Ethik des digitalen Weiterlebens (Projekt Edilife)
von Martin Hennig
15.12.2022 · Die Digital Afterlife Industry verspricht eine Interaktion mit Verstorbenen über Kommunikationsplattformen, Chatbots oder Avatare. Das Projekt Edilife reflektiert diese aktuellen Dienste im Umfeld des Themenfeldes ‚digitales Weiterleben‘ aus der Perspektive von Ethik, IT-Sicherheit und Recht.
So wie die Digitalisierung aus dem Leben nicht mehr wegzudenken ist, betrifft sie auch das Sterben, den Tod und das Erinnern an die Verstorbenen.
In der Ausgabe 05/2017 erzählte Der Spiegel die Geschichte der russischen Programmiererin Eugenia Kuyda, die nach dem Tod ihres Freundes Roman Mazurenko mithilfe eines KI-basierten Textgenerators ein ‚Abbild‘ von Roman am Leben erhält. Auf der Basis tausender aufgezeichneter Textnachrichten habe sie einen Chat-Bot entwickelt, der Roman imitiere – nicht annähernd perfekt, aber darum gehe es laut der Darstellung im Spiegel nicht. Die digitale Technologie verspricht hier vielmehr eine Erfüllung der zeitlosen kollektiven Fantasie einer Überwindung des Todes. Kuyda´s Idee ruft deshalb schnell Investoren auf den Plan:
Gegenwärtig gilt die sogenannte Digital Afterlife Industry (DAI) als ein neuer Wachstumsmarkt für Start-Ups und die großen kommerziellen Plattformbetreiber, in dem eine Interaktion mit Verstorbenen über Kommunikationsplattformen, Chatbots oder Avatare simuliert ist. So können Anwender:innen mithilfe des Dienstes Gone Not Gone Sprachnachrichten aufnehmen, die nach dem Tod an die Hinterbliebenen versendet werden. Auch die App HereAfter offeriert die Möglichkeit, im Kontext vorgegebener Kategorien und Fragen („A turning point in my life was….“) Sprachdateien aufzunehmen; nach dem Tod können Hinterbliebene Fragen in die App posten, zu denen passende Geschichten abgespielt werden. Der noch im Entwicklungsstadium befindliche Dienst DDuplicata zeigt, wie weit die Heilsversprechungen des digitalen Raumes reichen können: Er wirbt mit einem digitalen ‚Zwilling‘ der Anwender:innen, der zu Lebzeiten einfache Aufgaben wie automatisierten Mailversand übernehmen könne, vor allem aber nach dem Tod in das Metaverse übergehe und dort für eine überdauernde Existenz der Nutzer:innen sorge.
Diese Dienste schließen in ihrem Menschenbild an transhumanistische Vorstellungen einer Erweiterung der Begrenzungen des Menschseins durch Technologie an – hier im Sinne einer Transzendierung der wohl zentralsten anthropologischen Grenze zwischen Leben und Tod. Dabei ist das Themenfeld des digitalen Weiterlebens nicht nur an dem (eher simplen) technischen Ist-Stand der bestehenden Angebote zu messen, sondern muss auch Überlegungen zu zukünftigen Technikentwicklungen miteinbeziehen – man denke hier nur an die massiven Fortschritte bei KI-basierten Textgeneratoren in den letzten Jahren, die zum Teil bereits öffentlich frei verfügbar sind. Es liegt folglich nahe, dass mit den Angeboten der Digital Afterlife Industry etliche ethische, rechtliche und sicherheitstechnische Fragen aufgeworfen sind. Im Forschungsfeld sind zwei zentrale Perspektiven zu berücksichtigen:
- Individuelle Perspektive: Das Feld des „digitalen Weiterlebens“ umfasst einerseits Situationen des eigenen Todes, wenn Menschen vor ihrem Tod eine entsprechende Nutzung ihrer Daten vorbereiten oder ausdrücklich untersagen; es umfasst andererseits Situationen des Todes anderer, wenn Angehörige oder Freund:innen Angebote der DAI nutzen, um weiter mit einer Repräsentation der verstorbenen Person zu interagieren. Es ist fraglich, wie Trauer und Pietät in diesem soziotechnischen Kontext einen Platz finden können und in welcher Weise Technik religiöses Leben beeinflussen wird (und umgekehrt). Welchen rechtlichen und ethischen Stellenwert haben Handlungen von und an Avataren als virtuellen Stellvertretern einer Person? Wie können die Rechte der repräsentierten Personen und ihrer Hinterbliebenen gegenüber den kommerziellen Interessen der internationalen DAI durchgesetzt werden? Wie werden Sicherheitsinteressen und der Datenschutz gewahrt?
- Kollektive Perspektive: Zugleich gehen die Forschungsfragen über derlei individuelle Situationen hinaus, etwa dort, wo im Kontext von Erinnerungskulturen Avatare Holocaustüberlebender in Museen die Fragen von Schüler:innengruppen beantworten; oder dort, wo verstorbene Personen des öffentlichen Lebens digital repräsentiert werden (wie etwa im Fall von John F. Kennedy). Welche Teile von Erinnerungskulturen sollten auf diese Weise konserviert werden und welche nicht (Fragen nach Repräsentativität und Zugang)? Welche Manipulations- und Missbrauchsmöglichkeiten eröffnen sich?
Das am IZEW in Tübingen und am SIT in Darmstadt angesiedelte Projekt Edilife hat das Ziel, aktuelle Dienste der DAI aus der Perspektive von Ethik, IT-Sicherheit und Recht zu reflektieren, zukünftige Entwicklungen zu antizipieren, Handlungsbedarf zu kennzeichnen und Handlungsoptionen zu erarbeiten – sowohl auf individueller als auch auf kollektiver gesellschaftlicher Ebene. Erstens wird dabei ein Überblick über existierende Techniken und Praktiken des digitalen Weiterlebens gegeben und werden kommende Entwicklungen antizipiert. Zweitens werden existierende Perspektiven auf das Themenfeld innerhalb der Erinnerungs- und Unterhaltungskultur systematisiert. Durch partizipative Verfahren und qualitative Interviews wird weiterhin das Spektrum der gesellschaftlichen Perspektiven auf das Thema „digitales Weiterleben“ erschlossen. Gemeinsam mit dem SIT findet auf dieser Grundlage drittens eine interdisziplinäre Technikbewertung statt: Welche Problemstellungen und Lösungsansätze ergeben sich aus den Angeboten der DAI? Viertens werden konkrete Handlungsempfehlungen zur Regulierung und zum Umgang mit diesen Technologien gegeben. Edilife leistet damit insgesamt eine erstmalige systematische Kartierung dieses hochaktuellen Forschungsfeldes und eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit hinsichtlich eines gesellschaftlichen Themas, das ewig weiterleben wird.