Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Wenn Pflege krank macht: wie kann Resilienz-Förderung helfen?

von Dr. Nikolai Münch

30.11.2021 · Der Begriff der Resilienz hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Konjunktur erlebt. Nicht nur die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema stieg exponentiell an. Auch in der nicht-akademischen Literatur stürmt die „Resilienz“ die Bestseller-Listen – sei es im Kontext des eigenen beruflichen Erfolges oder als Erziehungsratgeber, um den eigenen Nachwuchs fürs weitere Leben zu wappnen.[1] Was dabei als resilient gefördert werden soll, ist – zunächst ganz allgemein – die psychische oder seelische Widerstandskraft gegenüber Lebenskrisen und den Belastungen des persönlichen und beruflichen Lebens. Vor diesem Hintergrund wäre es fast verwunderlich, würde der Pflege-Sektor vom Boom der Resilienz ausgespart bleiben. Denn welche vermeintlichen oder tatsächlichen Krisen auch immer in anderen Bereichen der Gesellschaft den Eindruck schüren, dass es wichtig wäre, resilienter zu werden, die Krise der Pflege ist handfest und spätestens seit der Corona-Pandemie in aller Munde: Personalmangel, Nachwuchsprobleme, Finanzierungsschwierigkeiten, Qualitätsmängel, Gratifikationskrise (monetär und mangelnde Anerkennung), hoher Krankenstand und geringe Arbeitszufriedenheit. Die angespannte Lage im ambulanten wie stationären Pflegesektor ist seit Jahren vielfach empirisch belegt, ebenso wie die Verschärfung der bereits bestehenden Probleme durch die Pandemie.[2] Dabei sind besonders die empirischen Ergebnisse alarmierend, die nahelegen, dass etwa jede fünfte Person im Pflegesektor an Symptomen von Depression und Angststörungen in einem klinisch relevanten Ausmaß leidet – und das bereits vor den zusätzlichen Belastungen durch die Covid-Pandemie.[3]

Programme zur Förderung der Resilienz bei Pflegenden versuchen im Sinne der Primärprävention die Entstehung solcher Symptome zu verhindern und die mentale und psychische Gesundheit der Pflegenden zu erhalten. Betrachtet man die bisher veröffentlichten Studien und Programme zur Resilienzförderung in der Pflege, so stellt man fest, dass diese sich ganz überwiegend auf Achtsamkeitstrainings zur Stressreduktion (engl. mindful-based-stress-reduction) oder auf Aspekte von kognitiv-verhaltensorientierten Therapieformen stützen.[4] Es werden also hauptsächlich individuelle und persönliche Resilienzfaktoren der Pflegekräfte in den Blick genommen und die Frage gestellt, „why some nurses are able to thrive and continue to find satisfaction with their careers despite the current challenges and problems, while others are not. We suggest that some nurses are more personally resilient than others and are better able to cope with workplace adversity”.[5]

Man mag solche Aussagen auf Grund der strukturellen Probleme im Pflegesektor als zynisch empfinden. Daher ist „Resilienz“ nicht nur ein modisches „buzzword“, sondern auch ein Reizwort für Kritiker*innen. Während die einen sich darauf zurückziehen, dass diejenigen, die Krankheit und Leiden vorbeugen wollen, doch wohl im Recht seien, sehen die anderen in „der Resilienz“ nur das neueste biopolitische Instrument des Neoliberalismus, das darauf abziele, die Arbeitskraft der Individuen für ein sie krankmachendes System zu erhalten. Während die eine Seite in der Resilienzförderung eine Möglichkeit sieht, auf individueller Ebene durch einen angepassten Umgang mit Belastungsfaktoren unter anderem die Selbstwirksamkeit der Betroffenen zu steigern, wenden Kritiker*innen ein, Resilienz zementiere die Menschen in einen Zustand des „disempowerment“.[6] Angesichts dieser Polarisierung ist eine differenzierte Betrachtung der Resilienzforschung angebracht, die präventive Potenziale ebenso wenig außer Acht lässt wie kritische Reflexion.

Ausgangpunkt für ein solche Betrachtung kann zunächst sein, die zentralen Belastungsfaktoren im Pflegeberuf zwischen Makro-, Meso-, und Mikroebene zu differenzieren, auch wenn davon auszugehen ist, dass zwischen diesen Ebenen komplexe Wechselwirkungen bestehen:[7]

  • Die Makroebene umfasst sozio-kulturelle, politisch-rechtliche und ökonomische Einflussfaktoren: etwa eine zunehmende Bürokratisierung, eine Zunahme patient*innenferner Aufgaben, Rationalisierungsmaßnahmen mit Erhöhung des Arbeitstempos, oder die Gratifikationskrise.
  • Der Mesoebene wird diejenigen Belastungen zugerechnet, die für die Pflegenden auf Ebene der konkreten Einrichtungen entstehen. Dabei sind in erster Linie organisationale Aspekte zu nennen, die natürlich auch in Reaktion auf Weichenstellungen in der Makroebene erfolgen: die quantitativen Arbeitsanforderungen, ungünstig erlebte Arbeitsorganisation (Überstunden, Schichtdienste etc.), fehlender Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Ausführung der Arbeit, aber auch körperliche Anforderungen oder Infektionsgefahr.
  • Schließlich werden auf der Mikroebene interpersonale und individuelle Belastungsfaktoren summiert: Schwierigkeiten in der Kooperation mit anderen Berufsgruppen, Konfrontation mit Leid und Sterben, Konfrontation mit aggressiven oder unfreundlichen Patient*innen und Angehörigen, Konflikten zwischen Arbeit und Familie.

Resilienztrainings für Pflegende setzen in aller Regel bei den individuellen Ressourcen, d.h. auf der Mikroebene an. Persönliche Kompetenzen und Fertigkeiten sollen den Umgang mit Belastungen aller Ebenen verbessern und psychischen Problemen so vorbeugen. Resilienztrainings für Pflegende beschränken sich zumeist auf individuelle Maßnahmen, wie Meditationstraining oder Schreibworkshops, die bei der Reflexion der alltäglichen Herausforderungen und Belastungen unterstützen sollen.[8] Die Belastungsfaktoren, die sich in Makro- und Mesoebene für die Pflege aufsummieren, können individuelle Selbstsorge oder Stressmanagement vielleicht abmildern, aber dann bleibt dies eine Symptombehandlung. Werden die Belastungsfaktoren auf Makro- und Mesoebene allein durch eine Stärkung der individuellen Resilienzfaktoren abgefedert, ist dies in dreierlei Hinsicht problematisch: Es entspricht weder dem Forschungsstand zur Resilienz, ist ethisch fragwürdig und auch aus pragmatischer Sicht kontraproduktiv.

Es entspricht erstens nicht (mehr) dem Forschungsstand, weil die Resilienzforschung – anders als in ihren Anfängen – im Resilienzprozess längst ein mehrdimensionales und kontextspezifisches Phänomen erblickt. Resilienz wird mittlerweile als komplexer Prozess beschrieben, der nur adäquat erfasst werden kann, wenn man die Wechselbeziehungen zwischen individueller Ebene und sozialen, kulturellen und strukturellen Faktoren miteinbezieht. In der Resilienzforschung im Pflegebereich wird dies auch oft beiläufig zugestanden, nur bleibt diese Einsicht zu oft ohne Folgen für konkrete Forschungsvorhaben und Resilienzprogramme.

Trotz dieser Erkenntnisse in erster Linie die individuelle Resilienz der Pflegenden zu stärken, ist zweitens auch aus ethischer Perspektive fragwürdig. Damit soll nicht gesagt werden, dass individuelle Resilienzförderung an sich moralisch problematisch sei. Es ist aber angesichts der analysierten Belastungen in der Pflege ethisch fragwürdig, die individuellen Resilienzfaktoren einseitig ins Zentrum zu stellen. Dies birgt die große Gefahr, dass die Verantwortung für den Ausgleich dieser überindividuellen, strukturell problematischen Belastungen, die Pflegende nachweislich einem höheren gesundheitlichen Risiko aussetzen, auf die Pflegenden selbst abgewälzt werden. Und es birgt die Gefahr, die strukturellen Belastungen so aus dem Blick zu verlieren und diese auf dem Rücken der Pflege fortzuführen. Die Gestaltung gesunder Arbeitsbedingungen liegt im Verantwortungsbereich der jeweiligen Leitungsebenen (Mikro- und Mesoebene) und letztlich auch bei Politik und Gesellschaft (Makroebene), die noch viel zu häufig das Thema als individuelle und zu wenig als organisationale Frage verstehen.[9]

Nicht zuletzt besteht drittens das Risiko, dass hinter dem (modischen) Stichwort der (zu einseitig individuell verstandenen) Resilienz eine Tendenz weiter verfestigt wird, die sich im Bereich der Pflege schon länger beobachten lässt, „dass die Pflegekräfte hier häufig versuchen, [den] auf der Verhältnisebene verursachten Problemen mit verhaltensbezogenen Lösungsansätze[n] zu begegnen“[10]. Diesen Trend zu brechen, ist aufgrund der ethischen, wie auch aus pragmatischen Überlegungen notwendig. Denn die Kaschierung struktureller Belastungsfaktoren und Probleme durch individuelle Lösungsstrategien mag einzelfallbezogen und kurzfristig zum Erfolg führen, mittel- und langfristig führt diese Strategie aber – auch das ist empirisch belegt – zu einer umso höheren Belastung für die einzelnen Pflegenden.[11]

Die Resilienzförderung muss also nicht nur vor ihren Kritiker*innen, sondern auch vor ihren einseitigen Verfechter*innen gerettet werden, indem sie strukturelle und organisationale Faktoren auch in praktischen Programmen miteinbezieht und so dem Eindruck entgegentritt, hier gelte es individuelles Funktionieren unter Bedingungen chronischer organisationaler Pathologien letztlich auf dem Rücken der Pflege durchzusetzen. Nur eine solche differenzierte Stärkung der Resilienz verspricht ein nachhaltiges und ethisch wünschenswertes Unterstützungsangebot für die Menschen im Pflegesektor.

Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/222480

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[1] www.businessvillage.de/resilienz/eb-940.html
www.herder.de/kindergarten-paedagogik-shop/resilienz-im-kita-alltag-kartonierte-ausgabe/c-26/p-18019/

[2] Z.B. Jacobs et al. (Hg.) (2019): Pflege-Report 2019. Berlin: Springer (https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-58935-9) Einen Einblick, wie Pflegende und auch andere Mitarbeiter im Gesundheitssystem die Belastungen durch die Covid-Pandemie erlebt haben, geben die Interviews des Projekts „Corona Chroniken“ der Universitätsmedizin Mainz (https://www.youtube.com/channel/UCQwx7a7ybP9IxAyRqD7L-Kw).

[3] Morawa et al. (2021): Psychosocial burden and working conditions during the COVID-19 pandemic in Germany: The VOICE survey among 3678 health care workers in hospitals. Journal of Psychosomatic Research 144: 110415. doi.org/10.1016/j.jpsychores.2021.110415

[4] vgl.z.B. Mealer, Meredith et al. (2017): Designing a Resilience Program for Critical Care Nurses. In: AACN Advanced Critical Care 28(4): 359-365. doi: 10.4037/aacnacc2017252; Johnson, Jill R et al. (2015): Resilience Training: A Pilot Study of a Mindfulness-Based Program with Depressed Healthcare Professionals. In: Explore 11(6): 433-444 doi.org/10.1016/j.explore.2015.08.002; Rushton, Cynda H. (2016). Building moral resilience to neutralize moral distress. In: American Nurse Today 10/2016; Joyce, Sadhbh et al. (2018): Road to resilience: a systematic review and meta-analysis of resilience training programmes and interventions BMJ Open 8:e017858. doi:10.1136/bmjopen-2017-017858.

[5] Jackson, Debra/Firtko, Angela/Edenborough, Michael (2007). Personal resilience as a strategy fur surviving and thriving in the face of workplace adversity: a litertaure review. In: Journal of Advanced Nursing Studies 60(1): 1-9. DOI: 10.1111/j.1365-2648.2007.04412.x.

[6] Z.B. Evan, Brad/Reid, Julian (2014): Resilient Life. The Art of Living Dangerously. Cambridge: Polity Press.

[7] Höhmann, Ulrike/Lautenschläger, Manuela/Schwarz, Laura (2016). Belastungen im Pflegeberuf: Bedingungsfaktoren, Folgen und Desiderate. In: Jacobs, Klaus/Kuhlmey, Adeleid/Greß, Stefan/ Klauber, Jürgen/Schwinger, Antje (Hrsg.): Pflege-Report 2016. Schwerpunkt: Die Pflegenden im Fokus. Stuttgart: Schattauer. S. 73-90., S. 74ff.

[8] So z.B. Mealer, Meredith et al. (2017): Designing a Resilience Program for Critical Care Nurses. In: AACN Advanced Critical Care 28(4): 359-365. doi: 10.4037/aacnacc2017252

[9] Genrich et al. (2020): Hospital Medical and Nursing Managers’ Perspectives on Health-Related Work Design Interventions. A Qualitative Study. Frontiers in Psychology 11: 869. doi.org/10.3389/fpsyg.2020.00869.

[10] Höhmann, Ulrike/Schilder, Michael/Metzenrath, Anke/Roloff, Michael (2010). Problemlösung oder Problemverschiebung? Nichtintendierte Effekte eines Gesundheitsförderungsprojektes für Pflegende in der Klinik. Ergebnisausschnitte einer Evaluation. In: Pflege & Gesellschaft 2/2010. S. 108-124., S. 120.

[11] Ebd.