Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Die Abschiedsvorlesung von Prof. Dr. Regina Ammicht Quinn: Sauber. Rein. Moralisch.

Am 09.07.2024 lud Prof. Dr. Regina Ammicht Quinn zu ihrer Abschiedsvorlesung mit dem Titel „Sauber. Rein. Moralisch - noch ein Bericht für eine Akademie“ ein. Vor rund 100 geladenen Wegbegleiter*innen entwarf sie eine Skizze der Aushandlungsprozesse rund um Reinheit und Sauberkeit in den letzten Jahrhunderten europäischer Geschichte.

Nach einer Begrüßung durch Rektorin Pollmann wandte sich Prof. Ammicht Quinn jedoch nicht, wie der Titel vielleicht vermuten ließe, der Reinheit zu. Auch Franz Kafka lieferte mit seinem „Bericht für eine Akademie“ den Rahmen des Vortrags und war immer wieder durch seine Zeichnungen auf den Folien (siehe Foto) präsent. Das Augenmerk richtete sich zunächst auf den Schmutz: Mit Mary Douglas stellte Prof. Ammicht Quinn fest: “Kaffee in der Tasse ist kein Schmutz, Kaffee auf der Kleidung hingegen schon. Dirt is matter out of place“. Etwas als „out of place“ zu bezeichnen, ist jedoch bereits Teil einer symbolischen Struktur, die mit allen „Randzonen“ – des Körpers und der Nation – verbunden ist. Verhandlungen darüber, was oder wer schmutzig ist oder „rein“ sein soll, gibt es, so Ammicht Quinn, seit Jahrhunderten. In der europäischen Geschichte vermischten sich dabei immer wieder Hygienefragen mit Machtinteressen, Reinheitsvorstellungen und Reinheitsgeboten. Man denke nur an die Sicherung der patrilinearen Erbfolge durch Reinheit und Keuschheit der Ehefrauen. Oder die „reine Weste“, die man sich im Nachkriegsdeutschland mit Persil(-scheinen) verschaffen konnte, wie Prof. Ammicht Quinn mit einer Persil-Werbung aus dem Jahr 1952 in Erinnerung rief. Fragen von Schmutz und Reinheit wurden fast immer an, über oder sogar in Körpern verhandelt, heute auch und gerade dort, wo „Vermischungen“ der Reinheit gegenüber stehen, Ein Beispiel dafür lieferte Paul B. Preciado, der sich selbst bei einem Vortrag vor „der Akademie“ (École de la Cause Freudienne 2019 in Paris) nicht wie in Kafkas Bericht als „Affe“, sondern als „Monster“ beschreibt, ein „Monster“ zwischen Maskulinität und Feminität, das in Transition lebt, und damit zum fluiden, unklaren, unstabilen Objekt der Erkenntnis wird, zu dem, was unklassifizierbar bleibt. Die Frage, die er stellt, heißt: Welches Denken und welche Praktiken machen aus einem Menschen ein „Monster“?

Damit sind Reinheitsvorstellungen, so Ammicht Quinn, auch dort virulent, wo es um Reinheitsideale und Reinheitspraktiken der Wissenschaft geht, die ein verbundenes, vernetztes, häufig ambivalentes, immer wieder fluides Wissen auszuschließen versuchen. Für die Ethik bedeutet dies, dass Normativitäten notwendig sind, dass sie aber kontinuierlich kritisch untersucht werden müssen: Verflachen sie die Komplexität der Welt so weit, bis nur noch ein sauberes Entweder/Oder übrig ist? Versuchen sie das Heterogene, das nicht Passende, das nicht Kongruente zu beseitigen? Oder versuchen sie es zu verstehen?

Unübersehbar und unüberhörbar waren die Hinweise auf die heutige Zeit, in der immer noch (und in diesen Tagen wieder verstärkt) Mensch/Materie am vermeintlich falschen Platz mit Schmutz assoziiert wird. Es ist bemerkenswert, dass es Regina Ammicht Quinn gerade in dem Vortrag, mit dem sie akademisch gesprochen „ihren Platz räumte“, gelang, uns daran zu erinnern, wie vorsichtig wir mit der Zuordnung von Menschen und Materie an bestimmte, für sie „richtige“ Orte sein müssen, angesichts der politischen, moralischen und ethischen Implikationen, die mit diesen Vorstellungen einhergehen.

Ihr Vortrag war breit angelegt, ironisch und auch selbstironisch, ein Plädoyer für das „Unreine“, „Verworfene“, „Unpassende“ und dafür, für all dies in „der Akademie“ einen Platz zu finden. Die letzte Folie zeigte den letzten Holzschnitt (1935) aus einer Serie des Künstlers Hans Fronius über Kafkas „Bericht für eine Akademie“: den Affen, der sich vor der Akademie verbeugt.

Verfasst von: Marcel Vondermaßen