Migration und transnationale Verflechtungen der deutschen Mennoniten aus Zentralasien

Deutsche Mennoniten in Zentralasien – Thematischer Kontext

Mit dem Ende der Sowjetunion in den 1990er Jahren setzten bedeutende Migrationsbewegungen im ehemaligen Ostblock ein. Besonders die Gruppe der sogenannten Russlanddeutschen spielte im Kontext der Einwanderungsbewegungen in die Bundesrepublik Deutschland eine wesentliche Rolle. Durch die Auswanderung aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion entstanden zwischen Deutschland und dieser Region komplexe Beziehungsgeflechte migrantischer Kulturen, die im Leben der Russlanddeutschen bis heute eine zentrale Rolle spielen. Eine kleine und wissenschaftlich bisher wenig beachtete Gruppe dieser nach Deutschland eingewanderten Russlanddeutschen sind die aus Kirgistan stammenden Mennoniten.

Die Ursprünge der Glaubensgemeinschaft der Mennoniten, die auf die Täuferbewegung der Reformationszeit zurückgehen, liegen im norddeutsch-niederländischen Kulturraum. Zentral für sie sind die Gläubigentaufe und die komplette Ablehnung von Gewalt, was unter anderem auch die Ablehnung des Wehrdienstes miteinschließt. Benannt wurde die Bewegung nach dem aus Westfriesland stammenden Reformator Menno Simons. Im Jahr 1521 aus den Niederlanden ausgewiesen, wanderten sie über Ostfriesland ins Weichseldelta, das sie urbar machten.

Nach zunehmendem Druck der inzwischen unter preußischer Herrschaft lebenden Mennoniten, wanderten große Gruppen von ihnen ab dem Jahr 1763 auf Einladung Katharinas der Großen nach Russland aus. Hier genossen sie Privilegien wie die Religionsfreiheit und die Befreiung von militärischen Pflichten. Vor allem in der heutigen Ukraine entstanden landwirtschaftliche Kolonien wie Choritza und Molotschna nahe des heutigen Saporischschja, die sich in den folgenden Jahrzehnten bis an die Wolga ausdehnten. Die zunehmende Russifizierungspolitik und der Druck auf die religiösen Prinzipien der Mennoniten führten zu mehreren Auswanderungswellen: Während die Mehrzahl der Mennoniten ihre Heimat in Richtung der USA und Kanadas verließ, wurde eine kleinere Gruppe unter Garantie der Befreiung von der Wehrpflicht in das erst kürzlich von Russland eroberte Turkestan eingeladen. 1882 gründete diese Gruppe aus ca. 500 Mennoniten – die sich aus Familien vom Trakt (Wolgagebiet) und aus Molotschna zusammensetzte – die Dörfer Gnadenfeld, Gnadental, Köppental und Nikolaipol (heute zusammengefasst zur Gemeinde Bakaiata) im heutigen Kirgistan.

Wegen der wachsenden Bevölkerungszahlen wurde im Jahr 1927 das Dorf Bergtal von landlosen Bewohnern der bereits seit den 1880er Jahren bestehenden Dörfer gegründet. Bald darauf wurde diese Ansiedlung von sowjetischen Autoritäten in Rot-Front umbenannt und behielt diesen Namen bis heute. Unter sowjetischer Herrschaft verschlechterte sich die Situation der Mennoniten im Talas-Tal dramatisch. Durch die Kollektivierung sank der allgemeine Lebensstandard und die Ausübung der Religion wurde stark eingeschränkt. Mit Kriegsbeginn waren die Bewohner wegen ihrer deutschen Herkunft Repressalien und dem Terror des Regimes ausgeliefert. Aufgrund der peripheren Lage wurden die Kirgistanmennoniten nicht deportiert; allerdings wurden sie zur Arbeit in der Trudarmija (Arbeitsarmee) gezwungen, was viele Mitglieder der Gemeinde das Leben kostete.

Erst im Laufe der 1950er Jahre normalisierte sich die Situation für die ausgewanderten Deutschen langsam. Dennoch nutzte die Mehrheit der Mennoniten die seit den 1970er Jahren bestehende Möglichkeit, einen Ausreiseantrag in die BRD zu stellen. Spätestens mit der Perestroika und dem Zusammenbruch der Sowjetunion verließen die meisten Bewohner die Kolonien in Zentralasien. Sie wanderten nach Deutschland aus und ließen sich vor allem in Ostwestfalen nieder. In Rot-Front jedoch verblieben einige Familien, die auch heute noch die deutsche Sprache im Alltag verwenden. Eine weitere Besonderheit – welche den Bezug zu Deutschland unterstreicht – ist die saisonale Migration, die zwischen Rot-Front und Deutschland stattfindet. Dabei verbringen ehemalige Bewohner des Dorfes den Sommer in Kirgistan, obwohl sie eigentlich schon seit Jahren in Deutschland leben.

Forschungsfragen und Ziele

Trotz ihres großen Anteils an der Bevölkerung der Bundesrepublik sind russlanddeutsche Communities bisher nur wenig erforscht. Vor allem zu kulturellen Themen wie Netzwerken und Erinnerungskultur existiert wenig Literatur. Ebenso ist auch der Umfang an wissenschaftlicher Literatur über die Mennoniten aus Kirgistan dürftig, bzw. nicht vorhanden. Das Projekt soll diese Lücken schließen und die Geschichte der Deutschen in Kirgistan stärker in den Fokus rücken.

Den theoretischen Rahmen des Projektes bilden unterschiedliche Ansätze aus der Kultur- und Sozialgeographie. Der Untersuchung liegen Theorien zu religiös motivierten Migration zugrunde. Darüber hinaus wird die transnationale und saisonale Migration betrachtet, die zwischen Kirgistan und Deutschland bis heute stattfindet. Dieser Aspekt von Migration wurde in der Forschung bisher kaum beachtet, er kann aber einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die Migration zum einen als einen zirkulären Prozess zu begreifen und zum anderen die so entstandenen transnationalen sozialen Räume zu verstehen. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf Erinnerungslandschaften in eben diesem transnationalen Kontext. Erinnerungslandschaften bezeichnen dabei räumlich organisierte erinnernde Praktiken, die im Zusammenwirken mit materiellen Arrangements Erinnerungen und damit einen Teil der Identität der Ausführenden Individuen konstituieren.

Ausgehend vom thematischen Kontext und dem wissenschaftlichen Ansatz ergeben sich für das Projekt folgende Ziele und Forschungsvorhaben:

  1. Erforschung und Darstellung der wesentlichen Entwicklungslinien der deutschen Mennonitensiedlungen in Kirgistan
  2. Analyse und Darstellung der Verflechtungen zwischen eben diesen Siedlungen und anderen Mennonitengemeinden in Teilen der früheren Sowjetunion, in Deutschland und den USA
  3. Identifizierung transnationaler Erscheinungsformen (Identitäten, Netzwerke etc.)
  4. Analyse und Darstellungen von gemeinsamen Erinnerungslandschaften der deutschkirgisischen Mennonitengemeinden

Diese Ziele werden durch den Einsatz verschiedener Methoden erreicht: Qualitative Interviews mit (ehemaligen) Einwohnern von Rot-Front und die Methode der teilnehmenden Beobachtung untersuchen vor allem die transnationalen sozialen Räume und die Erinnerungslandschaften sowie die Verflechtungen zu anderen Gemeinden. Mit Hilfe eines onlinebasierten WebGIS sollen diese Verflechtungen dargestellt werden. Im Rahmen des Projekts und der Datenerhebung findet zudem ein Projektseminar mit Studierenden der Universität Tübingen statt.

Ergebnisse

Zu einem späteren Zeitpunkt werden an dieser Stelle weitere Ergebnisse des Projektes zusammengefasst. Hier finden Sie dann auch einen Link zum WebGIS und Hinweise auf weitere Publikationen, die im Rahmen des Projekts entstanden sind.

Projektpartner

Martin-Opitz-Bibliothek Herne

Mennonitische Forschungsstelle des mennonitischen Geschichtsvereins e.V., Bolanden

Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte, Detmold
 

Projektfinanzierung

Weitere Informationen

Kontakt

Projektleiter

Prof. Dr. Sebastian Kinder

Rümelinstr. 19-23, Raum H611

72070 Tübingen

Tel.: +49 (0) 7071 29 73938

Mail: sebastian.kinder@uni-tuebingen.de