Institut für Kriminologie

Arbeitsprogramm

Angesichts des geringen Forschungsstandes zum Thema Freispruch ist zunächst eine deskriptive Annäherung angezeigt. Diese soll mit Hilfe der Analyse der bundesweiten Strafverfolgungsstatistik erfolgen. Mit den verfügbaren Statistiken sollen in einer Längsschnittanalyse Aussagen über die Entwicklung der Häufigkeit von Freisprüchen getroffen werden. Dabei sollen nicht nur die Freisprüche nach erlittener Untersuchungshaft, sondern darüber hinaus alle Freisprüche berücksichtigt werden. So kann z. B. überprüft werden, ob es wesentliche Unterschiede zwischen den einzelnen Deliktsgruppen bezüglich der Freispruchwahrscheinlichkeit gibt und es etwa bei Bagatelldelikten häufiger zu Freisprüchen kommt.Weitere zu bearbeitende Problembereiche könnten sein: Welchen Anteil haben Freisprüche bezüglich aller Verfahren? Ist dieser Wert im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte konstant geblieben? Gibt es regionale Unterschiede bezüglich einer Freispruchwahrscheinlichkeit? Des Weiteren sind auch Vergleiche zu anderen Verfahrensausgängen, insbesondere gerichtlichen Einstellungen, möglich.

Die Strafverfolgungsstatistik bildet auch die Basis für eine bundesweite Vollerhebung aller Freisprüche nach Untersuchungshaft eines Kalenderjahres in Form einer Aktenanalyse. Im Jahr 2011, dem aktuell verfügbaren Jahrgang dieser Statistik, gab es 319 solcher Fälle. Einzig und allein die Strafverfolgungsstatistik bietet überhaupt verlässliche Zahlen, um sich der Thematik anzunähern, auch wenn dadurch der Personenkreis derer, die sich in Untersuchungshaft befanden und bereits nach wenigen Tagen wieder entlassen wurden, ohne dass ein Urteil erging, bedauerlicherweise nicht erfasst werden kann.

Noch gravierender sind die – in der Statistik erfassten – Fälle, bei denen der Tatverdacht einer (ersten) richterlichen Überprüfung standgehalten hat und in der Folge auch ein Hauptverfahren eröffnet wurde. Eben diese Fälle möchte das Forschungsteam genauer untersuchen. Bei der geplanten Aktenanalyse nimmt zunächst die Deskription großen Raum ein: Was zeichnet Verfahren aus, die mit Untersuchungshaft einhergingen, aber mit einem Freispruch endeten? Der Schwerpunkt der Aktenauswertung soll auf drei Analysekategorien liegen:

  • Zum einen sollen die soziodemographischen Daten der Freigesprochenen erhoben werden (Alter, Geschlecht, etwaiger Migrationshintergrund, sozialer Status) sowie mögliche Vorstrafen.
  • Eine zweite Kategorie bilden die Informationen zur vorgeworfenen Tat, also über die Beziehung zum (angeblichen) Opfer (sofern vorhanden), die „Kenntniserlangung“ der Strafverfolgungsbehörden und Angaben zum Delikt. Bezüglich des Delikts soll besonderes Augenmerk auf die Tatkonstellation gerichtet werden, also ob es typische Muster gibt, die einen Freispruch nach sich ziehen: z. B. Freispruch aufgrund von Notwehr bei vorausgegangener Anklage wegen Körperverletzung oder – wohl realistischer – ein Freispruch mangels Beweisen in einer „Aussage gegen Aussage – Situation“, z. B. im Falle einer Anklage wegen eines Sexualdelikts.
  • In einer dritten Kategorie sollen Daten zum Ablauf des Ermittlungs- und Hauptverfahrens gewonnen werden. Es sollen Informationen über den Haftgrund, das Verhalten der Verfahrensbeteiligten, die Rolle von Zeugen, den Einsatz von Sachverständigen sowie angeführte Beweismittel analysiert werden. Insbesondere soll, soweit möglich, anhand der Urteilsbegründungen der Frage nachgegangen werden, wie viele Freisprüche aus rechtlichen und wie viele aus tatsächlichen Gründen erfolgen, da diese (Basis-)Information der Strafverfolgungsstatistik nicht zu entnehmen ist.

 

Neben der Deskription liegt eine Zielsetzung der Aktenanalyse in der Ursachenerforschung:

  • Wo liegen mögliche Ursachen dafür, dass Gefangene, bei denen in Folge eines Tatverdachts nicht nur U-Haft angeordnet wurde, sondern die Überprüfung des Tatverdachts auch zur Eröffnung eines Hauptverfahrens führte, im Fortgang des Verfahrens freigesprochen wurden?
  • Lassen sich typische Fehlerquellen ausmachen, und wenn ja, auf welcher Ebene? Wie viele Freisprüche sind Folge fehlerbehafteter Justiztätigkeit, insbesondere oberflächlicher Arbeitsweise auf Seiten der Ermittler oder des Gerichts?
  • Liegen die Ursachen in den meisten Fällen, wie dies Merbreier (1970) feststellte, bei Dritten und damit außerhalb der Strafverfolgungsorgane? Sind also Freisprüche Folge falscher Zeugenaussagen oder falscher Angaben des Beschuldigten? Oder liegen Freisprüchen unsachgemäße Ermittlungen oder vorgelagerte falsche Entscheidungen der Staatsanwälte und Richter zu Grunde?

 

Unter den (im Jahr 2011 319) Freisprüchen nach vorangegangener Untersuchungshaft dürften auch solche bei Jugendlichen und Heranwachsenden sein, da die Strafverfolgungsstatistik insoweit keine Differenzierung trifft. Hier wäre zu prüfen, ob sich Freisprüche bei diesen Personengruppen gegenüber denen bei Erwachsenen unterscheiden.

Einen weiteren Bezugspunkt der Analysen bilden die von Peters (1970, 1974) genannten Fehlerquellen bei Justizirrtümern. Aufgearbeitet werden soll, inwieweit sich selbige auch in den Freispruchverfahren wiederfinden. Dazu ist es notwendig, Informationen zum Verhalten von Beschuldigten und Mitbeschuldigten, zur Rolle von Zeugen und Sachverständigen, zu den Problemen objektiver Beweismittel oder zu unzulänglichen Ermittlungen im Vorverfahren aus den Akten herauszuarbeiten.

Von besonderem Interesse für die Fehleranalyse sind Fälle, in denen der Freispruch erst in zweiter oder dritter Instanz erfolgte, also Gerichte zu einer unterschiedlichen Einschätzung der Sach- bzw. Beweislage kamen bzw. sich die Beweislage den unterschiedlichen Gerichten anders darstellte.

Neben der Differenzierung zwischen rechtlichen und tatsächlichen Gründen, die zu einem Freispruch führen, ist die Unterscheidung zwischen Freisprüchen, bei denen die Unschuld erwiesen wurde, und Freisprüchen, bei denen (nur) erhebliche Zweifel an der Schuld des Angeklagten bestanden und daher gemäß dem Grundsatz „in dubio pro reo" freigesprochen wurde, für das beantragte Forschungsvorhaben von besonderer Bedeutung. Zentral ist dabei die Frage, ob die letztgenannten Verfahrensausgänge, die häufig als „Freisprüche zweiter Klasse“ tituliert werden, andere Merkmale und Besonderheiten aufweisen als „astreine“ Freisprüche.

Durch die Untersuchung nicht oder nur mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand erfasst werden können Teilfreisprüche. Weder das Bundeszentralregister noch das Statistische Bundesamt weisen Teilfreisprüche gesondert aus. Da man auf sie nur zufällig bei der Auswertung einer hohen Anzahl von Akten mit Verurteilungen stoßen kann, wäre eine entsprechende Erhebung unverhältnismäßig. Daraus entstehende gravierende wissenschaftliche Nachteile sind nicht ersichtlich.

Zusätzlich berücksichtigt werden Verfahren, die gerichtlich eingestellt wurden. In der Strafverfolgungsstatistik werden jährlich ca. 500 (2011: 497) solcher gerichtlichen Einstellungen nach Untersuchungshaft ausgewiesen. Dabei handelt es sich zum einen um Einstellungen nach § 205 StPO (Beschluss), § 206a StPO (Beschluss) oder § 260 Abs. 3 StPO (Urteil) bei Verfahrenshindernissen (z. B. fehlende deutsche Gerichtsbarkeit, Tod oder dauernde Verhandlungsunfähigkeit des Beschuldigten, Verjährung, fehlender Strafantrag, anderweitiges rechtskräftiges Urteil, fehlende oder unwirksame Anklage und fehlender oder unwirksamer Eröffnungsbeschluss). Zum anderen dürften sich darunter auch Einstellungen nach § 153 (wegen Geringfügigkeit) und noch häufiger nach § 153a StPO (vornehmlich gegen Geldauflagen), bei denen nach den Abs. 2 dieser Vorschriften jeweils die Einstellung auch in der Hauptverhandlung durch das Gericht erfolgen kann, befinden.

Während die Einstellungen nach §§ 205, 206a und 260 Abs. 3 StPO nebensächlich für die Forschungsthematik sind, wären Einstellungen nach den §§ 153 ff. StPO für das beantragte Forschungsvorhaben von großem Interesse, da es sich dabei um eine ähnliche Konstellation wie bei einem Freispruch handelt: Eine Anklage wird vom Gericht zugelassen, am Ende kommt es aber zu keiner Verurteilung, wenn auch hier nicht zu einem "astreinen" Freispruch, sondern zu einer Einstellung ohne (§ 153 StPO) oder mit minderen (§ 153a StPO) Folgen.

Wie viele solcher „verkappten Freisprüche“ sich unter diesen 497 Fällen befinden, ist nicht ohne weiteres ersichtlich. In mehreren Vorgesprächen mit hiesigen Staatsanwälten wurde deutlich, dass es sich auch bei gerichtlichen Einstellungen nach Untersuchungshaft um eine große Unbekannte handelt. Die befragten Staatsanwälte vermuten jedoch, dass vor allem Fälle des § 154 Abs. 2 StPO betroffen sein dürften, die ja gerade nicht mit „unschuldigen Personen“ gleichzusetzen sind. Darauf deuten auch die geschilderten Ergebnisse der Untersuchung von Gebauer hin.

Um diese Annahmen verifizieren zu können, möchte das Forschungsteam auch diese Thematik zumindest ansatzweise berücksichtigen. Daher sollen zusätzlich auch diese Verfahren (Einstellung nach Untersuchungshaft) analysiert werden. Eine Vollerhebung aller Akten würde jedoch einen unverhältnismäßigen Mehraufwand bzw. eine Verschiebung des Forschungsschwerpunkts bedeuten, zumal Hinweise bestehen, dass nur wenige Einzelfälle das Kernthema betreffen. Es ist daher beabsichtigt, eine zufallsbasierte Stichprobe von ca. 50 Fällen zu ziehen, um erste Aussagen darüber treffen zu können, inwieweit diese überhaupt Relevanz für die Thematik Freispruch haben. In der Folge dieser Exploration soll versucht werden, Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zu den Verfahren, die mit Freisprüchen endeten, aufzuspüren.

 

Zur Vertiefung der Erforschung der spezifischen Bedingungen für das Zustandekommen von Freisprüchen sollen Experteninterviews mit zentralen Akteuren der Strafrechtspflege durchgeführt werden. Bei den zentralen Akteuren handelt es sich um Haft- und Strafrichter, Staatsanwälte und Verteidiger. Die Gesprächspartner sollen dabei nicht zu konkreten Fällen bzw. Verfahren befragt werden, sondern als Experten des Feldes. Einen Hintergrund für die Experteninterviews bilden auch erste Ergebnisse der Aktenanalyse.

Im Zentrum der Interviews stehen die Arbeits- und Verfahrensweisen der Akteure, ihr Rollen- und Selbstverständnis sowie die Rahmenbedingungen und die durch das Justizsystem bedingten Handlungszwänge. Im Einzelnen sollen folgende Themenbereiche in den Experteninterviews diskutiert werden:

  • Inwieweit wirken sich die starke Orientierung an den Ermittlungsakten und die von der Staatsanwaltschaft abgegebene Beurteilung auf das Richterverhalten und den Verfahrensablauf aus?
  • Wie gehen Staatsanwälte und Richter bei unklarer Beweislage (z. B. in einer „Aussage-gegen-Aussage-Situation“) mit dem Dilemma „Verurteilung eines Unschuldigen“ oder „Freispruch eines Schuldigen“ um? Wie ist die Einschätzung: Werden nicht mehr Unschuldige verurteilt als Schuldige  freigesprochen? Wie viele Fälle gibt es, bei denen sich der ursprüngliche Tatverdacht nicht erhärten lässt, in denen aber nicht freigesprochen wird, weil „Auffangdelikte“ wie z. B. Drogenbesitz, Waffenbesitz, Steuerhinterziehung etc. vorliegen?
  • Wie werden „in dubio pro reo“-Freisprüche von Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern bewertet? Wird ein Freispruch als Systemversagen eingestuft, weil es nicht gelang, dem Angeklagten seine Schuld nachzuweisen? Als ein Systemversagen, das dem Ansehen dieses Systems in der Bevölkerung Schaden zufügt?
  • Welche Rolle spielt die öffentliche „Kampfarena“ Gerichtssaal und seine „theatrale Dimension“ (vgl. Vismann 2011)? Wird ein Freispruch als Niederlage der Staatsanwaltschaft empfunden? Welchen Stellenwert hat das Gewinnen in einer Verhandlung? Geht es in vielen Prozessen nicht nur um die Ermittlung der Wahrheit, sondern auch um ein Kräftemessen der Verteidigung mit der Staatsanwaltschaft? Sind (zu häufige) Freisprüche schlecht für die Karriere von Staatsanwälten?
  • Wie gestaltet sich das Verhältnis von Freispruch und Einstellungen? Zu fragen wäre, wann Einstellungen nach §§ 153, 153a StPO in Frage kommen bzw. diese Lösungen - wohl vor allem seitens der Verteidigung - gesucht werden anstatt „aufs Ganze“ zu gehen.
  • Liegt eine Ursache für Freisprüche darin, dass die Staatsanwaltschaft (zunächst) zu einseitig nur die (vermeintliche) Schuld des Angeklagten ermittelt? Welches Selbstverständnis haben Staatsanwälte? Wie sehen sie ihre Rolle in einem Verfahren?
  • Welche Rolle für den Verfahrensverlauf und -ausgang spielt die Frage, ob ein Pflicht- oder Wahlverteidiger den Angeklagten vertritt?
  • Wie wird der Einfluss von Schöffen beurteilt?
  • Welche Rolle spielt öffentlicher Druck bzw. die Angst vor der öffentlichen Empörung, wenn ein Angeklagter nach einer langen und teuren Beweisaufnahme mangels Beweises auf Kosten des Steuerzahlers freigesprochen wird?
  • Lassen sich etwaige „Systemfehler“, die zu Freisprüchen führen, beseitigen? Was sollte an den Verfahrensabläufen oder an der Arbeitsweise der beteiligten Akteure (z. B. Staatsanwälte, (Haft-)Richter) verändert werden? Wo liegt Reformbedarf bzw. -potential?