Aktuelles


Dr. Sebastian Pittl ist derzeit in Elternzeit.

Sprechstunde von Dr. Sebastian Pittl:
 

Sprechstunden in der Elternzeit finden per Telefon oder Videokonferenz statt. Vereinbaren Sie bitte individuell einen Termin per Mail an Dr. Pittl.

Postadresse der Abteilung:
 

Abteilung Dogmatik

Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Tübingen
Liebermeisterstraße 16
72076 Tübingen


A warm welcome to Dr. Janet Langat!

 

Janet is a postdoctoral research fellow at the Abteilung Dogmatik of the Katholisch-Theologische Fakultät in Tübingen.

her profile

Vortrag und Diskussion: Reizwort postkolonial

 

Am 17. Juni von 18 bis 20 Uhr findet im Schlatterhaus Tübingen im Rahmen des 28. Forum Ökumene ein Vortrag mit Diskussion "Reizwort postkolonial - Polemik oder kritische Selbstreflexion?" statt. Referieren wird Prof. Dr. Nikita Dhawan. Darauf antworten und die Diskussion eröffnen werden Prof. Dr. Karin Polit und AR Dr. Sebastian Pittl. Eine Online-Teilnahme ist möglich, die Anmeldung dafür kann hier getätigt werden. Weitere Informationen finden Sie ebenfalls im Flyer.

Workshop: Ecologically attuned ›thinking-with‹

 

Am 12. Juni von 12 bis 14 Uhr st. findet im Zentrum für Islamische Theologie ein Workshop (auf Deutsch) mit Marco Fiorletta und Andreas Telser und dem Titel "Ecologically attuned ›thinking-with‹. Theological and philosophical questions about earthly cohabitation" statt. Sebastian Pittl ist Ansprechpartner bei Fragen. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.

Blockseminar Scriptural Reasoning: Prayer. Jewish, Christian and Muslim Perspectives

 

Sebastian Pittl organisiert gemeinsam mit Prof. Dr. Lejla Demiri vom Zentrum für Islamische Theologie ein Blockseminar "Scriptural Reasoning: Prayer. Jewish, Christian and Muslim Perspectives" vom 20. Juni bis 2. Juli. Das Programm kann hier eingesehen werden. Um eine Anmeldung per Mail wird gebeten.

International Lecture Series 2024: Religion and Global Exclusions

 

Auch in diesem Jahr ist Sebastian Pittl wieder Teil des Teams der International Lecture Series, die diesmal den Titel "Religion and Global Exclusions: Political and Public Theologies of Otherness" trägt. Die Online-Sitzungen finden von Februar bis Juni immer montags um 13 Uhr statt. Sebastian Pittl wird am 20. Mai zu "Beyond Identity and Difference: Similarity as New Paradigm of Intercultural Dialogue" sprechen. Das Programm kann hier eingesehen werden.

Ringvorlesung: Interfaith Studies

 

Im Sommersemester 2024 findet dienstags um 18.15 Uhr im Hörsaal des Theologicums die fakultätsübergreifende Vorlesung "Sind wir alle Gläubige? Religion, Säkularismus und Spiritualität in vergleichender Perspektive" statt. Sie ist Teil der Interfaith Studies des Campus der Theologien und offen für weitere Interssierte. Das Programm kann hier eingesehen werden.


Memoria Passionis in Zeiten verflochtener Erinnerungen. Interdisziplinäre Perspektiven

Bericht über den Workshop vom 8. und 9. April 2024 in Tübingen

„Verflochtene Erinnerungen“ – Bei geflochtenen Dingen liegt stets ein Über- und Untereinander, ein Neben- und Miteinander und ein abhängig voneinander sein vor. Nur dadurch hält ihre geteilte Verbindung. In unserer pluralisierten und globalisierten Gesellschaft zeigen sich genau solche Strukturen. Denn die Erinnerungen der verschiedensten Menschen mit ihren unterschiedlichsten Geschichten und Traditionen verflechten sich miteinander und stellen Gesellschaft und Theologie vor bedeutende Anfragen.

Vor diesem Hintergrund stand der Workshop „Memoria Passionis in Zeiten verflochtener Erinnerungen“, der vom 8. –9. April 2024 in Zusammenarbeit der Abteilungen für Dogmatik, Praktische Theologie, Religionspädagogik (Forschungsstelle Elie Wiesel), dem Institut für Politikwissenschaft und der islamischen Religionspädagogik stattfand. Mit der „Erinnerung an das Leid der anderen“ (J.B. Metz) ging es um die Frage, wie die so diversen Erinnerungen unserer Gesellschaft bewahrt, diskutiert und miteinander verbunden werden können. Es wurde über die Verbindung theologischer Perspektiven aus unterschiedlichen konfessionellen und religiösen Traditionen mit interdisziplinären Perspektiven aus Kolonial- und Holocaustforschung diskutiert. Ins Zentrum rückten dabei insbesondere die Pluralisierung, Globalisierung und postmigrantischen Gesellschaft, neue Formen des religiösen Fundamentalismus und Nationalismus sowie die – in der ersten Generation der Theologie nach Auschwitz noch weitgehend unberücksichtigt gebliebene – Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit. Diese veränderten gesellschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Rahmenbedingungen lassen nach einer kreativen wie selbstkritischen Fortschreibung von Erinnerungskultur fragen.

Beide Tage begannen mit einem Hauptvortrag und anschließender Diskussion. In einem zweiten Teil boten jeweils drei thematische Impulse ergänzende und neue Perspektiven, die im Rahmen des Workshops aus verschiedenen Perspektiven diskutiert wurden und zum weiteren Nach- und Weiterdenken anregten.

Zum Abschluss des Workshops blieb der offene Eindruck, dass unterschiedliche Verflechtungen in der Erinnerung diskutiert werden konnten, deren Bedeutung und Anfragen an theologisches Erinnern aber weiter entfaltet werden müssen. Damit dienten die zwei Tage der intensiven Anregung, um diese Herausforderungen theologisch und interdisziplinär weiterhin kritisch und suchend zu bearbeiten.

Weitere Informationen zu den Vorträgen und dem Programm sind dem Flyer zu entnehmen.

Autor*innen: Lea Deschler, Moritz Sacherer Franziska Moosmann, Laura De-Giorgio


Erinnern im Anthropozän. Postkoloniale Perspektiven auf Erinnerungskulturen, Extraktivismus und Schöpfung

Bericht über die Studienwoche der Akademie Rottenburg-Stuttgart im Tagungshaus Weingarten vom 25.-29.09.2023

Was haben Erinnerungskulturen, Extraktivismus und Schöpfungstheologie miteinander zu tun? Könnte Dekolonialisierung ein roter Faden sein, der die Themen miteinander verbindet und erneuertes theologisches Denken und politisches Handeln in den Widersprüchen unserer, von vielen als Anthropozän adressierten, Zeit ermöglicht?

Die Leitidee der Studienwoche

Die Studienwoche ging der Frage nach, wie postkoloniale Perspektiven unsere Erinnerungskulturen und Gedächtnisforschung transformieren und durch welche Formen des Erinnerns und Vergessens (post-) koloniale Kontexte gekennzeichnet sind. Sie warf einen Blick auf unsere Verstrickungen in neokoloniale Ausbeutungsverhältnisse, wie sie in extraktivistischen Projekten in nur scheinbar weit entfernten Ländern zu Tage treten. Sie fragte nach den Verbindungen zwischen beiden Themen, die bei näherer Betrachtung weit mehr miteinander zu tun haben als es auf den ersten Blick scheint. Ein Schwerpunkt liegt auf der Verzahnung von politik- und kulturwissenschaftlichen mit theologischen Perspektiven sowie auf dem interkulturellen Dialog und der Vernetzung von Wissenschaft und Aktivismus. Die intensive Erarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Thema und die Erfahrung der Multiperspektivität im gemeinsamen Arbeiten wurde anhand vielfältiger Methoden ermöglicht. Welche Auswirkungen hat dieser inter- und transdisziplinäre Dialog auf das politische Handeln, das theologische Denken, die eigene Forschungsarbeit, die Erkenntnis, das Verständnis für Kultur und eigene Prägungen?  

Inhalte und Arbeitsweise der Studienwoche

Die Schwerpunktthemen lauteten:

A Memory Studies, Erinnerungskulturen und Kolonialität

B Neokolonialismus im Anthropozän: Extraktivismus und Globaler Klimaaktivismus

C Theologisches Ressourcement: Unterwegs zu einer postkolonialen Schöpfungstheologie

Die Themen wurden einzelnen Tagen zugeordnet. Die Verbindungslinien wurden stets aufgegriffen und thematisiert, um am Ende der Studienwoche die Zusammenhänge deutlich darstellen zu können.

Jeweils vormittags fanden mehrere Vorträge statt, die das Schwerpunktthema inhaltlich entfalteten sowie Fragestellungen und den gegenwärtigen Diskurs erläuterten. Sie bildeten die Grundlage für die Vertiefung in den Workshops am Nachmittag. Dort wurden darüber hinaus die Themen anhand von Beispielen aus der praktischen politischen Arbeit konkretisiert und die theologischen Bezüge reflektiert.

Die jeweilige Perspektive sowie die Erfahrungen des eigenen Kontextes waren eine wichtige Grundlage für das Gespräch in den Workshops, um das persönliche und gesellschaftliche Handeln zu reflektieren und Kriterien für seine Beurteilung zu entwickeln.  Die persönliche Begegnung förderte die globale, interdisziplinäre und interkulturelle Arbeit an den Themen. Die Verbindung von theologischer Reflexion und spiritueller Vertiefung führte zu einer Auseinandersetzung, die über den politischen Rahmen weit hinausging.

Die Workshop-Struktur ermöglichte eine einerseits angeleitete, andererseits aber auch selbständige Vertiefung der Vorträge des Vormittags. Hier konnten die Teilnehmer:innen ihr eigenes Wissen, ihre Erfahrungen aus Aktivitäten und Engagements einbringen. All das wurde in der Diskussion mit den Referent:innen reflektiert, weiterentwickelt und auf zukünftiges politisches Handeln hin konkretisiert. Gleichzeitig wurde durch die internationale Zusammensetzung der Teilnehmer:innen die jeweils internalisierte Kultur eingebracht. So konnte eine aktualisierte Basis für „Erinnern im Anthropozän“ erarbeitet und in der Praxis erfahren werden.

Wer war dabei?

In dieser Studienwoche haben wir intensiv gearbeitet mit Theologie-Studierenden aus Tübingen, Münster, Köln, Osnabrück und Wien, mit eingeladenen Expert:innen aus Theologie, Politik- und Kulturwissenschaft und mit Aktivist:innen des lateinamerikanischen Netzwerkes „Iglesias y Minería“, das sich im Amazonasgebiet gegen Extraktivismus und für die Rechte von Natur und indigenen Bevölkerungsgruppen engagiert. Einbezogen haben wir darüber hinaus Aktivist:innen aus Lützerath und aus dem Altdorfer Wald.

Inhaltlich wurde die Studienwoche von Barbara Janz-Spaeth, Sebastian Pittl, Fana Schiefen und Birgit Weiler erarbeitet. Sie hatten gemeinsam mit Dr. Verena Wodtke-Werner, Direktorin der Akademie und Regina Pilz, wissenschaftliche Mitarbeiterin, die Tagungsleitung inne. Wesentlich mitgetragen und unterstützt wurde die Studienwoche von der Hauptabteilung Weltkirche Rottenburg-Stuttgart und von Misereor, die sich ebenfalls intensiv mit Postkolonialismus und Dekolonialisierung in ihrer Arbeit auseinandersetzen.

Was haben wir gehört, diskutiert, gemacht, überlegt?

  • Natur-Memorial

„Skizzieren oder formulieren Sie eine wichtige persönliche Erinnerung an Erfahrungen mit Natur, Klima in bestimmten Lebensphasen und erzählen Sie diese anschließend einander!“ Das „Naturmemorial“, das die persönlichen Erfahrungen unter gemeinsamen Themen zusammenbrachte, verband die Themen der Woche miteinander. So wurden schon zu Beginn die Themen Erinnerung/ Vergessen mit dem Klima-Thema verknüpft und die Rolle des Menschen dabei reflektiert. Durch die gemeinsame Arbeit mit Menschen von verschiedenen Kontinenten wurde deutlich, welch unterschiedliche Erinnerungen, Erzählungen und Erfahrungen vorliegen und von Bedeutung sind. Daraus ergab sich eine intensive Diskussion, wie neu gedacht werden muss, um in ein solidarisches Handeln auf globaler Ebene zu finden.

  • Memory Studies, Erinnerungskulturen und Kolonialität

Warum muss beim Thema „Erinnerung“ das Thema Vergessen mitbedacht werden, wenn Erinnerungskultur zukunftsfähige Impulse setzen soll?

Fana Schiefen legte in ihrem Impulsvortrag dar, dass Erinnern ein steter Prozess ist, der eine Aussage über die Zeit und die gegenwärtige Situation macht. Die transnationale und transkulturelle Dimension ist in diesen Prozessen bereits enthalten. ‚Memory studies‘ betrachten Erinnerung als Werkzeug, das eine Gesellschaft benutzt, um Zugehörigkeit, Zugänge zu Macht und Herrschaft stets neu auszuhandeln. Es gilt, neue Gedächtnisnarrative zu entwickeln, die sowohl das Vergessen als auch das „Vergessene“ benennen, um die Zufälligkeit und Eindimensionalitäten von Erinnerungen zu vermindern. Eine Erinnerungskultur, die Dekolonisierung als Perspektive einschließt, könnte eine Gesellschaft in die Lage versetzen, Zukunft zu gestalten. Ihr Workshop „Memoria passionis in postkolonialer Kritik“ vertiefte die Frage nach der Rolle und dem Wert des Vergessens in der „gefährlichen Erinnerung“ (J.B. Metz).

Sandrine Gukelberger konkretisierte in ihrem Vortrag und im Workshop am Nachmittag die Bedeutung einer Erinnerungskultur im Stadtgedächtnis. Sie hob die konstruktive Wirkung von Protestbewegungen hervor, die koloniale Geschichte entlarven und ein verändertes Bewusstsein einer Gesellschaft hervorbringen. So führt die Problematisierung rassistischen Denkens zu alternativen Möglichkeiten, die ein Vergessen verhindern. Konkrete Beispiele für eine dekolonialisierende Haltung sind z.B. Umbenennungen von Straßen, die Auseinandersetzung mit Denkmälern und Namensgebungen öffentlicher Gebäude. 

Hanna Teichler zeigte die geisteswissenschaftliche Perspektive auf das „Anthropozän“ auf, indem sie es als „Erinnerungsmdous“ präsentierte. Woran orientiert sich das kollektive Gedächtnis, das unser moralisches Handeln in der Zukunft wesentlich mitbestimmt? Welche soziokulturellen Erinnerungspraktiken vollziehen wir im Anhropozän? Wie kann das kulturelle Gedächtnis durch Erinnerungskultur so weiterentwickelt werden, dass es seine konstruktive und identitätsstabilisierende Funktion in der Gesellschaft bewahrt?

Im Workshop stellte Hanna Teichler die Übernahme eines ursprünglich geochronologischen Begriffes des Anthropozäns in die Geisteswissenschaften dar. Sie fragte, wie ein solcher Begriff in den Geisteswissenschaften überhaupt verwendet werden kann. Unterlegt wurde diese Diskussion mit einem Blick in das Werk „The Mushroom at the End of the World. On the Possibility of Life in Capitalist Ruins” der Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing. Der Matsutake-Pilz ist zum einen wichtiger Bestandteil der japanischen Kulinarik, gedeiht aber zum anderen besonders gut „auf den Ruinen des Kapitalismus“. Deshalb kann er nützlich sein, um die oftmals uneindeutige Diskussion um das Anthropozän in den Geisteswissenschaften zu betrachten.

Im Workshop mit  P. Deogratias Maruhukiro, moderiert von Wolf-Gero Reichert, zur Erinnerungsarbeit im Rahmen des Versöhnungsprozesses in Burundi kam eine afrikanische Perspektive mit dazu. Die bewegte Kolonialgeschichte, die die Konflikte erst hervorrief durch die Schwächung und Entmachtung der Herrscherfamilie sowie die Spaltung in zwei Parteien – den Tutsi und den Hutu – wurde sehr lebhaft geschildert. Auch die Bürgerkriege, die bis heute das Land heimsuchen, wurden ausführlich behandelt. Die Versöhnungsversuche und die Arbeit im Exil für eine friedliche Lösung in Burundi konnte Pater Deogratias sehr gut wiedergeben. Wichtig dabei sei jedoch, dass „Demokratie vor Ort neu gedacht werden muss“ und durch Projekte vor Ort ein neues Bewusstsein zur Friedenssicherung geschaffen wird.

Der postkoloniale Historiker Dipesh Chakrabarty analysierte in einem öffentlichen Abendvortrag die Auswirkungen des extraktivistischen Kapitalismus auf Mensch, Natur und den Planeten. Hintergrund industrieller Lebensmittelproduktion sei dabei nicht allein menschliche Hybris, sondern - etwa in China und Indien - auch die kollektive Erinnerung des Hungers. Der Mensch ist im Anthropozän nun aber selbst zu einer geologischen Kraft geworden. Die Folgen davon konfrontieren uns heute mit der Alterität des Planeten. Die Einsicht in die planetarische Tiefenzeit (deep time) stellt nach Chakrabarty nicht nur das moderne Verständnis von Fortschritt und Geschichte in Frage, sie unterläuft auch die gängige Unterscheidung von Natur und Kultur. Das zwingt zu einer Reformulierung der kantischen Frage „Was ist der Mensch?“. Chakrabarty warb für ein Dezentrierung (Provinzialisierung) menschlichen Selbstverständnisses. Der Mensch müsse neu lernen, seine Rolle als Minderheit inmitten von anderen Lebensformen anzuerkennen. Ressourcen für ein solches „minority thinking“ bieten nach Chakrabarty vor allem indigene Kulturen und Spiritualitäten. Eine der größten Fragen der Gegenwart liege darin, wie man deren grundlegende Intuitionen in Bezug auf die Bezogenheit und Begrenztheit von Mensch und Natur auf die Größenordnung heutiger Massengesellschaften übertragen kann.

Isabel Laack warnte in ihrer Response vor der Gefahr der Romantisierung und kulturellen Ausbeutung indigener Lebensformen. Zugleich betonte sie, dass die Herausforderung des Anthropozäns auch Wissenschaften, die sich - wie die Religionswissenschaft - gern als „neutral“ und „objektiv“ verstehen, dazu zwingt, über die eigenen normativen Vorannahmen nachzudenken und die Frage nach der eigenen Verantwortung im öffentlichen und politischen Diskurs zu stellen.

  • Neokolonialismus im Anthropozän: Extraktivismus und Globaler Klimaaktivismus

Die Impulse der lateinamerikanischen Gäste und das gemeinsame Gespräch bestimmten diesen Tag ganz wesentlich.

Riccarda Flemmer sprach sich in ihrem Impulsvortrag dafür aus, die Rechte der Natur anzuerkennen, um extraktivistischen Bestrebungen entgegenzuwirken. Menschen sind Teil der Natur und stehen nicht an deren Spitze. Sie machte deutlich, was es heißen kann, Konzepten indigener Ontologien gleichberechtigt zu begegnen und sie wie in diesem Fall mit dem Konzept der Rights of Nature (NoR) in einen politikwissenschaftlichen Verstehenshorizont zu übertragen. Auch das Konzept des „Pluriversums“ macht ein Nebeneinander von ontologischen Ansätzen besser denkbar - eine Forschungsperspektive, die als normativ, kontextuell und interpretativ wahrgenommen werden kann. Spannend war in diesem Zusammenhang auch die von Flemmer selbst aufgeworfene Frage, wie sich ein solcher Ansatz von rechtsextremen Konzepten wie dem „Ethnopluralismus“ abgrenzen lassen.
Patricia Gualinga, die die indigene Gemeinschaft der Kichwa von Sarayuka, Ecuador mitleitet und für die Rechte, insbesondere die Einhaltung der Menschenrechte indigener Gemeinschaften international kämpft, legte ihr Verständnis von Natur und Mensch dar. Damit verbunden war die Aufforderung, unser Naturverständnis zu überdenken. „Ich bin Natur“ – mit dieser Aussage verbindet sie den Menschen mit der ihn umgebenden Natur. Alle und alles kommunizieren miteinander, alle und alles hat eine Seele, einen Geist, fundamentale Rechte, die allen und allem gleichermaßen zustehen. „Kawsak Sacha – Der lebendige Regenwald“ ist ein lebendiges Wesen, dessen Rechte international anerkannt werden sollen. „Die Natur hat keinen Preis, aber einen Wert und ich bin Natur“ führt dazu, dass der Mensch sein Herrschen und Ausbeuten der Natur beenden muss, weil er sich selbst als Teil davon versteht. Die Sarayuka-Gemeinschaft lebt dieses Naturverständnis ganz bewusst für eine globale Zukunft ohne Ausbeutung, ohne Barbarei, ohne Gewaltvergehen an der gesamten Schöpfung.

Daran schloss sich der Bericht der kirchlichen Aktivist:innengruppe „Iglesias y Mineria“  (Daniela Andrade Posso, Peru, P. Dario Bossi, Brasilien, Guilherme Cavalli, Brasilien/Misereor, Alex Donaldson, Guatemala, Msgr. Noel Londona, Kolumbien, Lucy Urvina Alejandro, Ecuador, Valentina Vidal, Argentinien) von ihrer „Caravana“ durch Europa an, in der sie das Anliegen und die Arbeit des Netzwerkes an verschiedenen kirchlichen und politischen Orten vorbrachten. [https://iglesiasymineria.org/2023/09/06/ii-caravana-por-la-ecologia-integral-juventud-mineria-defensa-de-la-vida-y-justicia-intergeneracional/ ]

  • Jeder moderne Staat lebt vom Extraktivismus: Wie können die Kultur, die Tränen und die Ideen der ausgebeuteten Bevölkerung und Natur durch ein verändertes Verhalten gehört werden?
  • Dekolonialisierung ist eine Möglichkeit, die Logik des Extraktivismus zu durchbrechen und eine neue Menschlichkeit gegen die Krankheiten unserer Zeit zu denken.
  • Eine Spiritualität der Natur bringt eine andere Erinnerungskultur hervor. Sie bewahrt die Geschichte, die Hoffnung und die Erzählungen einer kulturellen Gemeinschaft und schafft so Zukunft.
  • Ökotheologie muss Teil der theologischen Lehre werden.

Drei Themen sollten ihrer Meinung nach diskutiert werden:

  1. desarollo: eine kritische Überprüfung des Lebensstils unter dem Stichwort Entwicklung
  2. comunidad: ein gemeinschaftliches Denken als Basis für eine globale Zukunft
  3. colonialismo: eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus, der bis heute ungerechte wirtschaftliche und patriarchale Strukturen fördert und bewahrt.

Ziel ihres Netzwerkes ist es, etwas Neues zu leben im Wissen, dass wir die Geschichte des Kolonialismus in uns tragen. Diese Themen vertieften sie in einem Workshop am Nachmittag und machten sie körperlich erfahrbar in „nachgespielten“ Erfahrungen und persönlichen Erzählungen.

Der Workshop von ‚Kirchen im Dorf lassen‘ „Face to face mit den Konzernen im globalen Norden – Perspektiven aus dem Kampf um Lützerath“ mit Anselm von Antz zeigte, dass das Thema Extraktivismus ein globales Thema ist und uns in Deutschland genauso betrifft.

Insgesamt kreisten die Diskussion und die Gespräche in den Workshops am Nachmittag um zukünftige globale Wirtschaftssysteme und Wohlstandsformen, die nicht auf kolonialer Ausbeutung basieren. Die Anfrage an den westlichen Lebensstandard, das Festhalten am Wirtschaftswachstum auf Kosten anderer Länder und Regionen (Neokolonialismus) wurde in aller Schärfe gestellt und diskutiert mit dem Ziel, zu einem gemeinsamen Handeln zu gelangen, damit global eine „bessere Welt“ entsteht. Ein Faktor war in den Gesprächen, inwieweit kolonialisiertes Denken und Handeln auch in den betroffenen Ländern bereits internalisiert ist und dekonstruiert werden muss. Eine wesentliche emotionale Komponente in den inhaltlichen Diskussionen war das Thema Ohnmacht/Ohnmachtsgefühle, die aufgrund der Verwicklung in wirtschaftliche und politische Strukturen vor allem bei einzelnen Personen entsteht. Im interkulturellen und interkontinentalen Gespräch zeigte sich, dass zwar die Ursachen unterschiedlich sein mögen, die Erfahrungen und Gefühle von Ohnmacht miteinander ins Gespräch gebracht werden können.

  • Theologisches Ressourcement: Unterwegs zu einer postkolonialen Schöpfungstheologie

Zunächst fassten Fana Schiefen und Sebastian Pittl das bisherige Arbeiten zusammen. Dem Logo der Amazonas-Synode folgend gilt es, nicht in Binaritäten, sondern in Netzwerken zu denken und dabei die bisher behandelten Themen – Erinnern und Vergessen, Extraktivismus und Klimaaktivismus – mit Blick auf eine postkoloniale Schöpfungstheologie aufeinander zu beziehen. Ein wichtiger Impuls für ein solches Schöpfungsverständnis kann von der Prozesstheologie Catherine Kellers ausgehen, in der Schöpfung nicht als „creatio ex nihilo“ gedacht ist, sondern Gott und Welt in einem wechselseitigen Verhältnis gesehen werden und der Mensch der Einladung Gottes folgt, mitschöpferisch zu leben.

Wietske de Jong-Kumru untersuchte in ihrem Beitrag „Life in the Ruins of the Anthropocene. A Theological View on Unscalable Resistance and Resilience“, zunächst wie die Erinnerung an die Zähmung des Meeres das kollektive Gedächtnis in den Niederlanden prägt. Die schöpfungstheologisch aufgeladene Gewinnung von Land „aus dem Nichts“ (ex nihilo) befeuert darin bis heute den Glauben an die technische Bewältigbarkeit der Klimakatastrophe. Dem gegenüber steht die Ohnmacht des „zu spät“ angesichts einer vielen nicht mehr aufhaltbar scheinenden Apokalypse. Zwischen beiden – dem Glauben an die schnellen technischen Lösungen und der Ohnmacht des „zu spät“ – situierte de Jong-Kumru das „walking in the garden“ als widerständige theologische Praxis. Walking in the garden evoziert dabei nicht nur den Paradiesgarten, der im Anthropozän – nach Tschernobyl – als von teils auch befremdlichen Spezies bevölkert wahrgenommen werden muss. Es erinnert auch an den langen schweigenden Marsch Abrahams vor der Bindung Isaaks (Gen 22,1-19). Eine Theologie des Anthropozäns, die sich in Solidarität mit allem Lebendigen sowohl der Illusion schneller Lösungen wie der Versuchung der Resignation widersetzt, müsse lernen diese Orientierungslosigkeit auszuhalten und dabei einer komplizierten Gegenwart die Treue halten: „Perhaps we can learn not to think we can conquer the dark by claiming the light, but to dwell in the dark so that the ligth may find us.“

Birgit Weiler und Dario Bossi setzten einen signifikanten Impuls für Schöpfungstheologie und Schöpfungsspiritualität, der ihrer Arbeit mit unterschiedlichen indigenen Bevölkerungsgruppen entsprang. Anhand des Mythos von Etsa, der unter anderen bei den Awajun erzählt wird, zeigte Birgit Weiler, wie zerstörerisch eine Haltung gegenüber der Natur wirkt, die ihr mehr als das Lebensnotwendige entzieht. Grundlegende Regeln des Zusammenlebens auf der Erde werden so verletzt und müssen vor allem vom Norden neu gelernt werden. Dario Bossi stellte angesichts der Konsequenzen eines ausbeuterischen Umgangs mit ganzen Regionen die Frage, wo Gott wohnt. Wenn wir mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem an der Grenze der Zerstörung angekommen sind, gilt es, Gott an dieser Grenze zu suchen und zu entdecken. Grenzen sind dabei nicht als Restriktionen, sondern als Einladung zu verstehen, im und durch Gottes Geist kreativ zu werden und aufzuzeigen, wie man gemeinsam an und mit diesen Grenzen leben kann. Dies ist ein dynamisches Geschehen und Konzept, vergleichbar mit dem Wachsen des Reiches Gottes, das die Geschichte von Gewalt, Kolonialismus und Ausbeutung beendet.

Die folgenden Gespräche in Gruppen waren thematisch von der Frage nach der Rolle des Menschen im Umgang mit der Erde und allem, was auf ihr existiert, bestimmt. Wie kann eine zukunftsfähige Erde im globalen Miteinander gestaltet werden und welche Impulse kann eine veränderte Schöpfungstheologie setzen?

Wie all die Diskussionen in konkreter praktischer Konsequenz aussehen, zeigte sich am Donnerstagnachmittag bei einem Treffen mit Klimaaktivist:innen im Altdorfer Wald, die gegen den dort geplanten Kiesabbau protestieren, durch ihre Waldbesetzung aber weit darüber hinaus zu Klimaschutzthemen arbeiten.

  • Wie gehen wir nach einer solchen Studienwoche wieder zurück in den Alltag?

Eine erste Auswertungsrunde am Donnerstagabend mit den lateinamerikanischen Partnerinnen und Partnern zeigte, wie intensiv die persönliche Begegnung den politischen und theologischen Diskurs dieser Studienwoche geprägt hat und wie wertvoll die gemeinsame Zeit empfunden wurde. Die unterschiedlichen kulturellen Herangehensweisen wurden als bereichernd erlebt, insofern sie die jeweils eigene Form hinterfragten und andere Akzente betonten.

  • Auswertung und Zukunftsperspektiven

Eine intensive und durch verschiedene Methoden bestimmte Auswertung am Freitag schloss die Studienwoche ab. Mithilfe von Puzzleteilen wurde thematisch die Woche reflektiert und verschiedene Möglichkeiten der Themenverknüpfung diskutiert. So ergab sich ein Zusammenfügen der Inhalte, die Bedeutung wesentlicher Inhalte als Kern, genauso wie das Erkennen von Lücken und offenen Fragen.
Nach einem Festhalten persönlicher Ergebnisse folgte ein spiritueller Abschluss, der vor allem das Ohnmachtsgefühl noch einmal aufnahm und konstruktive Wege aufzeigte. Papierbahnen der Ohnmacht, die um Teilnehmer:innen gewickelt wurden, wurden aufgerissen, während die ganze Gruppe miteinander den Pfingsttext aus der Apostelgeschichte las. Gottes Kraft bricht sich Bahn, wo wir an Grenzen stoßen – ein Impuls für die Zukunft.

  • Zum Schluss

Die inhaltliche Zusammenführung von memory studies, Extraktivismus und Schöpfung unter dem Gesamtthema Dekolonialisierung erwies sich als außerordentlich bedeutsam, um bestehende politische, wirtschaftliche und strukturelle Prozesse zu verstehen und die Notwendigkeit einer zukunftsgerichteten globalen Perspektive für eine bessere Welt zu erkennen. Die persönliche Begegnung mit Aktivist:innen, Wissenschaftler:innen und Theolog:innen aus verschiedenen Kulturen mit ganz unterschiedlichen, existentiellen Erfahrungen und Sichtweisen machte deutlich, dass das Thema ein globales Handeln und interdisziplinäres Zusammenarbeiten erfordert. Die Idee, wie eine spirituelle geprägte Schöpfungstheologie eine Veränderung herbeiführen könnte, nahm Gestalt an. Die Diskussionen wurden in den Tischgesprächen und bei den abendlichen Runden intensiv weitergeführt. Das gegenseitige Zuhören wurde mit großem Respekt praktiziert und dadurch eine differenzierte Perspektive verstärkt. Interaktive Elemente und spirituelle Impulse während der Studienwoche nahmen die Inhalte auf andere Weise auf und vertieften das Verstehen. Wieder einmal hat sich gezeigt, dass eine persönliche Begegnung von Menschen aus verschiedenen Kulturen und Kontinenten eine viel tiefere Wirkung in der Bearbeitung der Inhalte ermöglicht als durch bloße Vermittlung.

Die Gruppe Iglesia y Mineria gab uns für dieses Geschehen das Wort „corazonar“ – gelebte Herzensverbundenheit bzw. das Denken mit dem Herzen - mit auf den Weg. Das haben wir in dieser Woche in großer Vielfalt erfahren.

Barbara Janz-Spaeth unter Mitarbeit von Fana Schiefen, Sebastian Pittl, David Kuhner, Leo Maucher und Justus Raasch


Neuerscheinungen von Dr. Sebastian Pittl

Pittl, S. (2024). Das Problem der Rekolonialisierung. In: Gmainer-Pranzl, F., Gruber, J., Heuser, A., Hock, K., Jahnel, C., Middelbeck-Varwick, A. (eds) Handbuch Interkulturelle Theologie. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. doi.org/10.1007/978-3-662-66324-0_8-1

Volk ohne Populismus? Das 'Populare' bei Papst Franziskus, Ignacio Ellacuría und Michel de Certeau, in: Theologische Quartalschrift 1-2/2024, 110-130.

(mit Katharina Krause) Mission mit Vision. Oder: Was eine postkolonial informierte Theologie zur (Re)Konstruktion frommer Zukunftsentwürfe beitragen kann, in: Kirstin Merle / Manuel Stetter / Katharina Krause (Hg.), Prekäres Wissen. Praktische Theologie im Horizont postkolonialer Theorien, Leipzig 2024: Evangelische Verlagsanstalt, 339–368.