Uni-Tübingen

Thematische Cluster

Im Zusammenspiel dieser drei Ebenen der Produktion von Zeitlichkeit werden im Promotionsverbund anhand von Fallbeispielen die komplexen zeitlichen Verflechtungsdynamiken im Globalen Süden thematisiert – Verflechtungen, an denen sich aus der Akteurs- bzw. Subjektperspektive die globale Einbettung lokaler Zeitpraktiken und das Zusammenwirken unterschiedlicher Zeitpolitiken erschließen soll. Um eine höhere Komplementarität und Kohärenz der Projektarchitektur zu erzielen, sollen die Projekte drei thematischen Clustern zugeordnet werden, die an der Schnittstelle der unterschiedlichen beteiligten Disziplinen aufgezogen sind: „Subjekt und Gemeinschaft“, „Mediatisierung und Performativität“ sowie „Historizität und Futurizität“.

Cluster 1: Subjekt und Gemeinschaft

Das Themencluster zu „Subjekt und Gemeinschaft“ analysiert die Verflechtung von Zeitpolitiken und Zeitpraktiken auf der Ebene von Subjekt und Gemeinschaft. Als rekursiv im Sinne von Giddens (1984) wird hierbei nicht nur das Verhältnis zwischen Subjekt und Gemeinschaft, sondern vor allem auch das Verhältnis von Zeitlichkeit und Subjektivität angenommen: Stellt sich einerseits Zeitlichkeit als Produkt sozialer Praktiken dar, so ist umgekehrt das in diesen Praktiken implizierte Subjekt nur in der Dimension von Zeitlichkeit zu denken (Mbembe 2000). Einerseits erzeugt die zwischen Fremdzwang und „Selbstzwangapparatur“ anzusiedelnde Wirkung der sozialen Zeitinstitution (Elias 1984) Subjektivierungseffekte im Sinne einer Disziplinierung und Selbstführung (Foucault 1975). Andererseits, und darauf wird das Hauptaugenmerk im Promotionsverbund liegen, gilt es mehr oder minder selbstbestimmte Formen erlebter Zeit zu erforschen, die sich aus der Abgrenzung von zeitlichen Zwängen der Synchronisierung ergeben. Hier sind deokzidentalisierte Alternativen zum Konzept der Eigenzeit (Nowotny 1989) zu entwickeln. In Kontexten, die für weite Bevölkerungsschichten von Prekarität, Informalität und Beschleunigung geprägt sind (Simone 2010), ist insbesondere zu untersuchen, welches Repertoire von temporalen Taktiken der Resilienz oder des Widerstands gegen die Synchronisierung zur Verfügung stehen. Dies gilt für die Gestaltung der Alltagszeit insbesondere auch an der Schnittstelle zu Subsistenzökonomie und Arbeitswelt. Im Rahmen eines Verflechtungsansatzes spielt weiterhin die Frage einer zunehmenden Kommodifizierung von Zeitlichkeit – im Sinne einer Ökonomisierung und eines Konsums von Zeitressourcen – eine zentrale Rolle. Deren spezifische Subjektivierungseffekte (Baumann 2007) sind auf ihre Wirkmächtigkeit für Gesellschaften des Globalen Südens zu untersuchen. Zentral ist aber vor allem die Frage, welche Vermittlungsleistungen Subjekte zwischen konkurrierenden Lebensrhythmen erbringen und mit welchen „time-maps“ (Gell 1992) sie dabei arbeiten. Mit welchen Imaginarien von Zeitlichkeit verhalten sie sich produktiv und reflexiv zu den Zeitverhältnissen, in die sie eingebettet sind? Auf welche zeitliche Imaginarien gründen Subjekte politische Agency? Wie werden solche Imaginarien mit der Alltagspraxis der politischen Auseinandersetzung verbunden (Lazar 2014)? Wie lassen sich zeitliche Praktiken selbst als politische Ressource in der Auseinandersetzung um gesellschaftliche Teilhabe einsetzen – etwa in Form von Verweigerung und Widerstand?

Schließlich kommt auch die körperliche Dimension der Verzeitlichung von Subjektivität in diesem Zusammenhang zum Tragen: Wie greifen körperliche und natürliche Rhythmen, soziale Praktiken und Zeitpolitiken ineinander? Im Rahmen dieses Clusters sind Konzepte zu entwickeln, die die kulturspezifische Rolle von Gender, Ethnizität, Klasse, Religion und Alter – in ihrer Intersektionalität – in die Gestaltungsoptionen von Zeitlichkeit einbeziehen (Felski 2000).

Cluster 2: Mediatisierung und Performativität

Das zweite Cluster nimmt den Umstand in den Blick, dass Zeit, um in sozialen Kontexten wirkmächtig zu werden, komplexer Formen der Mediatisierung bedarf (Landes 2000). Zu untersuchen sind hier zunächst einmal die medialen Dispositive – Uhren, Kalender, die aus ‚Naturuhren’ und ‚Naturzeiten’ herausgehoben wurden (Landes 2000: 6). Mit ihnen erfolgt eine Segmentierung und Messung der Zeit, die der zeitlichen Orientierung innerhalb der Gesellschaft (Elias 1984) oder der Einbindung in Arbeitsprozesse dient (im Anschluss an Marx u.a. Postone 1993 und Negri 2003; im anthropologischen Sinne Bear 2014). Auch auf der Ebene der Kommunikationstechnologie erfolgt eine Synchronisierung unterschiedlicher Zeitregime, wie etwa mit Blick auf den Globalen Süden die Diasporaforschung und ihre „contra-modernities“ herausstellen (Ganguly 2004; Guha 1998). Deutlich ist hierbei, dass in Gesellschaften des Globalen Südens über die Mediatisierung von Zeitlichkeit gerade vor der Folie der medientechnologischen Revolution des Digitalen Zeitalters sich Unterschiede in den medialen Partizipationsmöglichkeiten (digital gap) auch wiederum in Formen einer Verzeitlichung sozialer bzw. kultureller Differenz materialisieren.

In der Medienanthropologie stellt sich die Frage, wie sich die Konstruktion anthropologischer Differenz an Dynamiken einer medientechnologischen Modernisierung rückbinden lässt. Medientechnologische Innovationen sind in der Geschichte der Anthropologie jeweils unmittelbar in der Vermessung und Archivierung sozialer und kultureller Differenz eingesetzt worden und waren so instrumentell für die Konstruktion allochroner Zeitverhältnisse (Rony Tobing 1996, Thies 2015). Zugleich ist mit Blick auf die Nationentheorie (Anderson 1983) der Zusammenhang zwischen dem Entstehen imaginärer Gemeinschaften und der Durchsetzung von synchroner Zeitvorstellung auf der Grundlage der Verbreitung spezifischer Massenmedien herausgestellt worden. Hierbei kann zum einen die Rolle der Medien zur Modellierung synchroner Zeitlichkeitsvorstellungen untersucht werden (mediale Narrateme der Synchronizität) wie auch die Herstellung von Synchronizität durch Rituale des Medienkonsums – die alltägliche Zeitungslektüre bzw. der gemeinschaftliche Kinobesuch (Galison 2003).

Über diese rituelle Dimension der medialen Kommunikation erschließt sich eine zweite Dimension der Mediatisierung von Zeitlichkeit in den rituellen Strukturen, mit denen im Alltag ebenso wie in institutionellen Kontexten Zeitlichkeit performativ hergestellt wird bzw. in den Fluss der Zeit abgeschlossene rituelle Zeiträume eingebettet werden. Hierauf geht Turner (1987) mit seiner kulturanthropologischen Forschung zu liminaler (fremdbestimmter) bzw. liminoider (selbstbestimmter) Überschreitung von zeitlichen Grenzziehungen ein, die die Grundlage zu einem performativen Verständnis von Zeitlichkeit als kultureller Praxis bildet (vgl. auch Bhabha 1994). Zugleich artikulieren sich im Ritual als einem Medium auch institutionelle Zusammenhänge, die als Fremdzwang strukturierend in den Alltag eingreifen. An diese Ritualpraktiken des Zeitlichen lassen sich für den Kontext des Promotionsverbunds wiederum vielfältige Konzepte der Ästhetisierung und Musealisierung von Zeitlichkeit (z.B. O’Reilly 2004) bzw. der disziplinären Heterochronien im Sinne Foucaults (1994, IV: 759) anschließen.

Cluster 3: Historizität / Futurizität

Dieses Themencluster beschäftigt sich mit den Verflechtungsrelationen bei der Produktion von Vergangenheit (Comaroff / Comaroff 2012) und der Produktion von Zukunft (Appadurai 2013). Auf der Grundlage eines vergleichenden Ansatzes soll untersucht werden, wie in Kulturen des Globalen Südens die Persistenz der Vergangenheit, etwa in Form kolonialer Tiefenstrukturen, mit Projektionen des Zukünftigen und mit der Sinnstiftung der Gegenwart verflochten wird. Wie stark kommt die geopolitische Verflechtungsdimension von Zeitlichkeit in diesem Bereich zum Tragen? Welche transarealen Diskurse zum Globalen Süden bilden sich in diesem Bereich heraus? Zu fragen ist schließlich auch, wie tragfähig Vorstellungen von einer Reduktion der zeitlichen Horizonte der Futurity und Historicity auf die Gegenwart sind (Scott 1999, 2004, 2014; Mbembe 2000; Titlestad 2014).

Im Fokus des Clusters steht eine Bandbreite von Zeitimaginarien, die von der Alltagskultur über literarische und audiovisuelle Verarbeitungen bis hin zu Theoriedebatten und den Diskursen sozialer Bewegungen reicht. In Hinblick auf die Dimension der Vergangenheit fällt auf, dass in der Literatur Fragen von Identität in hohem Maße an Modellierungen von Geschichte gebunden sind, bei denen vorkoloniale, koloniale und postkoloniale, mythische und fortschrittsorientierte Konzeptionen von Geschichte miteinander verflochten werden. Auch in einer breiten Öffentlichkeit spielt die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, etwa im Kontext von Erinnerungskulturen (Wahrheitskommissionen, Restitution policies) eine wichtige Rolle (Comaroff/Comaroff 2012, 133-152), wobei Verflechtungen mit Gegenwartsinteressen und Zukunftsprojektionen zu berücksichtigen sind.

Nicht nur die Vergangenheit, auch die Zukunft steht im Fokus dieses thematischen Clusters: Welche Vorstellungen der Zukunft, verbunden mit Hoffnungen (Ortner 2016) und Aspirationen (Appadurai 2013), sind nach der Krise der sozialistischen Befreiungsutopien ab 1990 (Piot 2010) im Angesicht von prekären Lebensbedingungen und Bedrohungen möglich? Was bedeutet die Krise utopischer Projektionen für soziale Agency (z.B. Heidenreich und O’Toole, ed. 2016; Weiss 2004; West-Pavlov, ed. 2014, Lambek 2010)? Welche Transkulturationen des technologiebasierten oder neokapitalistischen Entwicklungsdiskurses okzidentaler Moderne können sich durchsetzen? Welche autochthonen Ressourcen für die Produktion von Zukunft kommen angesichts weitverbreiteter Kontingenzerfahrungen zum Tragen, d.h. welche Rolle spielen lokalspezifische Werte und Normen, Kosmologien und Alltagspraktiken, Erfahrungen und Umgang mit der Vergangenheit in der Konzeptualisierung und Ausgestaltung einer guten Zukunft (Robbins 2013)?

Mögliche Promotionsvorhaben:

Eigene Projektvorschläge sind ebenso willkommen.