Kath. Institut für berufsorientierte Religionspädagogik

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21.02.2022

Vortrag: DU GEHÖRST UNS! - Wie das Datengeschäftsmodell hinter Social Media & Co. das Lernen im digitalen Zeitalter erschwert.

Bericht über den Vortrag von Herrn Prof. Dr. Christian Montag (Universität Ulm) am Mittwoch, 16. Februar 2022, 15 s.t.-16 Uhr über Zoom.

Von Armbanduhren und Nichtstun als Kreativitätsinkubatoren angesichts der Datengeschäftsmodelle von Social Media
 „DU GEHÖRST UNS! - Wie das Datengeschäftsmodell hinter Social Media & Co. das Lernen im digitalen Zeitalter erschwert“ – zu diesem Vortrag von Prof. Dr. Christian Montag konnte Prof. Dr. Matthias Gronover, Leiter des KIBOR, rund 80 Teilnehmende begrüßen.
Prof. Dr. Christian Montag ist seit 2014 W3-Professor für Molekulare Psychologie an der Universität Ulm. Daneben lehrt er regelmäßig als Visiting-Professor an der Universität Chengdu in China. Sein Beruflicher Werdegang begann mit einer Ausbildung zum Bankkaufmann. Anschließend arbeitete er als selbstständiger Webdesigner sowie als technischer Redaktionsassistent bei RTL New Media. 2001 nahm er sein Psychologiestudium auf und wurde acht Jahre später aufgrund seiner Forschungsarbeit zu psychobiologischen Grundlagen von Angst und Ängstlichkeit promoviert. Im Jahr 2011 erfolgte seine Habilitation an der Universität Bonn und er erhielt die Venia Legendi für das Fach Psychologie.
Die zentrale These, auf die er in knapp einer Stunde sehr konzentriert, wissenschaftlich fundiert und dabei durchweg unterhaltsam ausgehend von den Grundlagen der Digitalisierung zusteuerte, ist, dass wir in unserer digitalen Gesellschaft analoge Rückzugsräume schaffen müssen, in denen Konzentration wieder ermöglicht wird. Montag sprach diesbezüglich von einer „digitalen Schuluniform“ und zitierte Studien, die zeigten, dass vor allem schwächere Lernende von einer handyfreien Lernzeit profitierten.
Zu Beginn beleuchtete Montag den Weg hin zum Datengeschäftsmodell von Socialmedia. Die ersten prägenden Schritte geschahen schon im frühen 20. Jahrhundert. 1989- 1991 kam es dann mit der Gründung des World Wide Webs, der ersten HTML-Website, zum großen Durchbruch. Ein wohl gut gemeinter Abschnitt des US-amerikanischen United States Codes (1996), der das „kleine Pflänzchen“ Internet, wie Montag es formulierte, nicht gleich wieder ersticken sollte, ist in diesem Kontext für uns bis heute besonders folgenreich. Dort heißt es: „No provider or user of an interactive computer service shall be treated as the publisher or speaker of any information provided by another information content provider“ (Section 230). Diese Vereinbarung hat das World Wide Web wachsen und gedeihen lassen, jedoch schmecken wir erst allmählich den Beigeschmack seiner Früchte. Vor allem die Erfindung und Verbreitung des Smartphones hat hier große Stücke beigetragen, so Montag: Nie in der Menschheitsgeschichte war eine Entwicklung so rasant und folglich können Forschung und Wissenschaft, die auf Längsschnittstudien angewiesen sind, nur hinterherhinken.
Montag problematisierte diese Entwicklungen vor allem unter dem Gesichtspunkt der „süchtig“ machenden Mechanismen des Silicon Valleys. Von „Smartphone-Sucht“ zu sprechen sei dabei irreführend, da die Abhängigkeit sich auf bestimmten Applikationen im Socialmedia-Bereich und/oder Computerspielen beziehe. Mit Blick auf Socialmedia stellte er im Sinne der Nutzen-Gratifikation-Theorie dar, wie unsere Aufmerksamkeit von solchen Diensten errungen wird. Dieser Theorie zur Folge sind Socialmedia-Dienste so erfolgreich, weil die eigenen Bedürfnisse einer Person durch die Nutzung von Socialmedia befriedigt und sogar belohnt werden. Zum einen haben sie einen hedonistischen Effekt, machen Spaß. Daneben vermitteln sie soziale Gratifikation, Bindung und Freundschaft. Drittens können sie utilitäre sein, also als Werkzeug für eigene Ziele und Zwecke eingesetzt werden. Letzteres bezieht sich vor allem auf den Bereich der Influencer:innen. Immer wieder betonte Montag, dass unser Alltag so stark fragmentiert wird.
Problematisch sei daneben auch der Umgang mit unseren Daten, die wir bei der Nutzung dieser Dienste hinterlassen. Das Datengeschäftsmodell gebraucht sie, um Aufschluss über Personenmerkmale zu bekommen, passt daraufhin die individuelle Ansprache an und zielt so auf erhöhte Klick- und Kaufraten. Nicht nur Likes und Texte, sondern auch Bildmaterial wird im Analyseprozess verarbeitet, so gibt es nach Montag „keine Daten, die unkritisch sind!“ Erschreckend ist dabei, wie nahe die Algorithmen inzwischen menschlichen Einschätzungen von Persönlichkeitsmerkmalen schon aufgrund von Profilbildern kommen. Laut Montag kann das Datengeschäftsmodell so das Wohlbefinden reduzieren und Onlinezeiten verlängern, sich schädlich auf Demokratie und Gesellschaft auswirken und eine Bedrohung für unsere Privatsphäre sein. Er führt sozialen Druck (Nudging), den Endowment-Effekt, sozialen Vergleich, operante Konditionierung oder auch „fear of missing“ out (FOMO) als psychologische Erklärungen hierfür an. Eindrücklich beschrieb er, wie er in seinen Untersuchungen auch Veränderungen in Gehirnarealen feststellen konnte. Beispielsweise bei Facebook-Nutzer:innen war ein geringeres Volumen im Nucleus accumbens zu diagnostizieren, was typisch bei Suchterkrankten sei.
Montag plädierte in keinem Satz dafür, Smartphones generell abzuschaffen, denn online-Tools können einen Produktivitätsgewinn versprechen. Dies kippt jedoch dann häufig an eine zu hohe Zahl an Unterbrechungen durch das Smartphone im Alltag. Für produktives Arbeiten und Lernen in einem digitalen Zeitalter stellte er folgende Thesen auf:
(1) Lernen in digitalen Welten ist eine große Herausforderung, da überall die Ablenkung wartet. Folglich kommt es nur noch selten zu tiefen Lernprozessen.
(2) Da wir serielle Prozessierer:innen sind, ist Multitasking eine Illusion, unglaublich anstrengend und für vertiefende Konzentration nicht förderlich.
(3) Folglich müssen wir in einer digitalen Gesellschaft, analoge Rückzugsräume schaffen, in denen Konzentration wieder ermöglicht wird und uns
(4) die Struktur im Alltag zurückerobern, die uns das Datengeschäftsmodell der Social Media Dienst kaputtgemacht hat.
Ganz niederschwellig nannte er als Lösungsstrategien eine Armbanduhr, anstatt die Handyuhr zu nutzen, das Smartphone vom Arbeitsplatz zu verbannen, denn schon seine Anwesenheit ziehe unsere Aufmerksamkeit darauf. Montag hat für sich persönlich E-Mails als Ursache für häufige Unterbrechung identifiziert und schlägt vor, Zeiten zur Beantwortung der E-Mails festzulegen und das E-Mailprogramm sowie Push-Nachrichten ansonsten auszuschalten. Zudem sollten wir in unserem Alltag Zeiten ohne Smartphone einräumen, denn „Nichtstun [ist ein] wahrer Kreativitäts-Inkubator“. Auf gesellschaftspolitischer Ebene plädierte Montag dafür, Dienste kostenpflichtig zu machen, damit die Nutzer:innen nicht mehr mit ihren Daten bezahlen. „Wir müssen weg vom Datengeschäftsmodell“ hin zu einem ethischen Plattformdesign, das Respekt vor den Nutzer:innen zeigt, indem es ihre Grundrechte berücksichtigt und dabei wenig Aufwand jedoch gute Erfahrungen erzeugt. Des Weiteren sollten die unterschiedlichen Plattformen durchlässiger werden und Datenportabilität ermöglichen. Als Wissenschaftler fordert er darüber hinaus, dass unabhängige Expert:innen Einsicht in die generierten Daten erhalten.  
In seinem Buch ‚Du gehörst uns´ aus dem er während seines Vortrags einzelne Passagen vorlas, entschlüsselt er die psychologischen Strategien großer Internetunternehmen auf anschauliche Weise und erzählt von seinen Erfahrungen mit chinesischen Online-Plattformen.

Chiara Tutuianu (studentische Mitarbeiterin am KIBOR)

 

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