Kath. Institut für berufsorientierte Religionspädagogik

Aufgaben und Ziele des katholischen Religionsunterrichts im gegenwärtigen Wirtschafts- und Beschäftigungssystem

Andreas Verhülsdonk

Aus: Lernfelddidaktik als Herausforderung. Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen, hrsg. von Albert Biesinger / Josef Jakobi et al. (gott-leben-beruf, Bd. 1), Norderstedt 2005, S. 8-22.

Grundlegend für das Selbstverständnis des katholischen Religionsunterrichts auch an den berufsbildenden Schulen sind der Beschluss der Würzburger Synode zum Religionsunterricht in der Schule (1974)[1] und die bischöfliche Erklärung Die bildende Kraft des Religionsunterrichts (1996)[2]. Der Synodenbeschluss versteht den Religionsunterricht sowohl vom Verkündigungsauftrag der Kirche als auch vom Bildungsauftrag der Schule her. Damit unterscheidet die Synode nicht nur den schulischen Religionsunterricht von der Gemeindekatechese. Vor allem verabschiedet sie sich von einer im Katholizismus lange Zeit vorherrschenden Sicht, die die Schule der Kirche und die Pädagogik der Theologie unterordnete. Im Beschluss zum Religionsunterricht wendet die Synode faktisch, ohne dies jedoch ausdrücklich zu thematisieren, die Lehre des II. Vatikanums über die rechte "Autonomie der irdischen Wirklichkeiten" (Gaudium et spes, Nr. 36)[3] auf Erziehung und Bildung an. Sie erkennt die Legitimität eines autonomen pädagogischen Handlungsfeldes, wie es sich seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hat, an – und zwar auch in Bezug auf die Weitergabe des Glaubens in der Schule. Der Religionsunterricht ist somit nicht nur in rechtlicher (Art. 7 Abs. 3 GG), sondern auch in konzeptioneller Hinsicht eine "res mixta". Seine Aufgaben und Ziele müssen sowohl theologisch als auch schulpädagogisch reflektiert und verantwortet werden. Für den Religionsunterricht in den berufsbildenden Schulen bedeutet dies, dass seine Aufgaben und Ziele sich auch an den Zielen der beruflichen Bildung orientieren und daher auch berufspädagogisch zu legitimieren sind. Ein berufsbildendes Verständnis des Religionsunterrichts ist jedoch nur dann möglich, wenn die Konzeption beruflicher Bildung offen für die religiöse Dimension des Menschseins ist. Es ist daher nur folgerichtig, dass die kirchlichen Stellungnahmen zum Religionsunterricht in den berufsbildenden Schulen auch das Verständnis beruflicher Bildung thematisieren.

Schon in den Schulreformdebatten der 60er und 70er Jahre kritisierte die katholische Kirche Tendenzen, die berufliche Bildung auf den Erwerb fachlicher Qualifikationen und Kompetenzen einzuschränken. So forderte die Würzburger Synode in ihrem Beschluss Schwerpunkte kirchlicher Verantwortung im Bildungsbereich (1975), "die berufliche Bildung aus einer rein zweckbestimmten Engführung zu befreien und so zu gestalten, dass sie die Lebenschancen des einzelnen sichert, jungen Menschen die Möglichkeiten gibt, ihre Anlagen und Fähigkeiten zu entfalten, und die Erfordernisse von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft berücksichtigt".[4] Ähnlich äußerte sich 1993 die Kommission für Erziehung und Schule der Deutschen Bischofskonferenz. In der Erklärung Bildung in Freiheit und Verantwortung unterstreicht sie den "Vorrang der Berufs- und Praxisorientierung" in der beruflichen Bildung, fügt jedoch hinzu: "Doch darf sich berufliche Bildung nicht auf die Vermittlung berufsbezogener Kompetenzen beschränken. Vielmehr hat sie einen auf den Menschen und die Gesellschaft bezogenen umfassenden Bildungsauftrag zu erfüllen. In den beruflichen Schulen sind deshalb die Fächer des allgemeinen Lernbereichs – insbesondere auch der Religionsunterricht – unverzichtbar."[5] Im Rahmen dieses Verständnisses beruflicher Bildung verortet die Kommission den Religionsunterricht: "Das in Religionslehre vermittelte Lebenswissen zur Deutung von Mensch und Welt dient (der) ganzheitlichen Bildung - besonders durch die Reflexion beruflich spezialisierten Fachwissens und deren Bezüge zum Ganzen des eigenen Lebens."[6] Der Religionsunterricht "muss genuin berufsausbildungsorientiert sein und sein Profil an der individuellen, sozialen und religiösen Lebenswelt der Schüler; am Leben in der Einen Welt und an sozialethischen Dimensionen von Arbeit, Wirtschaft und Technik; an der schöpfungstheologischen Orientierung der Weltgestaltung; an der lebendigen, befreienden Botschaft des Reiches Gottes in gegenwärtigen Lebenszusammenhängen und an der tröstenden, versöhnenden und heilenden Zusage Jesu Christi zu gewinnen suchen."[7] Diese Profilbestimmung lässt keinen Zweifel daran, dass für den Religionsunterricht in der Berufsschule der Bezug zur Arbeits- und Berufswelt der Auszubildenden ebenso konstitutiv ist wie der Bezug zur christlichen Botschaft. Die zentrale Aufgabe des Religionsunterrichts besteht darin, den Auszubildenden die christliche Botschaft in ihrer Bedeutung für die Arbeits- und Berufswelt zu erschließen.

Zeitgleich mit den bischöflichen Erklärungen hat die Kultusministerkonferenz in einer Rahmenvereinbarung (1991) den Auftrag der Berufsschule neu bestimmt und auf die Förderung von Handlungskompetenz fokussiert. Handlungskompetenz meint dabei nicht nur die Fähigkeit und Bereitschaft, betriebliche Aufgaben auf der Grundlage von Fachwissen selbstständig, sachgerecht und zielgerichtet zu bearbeiten. Sie umfasst neben Fachkompetenz auch Personal- und Sozialkompetenz. Die KMK vermeidet damit eine Engführung der beruflichen Bildung auf die Vermittlung fachlicher Ausbildungsinhalte. Die Berufsschule soll vielmehr "zur Erfüllung der Aufgaben im Beruf sowie zur Mitgestaltung der Arbeitswelt und Gesellschaft in sozialer und ökologischer Verantwortung befähigen" (Rahmenvereinbarung, 1991, Nr. 2.1). Dieses Verständnis von Handlungskompetenz nimmt zentrale Komponenten des Bildungsgedankens auf und bietet – wie der Grundlagenplan für den katholischen Religionsunterricht an Berufsschulen[8] zeigt - einen Rahmen, in dem auch der Religionsunterricht berufs- und religionspädagogisch verortet werden kann.

Dieses Verständnis beruflicher Bildung, das auch politische, moralische und religiöse Dimensionen einschließt, gerät in der gegenwärtigen Diskussion über die Reform der beruflichen Bildung zunehmend unter Legitimationsdruck. Denn in weiten Teilen der Wirtschaft haben sich die Arbeitsprozesse und die Beschäftigungsverhältnisse grundlegend geändert oder werden sich in absehbarer Zeit ändern. Die tayloristische Arbeitsorganisation (taktgebundene Fließbandarbeit) wird – mit branchenbedingten Unterschieden - in immer mehr Betrieben von Gruppenarbeit mit größeren Entscheidungsspielräumen der Arbeitnehmer abgelöst. Feste Arbeitszeiten mit engen Gleitzeitmöglichkeiten weichen vielerorts flexiblen Arbeitszeiten (Arbeitszeitkonten, Jahresarbeitszeit usw.). Hinzu kommen in manchen Branchen die Ausweitung der Projektarbeit und (individuelle) Zielvereinbarungen auf der Arbeitsebene. Begleitet werden diese Veränderungen durch den Abbau von betrieblicher Hierarchien und durch ein Personalmanagement, das die individuellen Fähigkeiten und Interessen der Beschäftigten stärker berücksichtigt als früher. Die Auswirkungen der neuen Arbeitsorganisation auf die Beschäftigten sind ambivalent.[9] Einerseits bedeutet die Neustrukturierung der Arbeitsprozesse einen Zugewinn an Freiheit, Dispositionsmöglichkeit und Eigenverantwortung. Der Einzelne hat vielerorts größere Möglichkeiten, seine Fähigkeiten und seine Leistungsbereitschaft zu entfalten. Andererseits aber haben Leistungsdruck und Arbeitsintensivierung mit den entsprechenden psychischen und physischen Folgen unter den neuen Arbeitsbedingungen deutlich zugenommen.

Ambivalent sind auch die Folgen der neuen Beschäftigungsverhältnisse. Die Beschäftigten, die ihr Arbeitsleben vom Eintritt in die Lehre bis zur Verrentung in ein und demselben Unternehmen verbringen, werden zukünftig eine kleine Minderheit bilden. Schon in den letzten Jahren hat die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze und der befristeten Arbeitsverhältnisse deutlich zugenommen. Arbeitsplatzwechsel zieht oft auch einen Wechsel der Tätigkeit nach sich. Für einen Teil der Beschäftigten bedeutet dies einen Zugewinn an Berufserfahrung, an Kompetenzen und individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. Für andere aber erhöht sich nur der Anpassungsdruck an die Leistungserwartungen des Managements und wird - in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit – die soziale Sicherheit deutlich geschwächt. Von allen Beschäftigten erfordert der Wandel der Berufswelt ein hohes Maß an Flexibilität und Mobilität und damit eine erhöhte Lernbereitschaft.

Wie soll das Berufsbildungssystem auf diese Veränderungen reagieren? Ist das gegenwärtige, an festen Berufsbildern, dauerhaften Beschäftigungsverhältnissen und gradlinigen Berufsbiographien orientierte System der beruflichen Bildung noch zukunftstauglich? Im Zentrum der Reformdiskussion stehen die Modularisierung der Erstausbildung und die Lernfelddidaktik.[10] So unterschiedlich die Modelle zur Modularisierung der beruflichen Bildung auch sind, ihnen gemeinsam sind die Differenzierung der Ausbildungswege und die Konzentration der Erstausbildung auf die Vermittlung grundlegender Qualifikationen und Kompetenzen. Die Differenzierung und in der Folge auch Pluralisierung der Ausbildungswege soll einerseits den sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, Interessen und Zielen der Auszubildenden gerecht werden und andererseits eine Ausbildung garantieren, die flexibler, als das bislang der Fall war, auf Veränderungen in den Arbeitsprozessen reagieren kann und damit den Praxisbezug der Berufsausbildung stärkt. Denn einzelne Module sind schneller und leichter zu reformieren als ganze Ausbildungswege.

Der beschleunigte Wandel der Arbeitsprozesse wirft zudem die Frage auf, wie das Verhältnis von beruflicher Erstausbildung und betrieblicher Weiterbildung zukünftig zu gestalten ist. Die traditionelle Vorstellung, dass das in der Ausbildung erworbene Wissen und Können ausreicht, um den gewählten Beruf ein Leben lang erfolgreich auszuüben, stimmt mit der Wirklichkeit schon seit längerem nicht mehr überein. Wenn lebenslanges Lernen notwendiger Bestandteil der Berufsbiographie einer wachsenden Zahl von Arbeitnehmern wird, dann scheint es ratsam, dass die berufliche Erstausbildung sich auf die Vermittlung von grundlegenden Qualifikationen und Kompetenzen konzentriert, die in der betrieblichen Weiterbildung den konkreten Erfordernissen des Betriebes entsprechend erweitert und ergänzt werden. Dem Ziel, eine praxisnahe, an den realen Handlungsabläufen in den Betrieben orientierte Berufsausbildung unter sich wandelnden Arbeitsbedingungen sicher zu stellen, dient schließlich auch die Lernfelddidaktik, deren Konzeption und Konkretisierung in diesem Band ausführlich dargestellt werden.

In der Diskussion um die Reform der beruflichen Bildung kann man unschwer jenen Widerspruch identifizieren, der auch die Diskussionen um die soziale Sicherheit und mehr noch um Umweltauflagen bestimmt. Kurzfristig erhöht eine qualifizierte und deshalb oft zeitintensive Ausbildung die Betriebskosten und schwächt damit die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens auf dem Markt. Langfristig aber stärkt eine gute Ausbildung die Wettbewerbsfähigkeit, weil sie – wie die jüngste OECD-Studie eindrücklich belegt[11] - die unverzichtbare Vorraussetzung für den technologischen Fortschritt und die Steigerung der Arbeitsproduktivität ist. Der Widerspruch zwischen kurzfristigen und langfristigen Interessen scheint (betriebs‑)wirtschaftlichem Handeln immanent und nicht auflösbar zu sein. Umso wichtiger ist es, diesen Widerspruch in der Reformdiskussion deutlich zu benennen.

Dieser Widerspruch betrifft nicht nur die Schaffung von betrieblichen Ausbildungsplätzen, sondern auch die Ziele und Inhalte der beruflichen Bildung. Betrachtet man berufliche Bildung primär unter betriebswirtschaftlichem Vorzeichen und damit als Kostenfaktor, dann scheint es konsequent, die Ausbildung möglichst eng an den betrieblichen Arbeitsabläufen auszurichten und von allen nicht unmittelbar berufsrelevanten Inhalten zu entlasten. Das Ziel der beruflichen Erstausbildung wäre die möglichst schnelle Integration der Auszubildenden in die betrieblichen Handlungsabläufe.

Dass Unternehmen im Blick auf den internationalen Wettbewerbsdruck an Arbeitnehmern interessiert sind, die für die aktuellen Anforderungen ausgebildet sind und zumindest kurz- und mittelfristig über ein gutes Verwertungswissen verfügen, ist verständlich. Angesichts der skizzierten Veränderungen in den Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen ist eine am aktuellen Bedarf der Wirtschaft orientierte Ausbildung jedoch wenig sinnvoll. Die bedarfsgerecht Ausgebildeten werden nämlich kaum die Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben können, die ihnen den Wechsel von Tätigkeitsfeldern und Arbeitsplätzen ermöglichen. Wer Mobilität und Flexibilität der Beschäftigten langfristig fördern will, muss an einer breiten beruflichen Grundausbildung interessiert sein, die die Auszubildenden befähigt, in neuen zum Ausbildungszeitpunkt noch nicht vorhersehbaren Situationen handlungsfähig zu sein. Dazu gehört auch die Fähigkeit, neues Wissen aufnehmen und bewerten und neue Kompetenzen erwerben zu können.

Erfolgreiches berufliches Handeln hängt aber nicht nur von den technischen oder kaufmännischen Kenntnissen und Fähigkeiten, sondern wesentlich auch von den Einstellungen und Haltungen der Handelnden ab. Hier ist ein Blick in die Geschichte und auf neuere Diskussionen in den Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften durchaus hilfreich. Die Durchsetzung der Industriegesellschaft und des Kapitalismus war nicht nur eine Folge neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Innovationen. Sie wäre ohne die Ausbildung eines Arbeitsethos, zu dem etwa Selbstbeherrschung, Leistungsbereitschaft, Ehrlichkeit, Solidarität gegenüber den Kollegen und die Selbstverpflichtung zu produktiver Arbeit gehören, nicht möglich gewesen. Dieses Arbeitsethos war – so die bekannte These von Max Weber über den Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus[12] – wesentlich religiös bestimmt. Es ging einher mit bestimmten Vorstellungen über das Verhältnis des Menschen zu Gott und über seine Aufgaben in der Welt. Erst diese religiösen Grundannahmen ermöglichten nach Weber die umfassende Rationalisierung des menschlichen Weltbezugs in den westlichen Gesellschaften.

Webers Herleitung des kapitalistischen Arbeitsethos aus einer bestimmten konfessionellen Gestalt des westlichen Christentums, nämlich des reformierten "asketischen" Protestantismus der Puritaner, wird bis heute kontrovers beurteilt. Die aktuelle Globalisierungsdiskussion aber bestätigt Webers grundlegende These, dass wirtschaftliches und berufliches Handeln sich nicht aus bloßen Nutzenkalkülen erklären lässt, sondern von kulturell-religiös geprägten Einstellungen und Haltungen bestimmt ist. In der wesentlich von Albert Michels Capitalisme contre Capitalisme (1991)[13] geprägten Debatte wird gemeinhin zwischen drei konkurrierenden Grundtypen des Kapitalismus unterschieden: dem angloamerikanischen, dem rheinischen und dem asiatischen Typus. Die Unterschiede ergeben sich aus der je spezifische Verbindung von Markt, Institutionenordnung und kulturell-religiöser Mentalität. Wirtschaftliches Handeln ist demnach nicht nur zweckrational und interessegeleitet, wie die klassischen rational choice-Modelle nahe legen, sondern impliziert kulturell geprägte Grundannahmen über die wirtschaftliche und gesellschaftliche Wirklichkeit, über die Anderen und das eigene Selbst. Auch Lernfähigkeit und Lernbereitschaft sind als Haltungen abhängig von kulturellen Mustern der Selbst- und Weltwahrnehmung. Der Wirtschaftswissenschaftler Hansjörg Siegenthaler spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer "kulturalistischen Wende" der Ökonomie.[14]

Im Lichte dieser Überlegungen wird deutlich, dass Wirtschaft kein autarkes soziales System ist. In Abwandlung eines Zitates von Ernst-Wolfgang Böckenförde[15] wird man vielmehr sagen müssen, dass die Wirtschaft von Voraussetzungen lebt, die sie selbst weder garantieren noch schaffen kann. Ihr Funktionieren erfordert Institutionen und soziale Handlungsräume, die selbst nicht ökonomisch organisiert sind. Der homo oeconomicus ist ein kulturelles Wesen und im weitesten Sinne des Wortes auch ein homo religiosus.

Diese Einsicht hat Konsequenzen für die berufliche Bildung. Wer berufliche Bildung auf die Vermittlung technischer oder kaufmännischer Kenntnisse und Fähigkeiten reduziert, hat den Zusammenhang von Wirtschaft und Kultur, von Beruf und Lebensführung noch nicht verstanden. Er macht sich ein unzureichendes Bild von wirtschaftlichem und beruflichem Handeln. Wer Jugendliche und junge Erwachsene beruflich handlungsfähig machen will, wird auch die kulturellen Voraussetzungen beruflichen Handelns thematisieren müssen. Er wird nach den Werten und Zielen des Lebens, nach der Einstellung zu Arbeit und Erfolg, der Bedeutung von Versagen und Misserfolg, nach den Regeln des betrieblichen Miteinanders, nach Eigeninteresse und Solidarität, nach Arbeit und Freizeit, Beruf und Familie fragen und auf diese Fragen Antworten finden müssen. Diese Fragen sind heute umso drängender, als die überkommenen Lebensentwürfe und Berufsbiographien keine Antworten auf die gesellschaftlichen und moralischen Herausforderungen des "flexiblen Kapitalismus" (Richard Sennett) mehr bereithalten. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass gerade in den letzten Jahren der Ruf nach Orientierungswissen immer lauter geworden ist. Wenn die Frage, was im Leben und was dem Leben Orientierung gibt, keine tragfähigen Antworten mehr findet, könnte tatsächlich jene Corrosion of Character[16] drohen, die Richard Sennett als Folge der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen so eindrucksvoll beschrieben kann. Man kann dem Philosophen Jürgen Mittelstraß daher nur zustimmen, wenn er die These vertritt, dass eine über das berufliche Kerngeschäft hinausgehende Bildung noch nie so unentbehrlich war wie in unserer von Innovation, Mobilität und Flexibilität geprägten Gesellschaft und deshalb Orientierungswissen ebenso unverzichtbar wie Verwertungswissen ist.[17]

Dass die Lebensorientierung vieler Menschen religiös geprägt ist, auch wenn sie sich dessen oft kaum bewusst sind, und der Religionsunterricht zur Lebensorientierung der Auszubildenden beitragen und damit auch ihre berufliche Handlungskompetenz stärken kann, dürfte nicht ernsthaft zu bestreiten sein. Kontrovers wird hingegen die Frage diskutiert, worin die Orientierungsleistung von Religion in den gegenwärtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen besteht. In den Diskussionen um die postsäkulare Gesellschaft hat die funktionalistische Bestimmung von Religion als "Kontingenzbewältigungspraxis"[18] eine gewisse Prominenz erreicht.

Die von Hermann Lübbe aufgestellte These geht von der Beobachtung aus, dass die fortschreitende technisch-zweckrationale Organisation unseres Lebens nicht nur Probleme löst, sondern auch neue Probleme schafft, die selbst nicht technisch lösbar sind. Diese Beobachtung kann auf Wirtschaft und Berufswelt ausgedehnt werden. Die nicht zuletzt durch die Entwicklung neuer Technologien ermöglichte Flexibilisierung der Arbeitswelt hat zur Folge, dass die Handlungsoptionen und damit die individuellen Wahlmöglichkeiten zunehmen. Sie können als Befreiung von vorgegebenen und einengenden Lebensmustern erfahren werden, aber auch als Verunsicherung und Belastung. Denn auch im "flexiblen Kapitalismus" ist nicht jeder seines Glückes Schmid und hat erst recht nicht jeder Schmid Glück. Vieles hängt von unbeabsichtigten Folgen eigener Entscheidungen und von unabsehbaren Entscheidungen unbekannter Anderer ab. Die Steigerung der Handlungsmöglichkeiten bedeutet auch eine Zunahme der Zufälle und damit eine Intensivierung der Kontingenzerfahrung.

Die gegenwärtige Renaissance der Religion hat wesentlich mit dieser Intensivierung der Kontingenzerfahrung zu tun. Der Mensch braucht etwas, um mit den Zufälligkeiten und Widerfahrnisse des Lebens, Glück und Unglück, Erfolg und Misserfolg, Leid und Tod fertig zu werden, etwas, das trotz der Erfahrung des offenkundig Sinnlosen sein Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der Wirklichkeit stärkt und ihn motiviert, rational und ethisch verantwortlich zu handeln. Dieses "Etwas" kann vieles sein: die Hoffnung auf einen Gott, der es gut mit uns meint; das Vertrauen in die versöhnende Kraft der Natur; der Glaube an die innere Notwendigkeit alles Zufälligen. In funktionalistischer Sicht bleibt Religion inhaltlich unbestimmt. Gebet, Meditation, Kunst oder Entspannungstechniken können gleichermaßen als Kontingenzbewältigungsstrategien gelten. Der Funktionalismus ist an Glaubensinhalten so wenig interessiert wie an Wahrheitsfragen. Für ihn ist wahr, was sozial nützlich ist.

Die funktionalistische Engführung von Religion auf eine Lebensbewältigungsstrategie hat mancherorts auch Eingang in die Klassenzimmer gefunden. Es gibt einen Religionsunterricht, der die Kontingenzerfahrungen der Auszubildenden zum Maß dessen macht, was im Unterricht thematisiert werden soll. Religiöse Angebote werden entsprechend darauf hin befragt, ob sie für die Auszubildenden in ihrer aktuellen Lebenssituation hilfreich sind, ob sie zur Bewältigung etwa der Unsicherheiten am Arbeitsplatz oder der Fragilität menschlicher Beziehungen beitragen. Es liegt in der Konsequenz dieser Konzeption, dass die Unterschiede zwischen Religionsunterricht und Schulpastoral verschwimmen. In Grenzfällen kann der Religionsunterricht zu einer therapeutischen Veranstaltung werden.

Der Versuch, Wahrheit in soziale Nützlichkeit zu überführen, endet jedoch schnell in der Aporie. Es ist religionssoziologisch gewiss unbestreitbar, dass Religionen soziale Funktionen ausüben. Doch auch der Funktionalist muss zugeben, dass z.B. der Glaube an die Auferstehung nur dann tröstlich wirken kann, wenn man diesen Glauben für wahr hält. Die Einsicht in die tröstende Funktion des Glaubens ist selbst nicht tröstlich und auch kein Argument für den Glauben. Im Gegenteil, die Einsicht in die soziale Funktionalität von Religion lässt den Verdacht aufkommen, dass es das Bedürfnis ist, das die religiöse Wahrheit bestimmt. Dieser Verdacht aber untergräbt den Glauben und macht ihn zum strategischen Kalkül. Der Funktionalismus zerstört, was er erhalten will: den gesellschaftlichen Nutzen von Religion. Um den Nutzen zu erhalten, muss man die Wahrheitsfrage stellen. Diese Einsicht ist religionspädagogisch bedeutsam. Wenn Religion für Auszubildende lebensorientierend sein soll, dann ist die Beschäftigung mit den Inhalten einer Religion und mit der Frage nach deren Wahrheit unausweichlich, dann sind auch im Klassenzimmer philosophisch-theologische Denkanstrengungen unvermeidbar.

In philosophischer und theologischer Perspektive fällt auf, dass die Bestimmung von Religion als Kontingenzbewältigungspraxis ein affirmatives Verhältnis zur Wirklichkeit einschließt. Religion soll das Vertrauen in die bestehende soziale Wirklichkeit, in die bestehende Wirtschaftsordnung und die bestehenden Marktbedingungen stärken. Offenbar gehört es nicht zu den Aufgaben von Religion, die Logik der bestehenden Handlungssysteme in Frage zu stellen. Dies trifft verständlicherweise auf theologische Kritik. Denn die prophetische Tradition mit ihrer Frage nach der Gerechtigkeit enthält ein bis heute bedeutsames gesellschaftskritisches Potential. Deshalb war und ist das Verhältnis des Christentums zum Kapitalismus auch zutiefst ambivalent. Einerseits ist es gewiss kein Zufall, dass der Kapitalismus in der westlichen Christenheit entstanden ist und sich von Europa und Amerika ausgehend weltweit durchgesetzt hat. Andererseits aber gab und gibt es eine starke kapitalismuskritische Tradition sowohl im katholischen als auch im protestantischen Christentum. Die christliche Kapitalismuskritik entzündet sich an den sozialen Folgen eines moralischen blinden Marktes, aber auch am Grundprinzip des Marktes selbst, dem Tausch.

Wer nach einem aktuellen Beispiel für christliche Kapitalismuskritik sucht, wird bei Thomas Ruster fündig. Der Dortmunder Theologe deutet den globalen Kapitalismus – in Anlehnung an Walter Benjamin – als konkurrierende Religion, die zunehmend alle Lebensbereiche, das Denken und Fühlen der Menschen beherrsche und dem Geld als der alles bestimmenden Wirklichkeit, dem neuen "God-term", unterwerfe.[19] Er setzt die biblische Gottesrede in Antithese zum Götzen Geld und versteht Erlösung als Bruch mit dem globalen Kapitalismus und als Suche nach einer alternativen Form des Wirtschaftens, die nicht länger auf dem Tauschprinzip beruht. Rusters antifunktionalistische Bestimmung des Christentums ist religionspädagogisch nicht zuletzt deshalb interessant, weil er selbst die Konsequenzen seiner Theologie für den Religionsunterricht bedacht hat.[20] Aufgrund seiner Deutung der Moderne als Götzendienst kann er die Autonomie des pädagogischen oder des ökonomischen Handlungsfeldes nicht anerkennen. Er verortet daher den Religionsunterricht weder in einem Konzept allgemeiner noch beruflicher Bildung. Aufgabe des Religionsunterrichts ist es nach Ruster, die Schülerinnen und Schüler in das fremde Wirklichkeitsverständnis der Bibel einzuführen. Die Antwort auf die Frage, wie die Schüler bzw. Auszubildenden den Hiatus zwischen biblischem Wirklichkeitsverständnis (wie Ruster es deutet) und eigener Wirklichkeitserfahrung bewältigen sollen, bleibt er jedoch schuldig. Letztlich kann der Hiatus nur utopisch überwunden werden, nämlich dort, wo der Kapitalismus und das Tauschprinzip selbst überwunden sind. In der Zwischenzeit scheinen die Auszubildenden vor der Alternative zu stehen, sich entweder mit der schlechten Wirklichkeit in irgendeiner Weise (in welcher?) zu arrangieren oder an der Errichtung einer "christlichen" Parallelgesellschaft mit einer nicht am Tauschprinzip orientierten Wirtschaftsform mitzuwirken. So kritikwürdig Rusters theologischer Entwurf ist, ihm kommt das nicht gering zu schätzende Verdienst zu, den Blick auf das kapitalismuskritische Potential des christlichen Glaubens gelenkt zu haben.

Doch gibt es ein Drittes jenseits von Funktionalismus und Anti-Funktionalismus? Auf dem Berliner Bildungskongress der beiden Kirchen im November 2000 hat der ehemalige Präsident der Georgetown-University in Washington D.C., Leo O’Donovan, einen Weg skizziert, der die Aporien von Funktionalismus und Anti-Funktionalismus vermeidet.[21] Er spricht von einem "transfunktionalistischen Paradox" und bezeichnet damit die Einsicht, dass der Verzicht auf kurzfristigen ökonomischen oder sozialen Nutzen langfristig sehr wohl nützlich sein könne. Als Beispiel verweist er auf den jüdischen Sabbat bzw. den christlichen Sonntag. Vertreter der Wirtschaft und Politiker fordern in schöner Regelmäßigkeit, dass im Zuge der Flexibilisierung von Arbeits- und Ladenöffnungszeiten auch das sonntägliche Arbeitsverbot eingeschränkt oder abgeschafft werden solle. Denn der arbeitsfreie Tag erhöhe die Arbeitskosten und beeinträchtige damit die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe.[22] Kurzsichtige Modernisierer pflegen sich an kurzfristigen Interessen zu orientieren. Kluge Modernisierer aber blicken weiter und sehen im arbeitsfreien Sonntag mehr als einen Kostenfaktor. Sie erkennen, dass der Verzicht auf Arbeit Distanz zum Alltag ermöglicht, Distanz zu den Selbstverständlichkeiten und Plausibilitäten der ökonomischen und technologischen Entwicklung. Distanz aber ist die Voraussetzung für Orientierung, Voraussetzung dafür, das Ganze in den Blick zu nehmen und Fragen nach dem Ziel und dem Sinn des alltäglichen Handelns zu stellen. "Der Glaube der Juden ist nicht ein Weg aus der Welt hinaus, sondern ein Weg, in und über dieser Welt zu sein", schreibt der jüdische Religionsphilosoph Abraham Heschel in seinem Buch über den Sabbat. "Zivilisation soll nicht angelehnt, sondern übertroffen werden. Der Sabbat ist der Tag, an dem wir lernen, über die Zivilisation hinauszuwachsen."[23] Davon profitieren langfristig auch Wirtschaft und Politik, denn ohne Distanz zu den Dingen gibt es keine Kreativität und keine Innovation. Ein kluger Modernisierer wird deshalb um der Funktionstüchtigkeit des Marktes willen nicht alles dem Markt und der Marktlogik unterwerfen wollen. Er ist sich des Widerspruchs zwischen kurzfristigen und langfristigen Interessen der Wirtschaft bewusst und weiß, dass die Wirtschaft von Voraussetzungen lebt, die sie nicht selbst sichern kann.

Was bedeutet es für den Religionsunterricht, wenn die Orientierungsleistung von Religion transfunktional bestimmt wird? Zunächst wird er von dem Zwang entlastet, sich nützlich machen zu müssen. Die Orientierungsleistung von Religion kann weder funktional noch antifunktional zu wirtschaftlichen oder betrieblichen Handlungsfeldern bestimmt werden. Religion muss vielmehr als spezifischer Modus der Welterfahrung in ihrem Eigenwert und ihrer Eigenlogik zur Sprache kommen. Religion ist immer inhaltlich bestimmt und konkret. Denn der Versuch, religiös zu sein, ohne eine bestimmte Religion zu praktizieren, ist genauso zum Scheitern verurteilt wie der Versuch zu sprechen, ohne eine bestimmte Sprache zu benutzen.[24] Hier liegt auch der Grund für die Konfessionalität des Religionsunterrichts. Die Frage muss daher lauten: Worin besteht die Orientierungsleistung des christlichen Glaubens für Auszubildende im Zeitalter des "flexiblen Kapitalismus"?

Im Zentrum des christlichen Glaubens steht die Rede von Gott, die die Gotteserfahrungen Israels, der Jünger Jesu und der Kirche zum Ausdruck bringt. Es ist bemerkenswert, dass die Gotteserfahrungen, von denen die Bibel erzählt, meist in gesellschaftlichen Krisenzeiten gemacht wurden. Das beginnt mit den Erfahrungen Abrahams und Sarahs. Ihr Glaube versöhnt sie nicht mit ihrem Leben in Ur, sondern holt sie aus ihrer Heimat heraus und führt sie in ein neues Land. Abraham ist für Juden, Christen und Muslime der "Vater des Glaubens", weil an ihm deutlich wird, dass Glaube heißt, sich auf den Weg zu machen, sich unbekannten Herausforderungen und neuen Situationen zu stellen. Die Erfahrung Abrahams wird im Exodus zur Erfahrung eines ganzen Volkes. Wer die Etappen der Wüstenwanderung und der Landnahme nachvollzieht, wird unschwer die ganze Palette menschlicher Reaktionen auf Krisen und neuen Herausforderungen erkennen, vom Jubel über die gelungene Flucht über Enttäuschung und Mutlosigkeit angesichts immer neuer Schwierigkeiten bis hin zur Sehnsucht nach den vermeintlich guten alten Zeiten, den Fleischtöpfen Ägyptens. Im Exodus erfährt Israel Gott als einen herausfordernden Gott, der seinem Volk zutraut, Enttäuschungen zu überwinden und sich neuen Situationen zu stellen. Der herausfordernde Gott ist auch ein fordernder Gott. Der Inhalt seiner Forderung ist Gerechtigkeit. Sie ist der Leitstern des gesellschaftlichen und privaten Lebens in Israel. An der Gerechtigkeit wird jeder gemessen, Bauern und Kaufleute ebenso wie Könige und Priester.

Den Zusammenhang von Gotteserfahrung und sozialer Krise wird man unschwer auch in der weiteren Geschichte Israels erkennen können. Zu nennen wären hier die Durchsetzung des Monotheismus und des ethischen Universalismus in der Zeit des babylonischen Exils[25] und natürlich nicht zuletzt Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis verkündet Jesus keinen "lieben", den Menschen nur bestätigenden Gott. Auch der Gott Jesu fordert - wie etwa die Berufung der Jünger zeigt - die Menschen heraus. Jesus gibt Petrus, Johannes und den anderen nicht einfach eine vertiefte Deutung ihrer Fischer- oder Handwerkerexistenz. Er fordert sie vielmehr auf, alles stehen und liegen zu lassen und ihm nachzufolgen. Man könnte noch andere Beispiele aus dem Neuen Testament und der Geschichte der Kirche bis in unsere Tage nennen, um zu zeigen, wie Christen oftmals im Wortsinn zu neuen Ufern aufgebrochen sind. Der herausfordernde Gott ist ein Gott, der den Menschen etwas zutraut, der sie groß machen will. Deshalb kann Maria, die die Herausforderung angenommen hat, Gott loben mit den Worten: "Von nun an werden mich selig preisen alle Geschlechter, denn Großes hat Gott an mir getan." (Lk 1, 48f)

Die christliche Rede von Gott beruht auf der Erfahrung und Einsicht, dass Gott anders ist als alles, was wir in dieser Welt erfahren können. Er ist nicht einfach die Verlängerung unserer Wünsche und Träume. Der Gott der Bibel ist anders.[26] "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken. Meine Wege sind nicht eure Wege" (Jes 55,8), heißt es bei dem anonymen Exilspropheten, den wir Deuterojesaja nennen. Gott und seine Gerechtigkeit sind größer als unsere Vorstellungen und Entwürfe. Deshalb ist es auch nur konsequent, dass man sich von diesem Gott kein Bild machen kann. Der Glaube an den transzendenten Gott der Bibel bringt den Menschen in Distanz zur Wirklichkeit. Er befähigt ihn, nach den Zielen und Zwecken des individuellen und gesellschaftlichen Handelns, nach dem Sinn des eigenen Lebens und der Welt zu fragen, und motiviert ihn, sich neuen Herausforderungen und unbekannten Situationen zu stellen und dabei nach der "größeren Gerechtigkeit" (Mt 5, 20) zu streben. Der Glaube ist, wie Abraham Heschel zutreffend schreibt, "ein Weg, in und über dieser Welt zu sein". Die Dissonanz zwischen der Verheißung des Reiches Gottes und den Erfahrungen des Alltags ist dann produktiv, wenn sie zum Impuls wird, das eigene Leben und die Welt zu verändern.

Ein Religionsunterricht, der Auszubildenden die Orientierungsleistung des christlichen Glaubens im Zeitalter des "flexiblen Kapitalismus" verständlich machen will, wird drei Aufgaben erfüllen müssen:

Die erste Aufgabe besteht darin, die zentralen Gotteserfahrungen, auf denen der christliche Glaube beruht, im Dialog mit den Fragen, den Erfahrungen und Überzeugungen der Auszubildenden zur Sprache zu bringen. Klaus Kießling hat in seiner empirischen Studie zum Religionsunterricht in der Berufsschule gezeigt, dass angesichts existenzieller Herausforderungen und leidvoller Erfahrungen viele Jugendliche an der Erörterung sozialer Normen und Werte und an der Frage nach Gerechtigkeit sehr interessiert sind.[27] Dieses Interesse kann der Religionsunterricht aufgreifen und die Frage nach der Gerechtigkeit mit der Frage nach Gott verbinden. Der Religionsunterricht kann zeigen, dass der christliche Glaube an Gott zu einer veränderten Wahrnehmung der Wirklichkeit führt und zur Suche nach der größeren Gerechtigkeit motiviert.

Angesichts des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus wird der Religionsunterricht zweitens die christliche Gottes- und Welterfahrung in Bezug zu anderen religiösen oder säkularen Weltdeutungen setzen. Auch wenn manche Erwartungen an das interreligiöse Lernen im Religionsunterricht wenig realistisch sind, kann ein berufsorientierter Religionsunterricht die Fragen, die sich im Zusammenleben und –arbeiten von Menschen mit unterschiedlichen religiösen oder säkularen Überzeugungen stellen, nicht unbeantwortet lassen. Dabei sollte den Auszubildenden deutlich werden, dass gerade das Vertrauen auf den Gott, der das Heil aller will (1 Tim 2, 4), Menschen motiviert und befähigt, in den Dialog mit anderen einzutreten, Fremdheit zu überwinden und Versöhnung zu wirken.

Ein berufsorientierter Religionsunterricht wird schließlich die Dissonanz zwischen der Verheißung des Reiches Gottes und den sozio-ökonomischen Mechanismen als Impuls zur Humanisierung der Arbeitswelt thematisieren. Dabei greift er auf sozialethische Konzepte zurück, die in der Tradition der katholischen Soziallehre und einer Theologie der Arbeit die christliche Hoffnung auf Gerechtigkeit mit der Autonomie ökonomischer und politischer Handlungsfelder vermitteln. Indem der Religionsunterricht in der Berufsschule die Auszubildenden motiviert, aktiv an der Humanisierung der Arbeitswelt mitzuwirken, beugt er einer Privatisierung des christlichen Glaubens vor.

An diesen drei Aufgaben sind didaktische Konzeptionen für den katholischen Religionsunterricht in der Berufsschule zu messen. Sie bilden auch den Maßstab zur Beurteilung der Lernfelddidaktik.

[Artikel als pdf]

-----------------------------------

[1] Der Religionsunterricht in der Schule. Ein Beschluss der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (1974), in: Arbeitshilfen 66 (1989).

[2] Die deutschen Bischöfe, Die bildende Kraft des Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des katholischen Religionsunterrichts (Die deutschen Bischöfe, Bd. 56), Bonn 1996.

[3] Zu diesem Schlüsselbegriff des Konzils vgl. Losinger, Anton, Iusta autonomia. Studien zu einem Schlüsselbegriff des Zweiten Vatikanischen Konzils, Paderborn 1989.

[4] Schwerpunkte kirchlicher Verantwortung im Bildungsbereich, in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Beschlüsse der Vollversammlung (Offizielle Gesamtausgabe, Bd. 1), Freiburg 1976, hier S. 531f.

[5] Die Deutschen Bischöfe - Kommission für Erziehung und Schule, Bildung in Freiheit und Verantwortung (Erklärung der Kommission, Bd. 13), Bonn 1993, hier S. 32.

[6] Die Deutschen Bischöfe - Kommission für Erziehung und Schule, Zum Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen (Erklärung der Kommission, Bd. 2), Bonn 1991, hier S. 7.

[7] Ebd., S.14.

[8] Grundlagenplan für den katholischen Religionsunterricht an Berufsschulen, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2002, hier S. 17–21.

[9] Vgl. zum Folgenden Trautwein-Kalms, Gudrun, Die Ambivalenz moderner Arbeit. Arbeitsverdichtung oder Arbeitserfüllung? (Schrift des Bundesinstituts für Berufsbildung, Hf. 4), Bonn 2004.

[10] Vgl. Verhülsdonk, Andreas, Die Reform der beruflichen Bildung und der Religionsunterricht, in: rabs 33 (2001) S. 50–55.

[11] Vgl. Bildung auf einen Blick. OECD-Indikatoren 2004, Bonn 2004, hier S. 195–206.

[12] Vgl. Weber, Max, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Weinheim 21996.

[13] Vgl. Michel, Albert, Capitalisme contre capitalisme, Paris 1991 (dt. Frankfurt am Main/New York 1992).

[14] Vgl. Siegenthaler, Hansjörg, Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 276–301; vgl. auch Graf, Friedrich Wilhelm, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004, hier S. 179–202.

[15] "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Aus: Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, hrsg. von dems., Frankfurt am Main 1997, S. 42–64, hier S. 60.

[16] So der amerikanische Originaltitel seines Buches Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998.

[17] "Verfügungswissen ist ein Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel; es ist das Wissen, das Wissenschaft und Technik unter gegebenen Zwecken zur Verfügung stellen. Orientierungswissen ist ein Wissen um gerechtfertigte Zwecke und Ziele; gemeint sind Einsichten, die im Leben orientieren (zum Beispiel als Orientierung im Gelände, in einem Fach, in persönlichen Beziehungen), aber auch solche, die das Leben orientieren (und etwa den ‚Sinn’ des eigenen Lebens ausmachen). Verfügungswissen ist insofern auch ein positives Wissen, Orientierungswissen ein regulatives Wissen." Aus: Mittelstraß, Jürgen, Bildung und ethische Maße, in: Die Zukunft der Bildung, hrsg. von dems. / Nelson Killius / Linda Reisch, Frankfurt am Main 2002, S. 151–170, hier S. 164. Der Begriff "Orientierungswissen" geht zurück auf Oelmüller, Willi, Philosophisches Orientierungswissen, in: Philosophisches Jahrbuch 95 (1988), S.96–106.

[18] Lübbe, Hermann, Religion nach der Aufklärung, in: Philosophie nach der Aufklärung. Von der Notwendigkeit pragmatischer Vernunft, hrsg. von dems., Düsseldorf 1980, S. 59–86, hier S. 71. Zum Begriff Kontingenz vgl. Troeltsch, Ernst, Die Bedeutung des Begriffs Kontingenz, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von dems., Tübingen 1922, S. 769–778.

[19] Vgl. Ruster, Thomas, Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von Christentum und Religion (Questiones disputatae, Bd. 181), Freiburg im Breisgau 2000, S. 124–165.

[20] Vgl. ebd., S. 198–201.

[21] Vgl. zum Folgenden O’Donovan, Leo, Bildung im Zeitalter der Beschleunigung, in: Stimmen der Zeit 199 (2001), S. 219–234.

[22] Vgl. Verhülsdonk, Andreas, Stört der Sonntag die Marktfreiheit?, in: Stimmen der Zeit 221 (2003) S. 805-812.

[23] Heschel, Abraham, Der Sabbat. Seine Bedeutung für den heutigen Menschen, Neukirchen-Vluyn 1990, hier S. 24.

[24] Vgl. Santayana, George, Reason in Religion, in: Works, hrsg. von dems. (Bd. 4), New York 1936, S. 3–206, hier S. 4.

[25] Vgl. Neuhaus, Gerd, Kein Weltfriede ohne christlichen Absolutheitsanspruch. Eine religionstheologische Auseinandersetzung mit Hans Küngs "Projekt Weltethos" (Questiones disputatae, Bd. 178), Freiburg im Breisgau 1999, S. 89–94; ders., Frömmigkeit der Theologie. Zur offenen Logik der Theodizeefrage (Questiones disputatae, Bd. 202), Freiburg im Breisgau 2003, S. 90–96.

[26] Vgl. Nordhofen, Eckhard, Die Zukunft des Monotheismus, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 53 (1999), S. 828-846.

[27] Vgl. Kießling, Klaus, Zur eigenen Stimme finden. Religiöses Lernen an berufsbildenden Schulen, Ostfildern 2004.