Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Führung – Ethik – Lehre

Warum wir mehr Führungsethik unterrichten sollten

von Dr. Marcel Vondermaßen

13.12.2021 · Stellen Sie sich vor: Ein Mitarbeiter aus dem eigenen Team hat auf einmal einen Pflegefall in der Familie und kann seine beruflichen Pflichten nicht mehr voll erfüllen. Teilzeit ist für ihn keine Option, weil der Pflegefall die eigene finanzielle Belastung noch erhöht. Was tun Sie als Führungskraft? Sind die Kolleg*innen moralisch verpflichtet, dem Kollegen zu helfen durch die schwere Zeit zu kommen? Muss die Firma einspringen? Muss der Kollege im Extremfall von sich aus seinen Platz räumen, da er seinen beruflichen Pflichten nicht mehr nachkommen kann?

In solchen Fällen braucht es Führungskräfte die gut begründete moralische Entscheidungen fällen können. Eine schlechte Entscheidung kann hier schwerwiegende individuelle Folgen haben, aber unter Umständen auch den Team-Zusammenhalt schwächen oder gar zerstören.

Wie ist das zu erreichen? Durch Führungskräfte, die das Know-How besitzen, mit solchen Situationen umzugehen. Eine Möglichkeit besteht darin, dieses Wissen Führungskräften zu vermitteln, wenn sie Führungsverantwortung übernehmen. Die Eberhard Karls Universität Tübingen unternimmt in dieser Hinsicht zur Zeit (November 2021) große Anstrengungen. Sie entwickelt Leitlinien guter Führung, die sich an alle Mitarbeiter*innen richten und wird diese in den nächsten Monaten intensiv vermitteln. Diese Initiative adressiert explizit die Mitarbeiter*innen-Sensibilisierung. Neben einer modernen Forschungsuniversität und Arbeitgeberin, ist die Universität auch eine Lehr-Institution. Dies schafft den Raum, die Umsetzungsphase der Leitlinien mit der Frage zu verbinden, welche Rolle Fragen guter Führung und damit auch von Führungsethik künftig in der Lehre spielen sollten.

Dies ist umso dringlicher, blickt man auf die Zahlen: Laut DIW (Führungskräfte-Monitor 2017) verfügten über 70% der Männer und Frauen in Deutschland in Führungspositionen über einen Hochschulabschluss. Gleichzeitig spiegelt sich dieser Aspekt des zukünftigen Berufslebens kaum in der Akademischen Ausbildung wider. Insbesondere in den MINT-Fächern werden Führungskompetenzen und die damit verbundenen ethischen Fragen wenig thematisiert.[i] Die Studierenden und Promovierenden müssen sich daher entsprechende Kenntnisse oftmals in Eigeninitiative und zusätzlich zur eigentlichen Ausbildung aneignen oder werden ohne methodische und ethische Führungskompetenzen in die Arbeitswelt entlassen.

Dort, wo Führungskompetenzen vermittelt werden, liegt wiederum der Schwerpunkt auf Kursen wie Konfliktkommunikation, Strategisches Management oder Bilanzierung. Dies sind wichtige Fähigkeiten für Führungskräfte, doch solche Kurse legen einen Schwerpunkt auf die Umsetzung und Vermittlung von Führung.

Es gibt jedoch Entscheidungen, die sich nicht allein mit effektivem Führungshandeln lösen lassen. Vorgänge wie der oben geschilderte Pflegefall, Vorfälle wie Mobbingvorwürfe, aber auch Kündigungen und Beförderungen erfordern zusätzliche ethische Kompetenzen, die bisher nicht oder kaum gelehrt werden. Einen ersten Schritt dazu hat das von der Carl-Zeiss-Stiftung geförderte Forschungsprojekt „Führungsethik als Ethik in den Wissenschaften“ gemacht, in dem (bislang mit Schwerpunkt auf die Chemie und Biologie) mittlerweile ein erstes Lehr-Lernangebot für genau diese Kompetenzen angeboten wird. In der Entwicklung hat sich herauskristallisiert, welchen Ansprüche an eine ethisch informierte und verantwortliche Führungskraft gestellt werden. Sie muss (mindestens)

  • erkennen, wann eine Entscheidung eine ethische Reflektion verlangt,
  • die Kompetenzen besitzen, um Werte und Moralvorstellungen zu reflektieren, mit denen sie im Arbeitsumfeld konfrontiert wird,
  • sowohl das konkrete Führungshandeln als auch die Strukturen, in denen Führungsprozesse ablaufen, hinterfragen können,
  • ein Bewusstsein dafür besitzen, dass Beziehungen zwischen Führenden und Geführten grundsätzlich asymmetrisch sind, weshalb Freiheit und Verletzbarkeit nicht gleichverteilt sind
  • in den getroffenen Entscheidungen und Handlungen als Führende*r moralische Werte berücksichtigen,
  • zur Förderung moralischen Handelns innerhalb der Organisation betragen.

Das im Forschungsprojekt entwickelte Seminarkonzept soll genau diese Kompetenzen vermitteln. Es durchläuft derzeit das dritte Probesemester. Die Erfahrungen mit Studierenden und Promovierenden in Tübingen und Jena zeigen: Die Studierenden nehmen das Angebot an. Insbesondere die Vermittlung von spezifisch führungsethischen, praxisnahen Problemstellungen anhand von Fallbeispielen stößt auf sehr positive Resonanz. In explorativen Nachbefragungen zeigt sich zudem eine große Neugier auf den zukünftigen beruflichen Alltag und der Wunsch bereits im Studium in den Austausch mit Personen aus der Praxis zu kommen.

Erste Ergebnisse der begleitenden Evaluation lassen jedoch vermuten, dass die Vermittlung führungsethischer Kompetenzen nicht mit einem Seminar im Laufe des Studiums abgehakt werden kann. Die Entwicklung und Verankerung der oben angesprochenen Kompetenzen erfordern voraussichtlich eine beständigere Einbindung in die Ausbildung angehender Führungskräfte. Hier stehen die abschließenden Ergebnisse jedoch noch aus.

Was das Projekt „Führungsethik“ bereits jetzt zeigt ist, dass die Vermittlung von führungsethischen Kompetenzen bereits im Studium aus zwei Perspektiven nachgefragt wird: In der Wirtschaft – aber auch in Bildungseinrichtungen wie Universitäten – werden durch die Steigerung der Komplexität der Arbeitswelt führungsethische Kompetenzen zunehmend nachgefragt. Die Studierenden sind offen für Lehrangebote, die ihnen diese Kompetenzen vermitteln und die Universität ist der Ort, an dem die überwiegende Mehrheit der Führungskräfte der Zukunft ausgebildet wird. Mit den Erkenntnissen und der Entwicklung der entsprechenden Lehr-Lern-Einheiten des Projekts „Führungsethik“ bietet sich nun die Chance, dass das Ende des Forschungsprojekts der Auftakt eines Praxisprojektes wird.

Jetzt ist es an den Universitäten diese Lücke im Lehrangebot zu erkennen und zu schließen. An der Universität Tübingen ergibt sich dafür nun eine besondere Chance: Das Thema „Gute Führung“ wird in den nächsten Monaten prominent und breit kommuniziert und es gibt, neben dem Führungsethikprojekt, viele weitere Fachleute, die sich dem Thema Führung aus Sicht unterschiedlichster Disziplinen in Forschung und Lehre widmen. Die Universität sollte diese Gelegenheit nutzen, um neben der Kommunikation der neuen Leitlinien an die Führungskräfte der Gegenwart auch Angebote an die Führungskräfte der Zukunft zu machen!

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[i] Dies ergab die Studie „Führungsverantwortung in der Hochschullehre“. Vgl. Fregin et al. (2016): Führungsverantwortung in der Hochschullehre. Zur Situation in den MINT-Fächern und Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Thüringen. Tübingen, Materialien zur Ethik in den Wissenschaften, 12.