Auffälligkeiten kommen. Alle drei Sozialisationsinstanzen können unabhängig voneinander - über spezifische Interaktionsmuster schwere Jugendkriminalität verursachen.

Wenngleich grundsätzlich von einem Zusammenhang von Delinquenz in einem Zeitabschnitt und Delinquenz in einem darauffolgenden Zeitabschnitt ausgegangen werden kann, so belegen die Analysen mit der TJVU aber auch, dass eine sinnvolle Prognose zukünftigen Legalverhaltens basierend auf vergangenem Legalverhalten kaum möglich ist. Der Vergleich unterschiedlicher Kriminalitätsverläufe von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter ergab, dass es trotz einer unterschiedlichen Vorgeschichte durch die Involvierung in wiederholte und schwere Kriminalität zu einer ähnlichen Zuspitzung der Lebenssituation in einem späteren Lebensabschnitt kommen kann. Andererseits kann es aber auch ungeachtet einer ähnlichen Vorgeschichte in Kindheit und Jugend zu einer unterschiedlichen Delinquenzentwicklung im Erwachsenenalter kommen. Während bei den "Abbrechern" der Ausstieg aus der kriminellen Karriere einhergeht mit einem Einstieg in eine sozialintegrierte Lebensführung, schlägt sich die Kontinuität sozialer Auffälligkeit der "Persister" auch jenseits offiziell registrierter Straftaten in einer desintegrierten Lebensführung nieder. Dieses Ergebniss verweist nicht nur auf die eingeschränkte Reichweite von Erklärungen für Kriminalität, die lediglich auf der Frühgeschichte basieren (wie z.B. familiale Sozialisation), sondern es stützt theoretische Ansätze, die aktuelle Einbindungen und Lebensumstände des Individuums für die Erklärung von sozialen Auffälligkeiten heranziehen



Veröffentlichungen

Forschungsbericht als pdf-Datei in TüKrim

Siehe auch die Veröffentlichungen zur: Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung (TJVU)

1995

Kerner, H.-J., Weitekamp, E., Stelly, W.: From Child Delinquency to Adult Criminality. First Results of the Tübingen Criminal Behavior Development Study. Eurocriminology 8-9, S. 127-162.

1997

Kerner, H.-J., Weitekamp, E., Stelly, W., Thomas, J.: Patterns of Criminality and Alcohol Abuse: Results of the Tuebingen Criminal Behavior Development Study. In: Farrington, F. et al. (Eds). The Proceedings of the Life History Research Society Meeting London 1996: Comorbidity, Overlapping Disorders, Overlapping Risks.

1998

Stelly, W., Thomas, J., Kerner, H.-J., Weitekamp, E.: Kontinuität und Diskontinuität sozialer Auffälligkeiten im Lebenslauf. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 81, Heft 2, S. 104-122

Thomas, J., Stelly, W., Kerner, H.-J., Weitekamp, E.: Familie und Delinquenz: Empirische Betrachtungen zur Brauchbarkeit einer entwicklungsdynamisch orientierten Kontrolltheorie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. S. 310-326

2001

Stelly, Wolfgang; Thomas, Jürgen: Einmal Verbrecher - immer Verbrecher? Eine empirische Untersuchung von Entwicklungsmustern kriminellen Verhaltens von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter, Wiesbaden Westdeutscher Verlag 2001, 337 S. Rezension (FAZ)