Forschungsprogramm
Der Promotionsverbund wählt einen subjektzentrierten Ansatz, von dem her die Zeitverhältnisse des Globalen Südens nicht auf der Makroebene zeitlicher Großtheorien, sondern auf der Ebene sozialer Praktiken und kultureller Imaginarien in den Blick genommen werden sollen. Im Fokus der Untersuchungen wird stehen, wie sich im Bereich der Zeitverhältnisse Verflechtungsdynamiken zeigen, die in ihren eigenen Logiken der Praxis untersucht und dann einer komparativen Betrachtung zugeführt werden sollen. Nicht die analytische Kategorie einer abstrakten, leeren Zeit dient dem Promotionsverbund daher als Ausgangspunkt, sondern vielmehr die im Anschluss an Bergsons Konzept der „durée“ (Bergson 1889) vom Subjekt her gedachte „erlebte Zeit“ (Mbembe 2000, Sharma 2014) oder performative Konzepte von Zeitlichkeit (Bhabha 1994). Vor allem aber wird für die Modellierung von Zeitlichkeit ein Zeitbegriff angesetzt, der diese als Produkt sozialer Praktiken begreift (Elias 1984). So kann Zeitlichkeit im Anschluss an Konzepte eines „labor of/on time“ (Bear 2014), eines „making time“ (Anozie 1981: 60f) oder eines „doing time“ (Felski 2000) als Resultat einer sozialen Produktion begriffen werden. Es greifen hier Struktur- und Handlungsebene im Sinne der Rekursivität (Giddens 1984) ineinander. Zudem wird das Subjekt als eine sozial-kulturell – und damit auch zeitlich – modellierte Instanz aufgefasst (Mbembe 2000, aber auch Reckwitz 2006). Die Zeitverhältnisse im Globalen Süden (aber nicht nur dort) erscheinen dann einerseits als Produkt von Zeitpolitiken, die auf das Subjekt einwirken, andererseits als Ergebnis von gesellschaftlichen und kulturellen Praktiken. Gegenstand der Analyse werden ebenso die für die Akteure relevanten Zeitkonzeptionen und Zeitregimes sein wie deren Adaptionen und Transformationen oder Verweigerungshaltungen.
Um die skizzierte Produktion von Zeitlichkeit in Verflechtungsszenarien beschreiben zu können, bedient sich der Promotionsverbund einer heuristischen Systematik, die zwischen den Ebenen der „Zeitpolitiken“, der „Zeitpraktiken“ und „Zeitimaginarien“ unterscheidet. Von dieser Systematik aus sollen dann die drei thematischen Cluster „Subjekt und Gemeinschaft“, „Mediatisierung und Performativität“ und „Futurizität und Historizität“ untersucht werden.
Mit der Ebene der Zeitpolitik werden jene Aspekte erfasst, die zu einer Vermachtung von Zeitverhältnissen führen und entsprechend auch von einer Asymmetrie der an deren Produktion beteiligten Akteurskonstellationen ausgehen. Zeitpolitiken sind strategisch und auf strukturelle Nachhaltigkeit angelegt. Das Verständnis der politischen Dimension von Zeit gründet auf Foucaults Verständnis der disziplinarischen Zeit – also jener Macht, die Zeit etwa im Kontext der Lohnarbeit oder auch institutionellen Subjektivierungstechniken in Schule und Militär auf das Subjekt ausübt. Der Ansatz ist jedoch zu erweitern um Disziplinartechniken, die sich im Zuge der Kolonisierung und als deren Stütze herausgebildet haben, etwa Sklaventemporalitäten, Plantagentemporalitäten oder „Kafir Time“ (Atkins 1988; Johnson 2000). Hierbei wird im Kontext des Promotionsverbunds der Begriff der Zeitpolitik weit gefasst, um neben konkreten und institutionellen Akteursgruppen auch systemische Zusammenhänge – etwa im ökonomischen Bereich – oder auch (medien)technologische Dispositive in den Blick zu nehmen. In die Zeitpolitiken fließen so die grundlegenden ökonomischen und politischen Asymmetrien im Nord-/Süd-Verhältnis oder bestimmten Süd-/Südbeziehungen ebenso ein wie die Machtkonstellationen, die Binnenstrukturen von Gesellschaften des Südens kennzeichnen.
Zeitpraktiken
Im Alltag lässt sich die Produktion von Zeitlichkeit auf ein Set von gesellschaftlichen und kulturellen Praktiken zurückführen, die sich entweder reproduktiv zur Ebene der strukturellen und systemischen Vorgaben der Zeitpolitik verhalten oder aber es Subjekten erlauben, sich im Rahmen von Taktiken (de Certeau 1980) produktiv, selbstbestimmt und widerständig in die Gestaltung von Zeitverhältnissen einzubringen. In der Folge Foucaults lässt sich auf dieser Ebene auch der Effekt von Zeitpraktiken auf die Ebene der Subjektivierung herausstellen – sowohl im disziplinarischen Sinne, als auch im Sinne von Selbsttechniken. Mit dieser Akteurs- bzw. Subjektfokussierung zielt der Promotionsverbund darauf, konkrete lokal bzw. translokal gestaltete Zeitverhältnisse zu ergründen. Die Alltagszeit von großen Teilen der Bevölkerung steht im Kontext eines „making time“ (Anozie 1981: 60f) oder „making do“ – jenen Formen der Improvisation und Taktiken der Alltagspraxis (de Certeau 1980; Lefebvre 1975) sowie des sozialen „bricolage“ (Lévi-Strauss 1962), die zwar in die vorherrschenden Produktionsverhältnisse und Machtstrukturen eingebettet sind, aber doch einen (wenn auch prekären) Raum für Selbstkonstruktion und informelle Subsistenz bieten. Sowohl in der Folge von Foucault wie auch von Bergsons Konzept der „durée“ und phänomenologischer Zeitvorstellungen ist hierbei außerdem die Rolle des Körpers, der zeitlichen Dynamiken ausgesetzt ist und zugleich erlebte Zeit („temps vécu“) sinnlich erfahrbar macht, herauszustellen (Mbembe 2000).
Zeitimaginarien
Als komplementär zu der strategischen und strukturierenden Ebene der Zeitpolitik und der taktischen Ebene der Zeitpraktiken ist die Ebene der Zeitimaginarien anzusetzen. Diese Kategorie basiert auf der Theoriebildung zum sozialen Imaginären als kulturellem Fundament von Sozialstrukturen (Castoriadis 1975, Anderson 1983, Taylor 2004) sowie auf Appadurais Begriff des „work of imagination“ (Appadurai 1996), der sich am ehesten als ‚Praxis der Imagination‘ übersetzen lässt. Gemeint ist damit die kritische Reflexion und das kreative Aufbrechen von gesellschaftlichen Grenzziehungen durch die Imagination, woran auch die Vorstellung einer „globalización imaginada“ (García Canclini 1999) anküpft. Ausgangspunkt für die Betrachtung der Zeitimaginarien ist die These, dass die multitemporale Heterogenität von Zeitverhältnissen im Globalen Süden ein grundlegendes epistemologisches Problem schafft: Die Auseinandersetzung mit der Kontingenz, Fluidität, Prekarität und Heterogenität von sozialen und politischen Strukturen in der Alltagspraxis stellt das Subjekt vor die Herausforderung, sich in einen sinnhaften Bezug zu den vorherrschenden Zeitverhältnissen zu setzen. Dies geschieht über Imaginarien, die damit nicht auf die kulturellen Eliten und ihre Reflexionsfähigkeit beschränkt sind, sondern, wie Munn (1992: 116) postuliert, als eine symbolische Kategorie anzusetzen sind, die zunächst auf Erfahrungswissen beruht, d.h. aus alltäglichen Praktiken hervorgeht. Darüber hinaus sind auf der Ebene der Imaginarien auch die Zirkulation, Mediatisierung und Archivierung von Wissensbeständen, symbolische und ästhetische Modellierungen sowie die theoretische Reflexion von Zeit anzusetzen.
Die Ebene der Zeitimaginarien erfordert daher die gemeinsame Zusammenschau verschiedener Ansätze: die kulturanthropologische Betrachtung autochthoner und alltäglicher Praxen der Imagination, insbesondere im Sinne der rituellen Herstellung bzw. Inkorporierung von Zeitlichkeit, die literatur- und medienwissenschaftliche Analyse symbolischer Modellierungen von Zeitlichkeit in Literatur und Medienproduktion und schließlich die kulturtheoretische Analyse von abstrakten Theorien der Zeit.