Totenasche als Streitobjekt. Trostsuche zwischen privater Aneignung und institutionellen Ordnungsansprüchen
von Matthias Meitzler
18.04.2023 · Autonomie ist zum Zauberwort der modernen Gesellschaft geworden und Menschen werden verstärkt in die Lage versetzt, selbst zu entscheiden, was gut für sie ist und was nicht. Dies betrifft neben vielen anderen Bereichen auch den zeitgenössischen Umgang mit dem Lebensende. Nicht zuletzt, wenn es um den Verbleib der sterblichen Überreste geht, stehen heute mehr Möglichkeiten zur Verfügung als je zuvor. Doch nicht immer herrscht bei der Ausgestaltung der "letzten Dinge" harmonischer Gleichklang unter den Angehörigen, bisweilen stoßen Selbstbestimmungsinteressen auf bürokratische Regulierungsbemühungen. Was das im Einzelnen bedeuten kann, soll an einem konkreten Beispiel diskutiert werden, dem im sozialen Alltagsleben nur wenig Aufmerksamkeit zukommt: die in Deutschland verbotene, gleichwohl vereinzelt praktizierte private Verwahrung von Totenasche.
Weil moderne Biografien hierzulande weniger denn je von kollektiven Sinn- und Orientierungsgebern geprägt sind, wird die Deutung einer bestimmten Lebenssituation vermehrt zu einer individuellen Aufgabe. Der Tod eines nahestehenden Menschen kann als eine solche Situation verstanden werden. Wo universelle Geltungsansprüche an Strahlkraft verlieren, lässt sich der Modus der Verlustbewältigung kaum mehr verbindlich bestimmen. Gewonnene Freiheiten gehen dabei mit einem erhöhten Maß an Eigenverantwortlichkeit und einer Zunahme von Handlungsoptionen einher. Dies betrifft u.a. auch die Art und Weise, wie mit dem toten Körper eines geliebten Familienmitgliedes zu verfahren ist. Mittlerweile werden in Deutschland mehr als 70% der jährlich Verstorbenen in einem Krematorium eingeäschert (1). Anders als der Leichnam im Sarg ermöglicht die Asche eine Vielzahl alternativer Wege, deren Ziel nicht zwangsläufig der Friedhof ist.
Gleichwohl unterliegen bestattungskulturelle Praktiken nicht lediglich persönlichen Präferenzen, sondern sind stets an juristische Bestimmungen geknüpft. Ein wesentliches Element aller 16 Länderbestattungsgesetze in Deutschland ist die Vorschrift, dass ein toter Körper – ob kremiert oder nicht – prinzipiell auf einen Friedhof zu verbringen ist. Zwar gibt es mit der Beisetzung in speziellen Waldarealen (2) oder Meeresgebieten (3) bereits legale Ausnahmen, darüber hinaus bestehen allerdings nur wenige Handlungsspielräume.
Der bestehenden Rechtslage zum Trotz finden sich vereinzelt Personen, die einen autonomen Umgang mit der Totenasche abseits der juristisch definierten Pfade wünschen. In vielen Fällen bleibt es bei dem Wunsch; in anderen wird er – über einige Umwege – in die Tat umgesetzt. Erfolgt die Einäscherung in einem der liberaleren Nachbarländer (z.B. Schweiz, Niederlande, Tschechien), wo keine Friedhofspflicht für Totenasche besteht, oder wird letztere zu einem dort ansässigen Bestattungsinstitut befördert, so kann sie anschließend zurück nach Deutschland gebracht und den Hinterbliebenen überreicht werden. Zwar wäre sie in diesem Fall, streng genommen, wieder friedhofspflichtig, de facto fallen die ordnungsbehördlichen Nachverfolgungsbemühungen aber gering aus. Der öffentlichen Bestattungskultur entzogen, können die Toten in Form von Asche dann z.B. in ihren vormaligen Lebensraum ,heimkehren‘, ob auf den ominösen Kaminsims oder – was empirisch weitaus häufiger vorkommt – ins Wohnzimmerregal bzw. auf den Nachttisch.
Mit Menschen, die auf diese Weise vorgegangen sind, beschäftigte sich ein unter meiner Beteiligung durchgeführtes interdisziplinäres Forschungsprojekt zur Autonomie der Trauer (4) . Mithilfe von rund 30 Leitfadeninterviews wurde u.a. rekonstruiert, wie es zu der Entscheidung zu einer unkonventionellen Handhabung gekommen ist und welche Erwartungen und Erfahrungen damit einhergingen. Der Entschluss resultierte in sämtlichen Fällen nicht aus einem spontanen Impuls, sondern wurde erst nach reiflicher Überlegung getroffen. Mal ging es schlichtweg darum, den lebzeitig geäußerten Wunsch des/der Verstorbenen zu erfüllen, mal waren frühere Verlusterfahrungen, bei denen sich etwa herausgestellt hat, dass kein fester Trauerort benötigt wird, ausschlaggebend. Nicht selten sorgten die bestehenden Bestattungsverordnungen für zusätzliche Unzufriedenheit, weil sie nach Ansicht der Befragten eine kollektivistische Trauerverwaltung repräsentieren, die den Eigenwert individueller Haltungen, Bedürfnisse und Beziehungen unterläuft. Auch wenn in den Interviews durchaus Besorgnis über etwaige Sanktionierungen aufgrund der Gesetzesübertretung geäußert wurde, wogen die persönlichen Ansichten – bzw. die der Verstorbenen – offenkundig schwerer als die überpersönlichen Rechtsnormen.
Die Frage, ob die Friedhofspflicht für Totenasche noch zeitgemäß ist, war zuletzt immer wieder Gegenstand öffentlicher Debatten (5). Ein häufig hervorgebrachtes Argument der Befürworter*innen besteht darin, dass durch diese Vorschrift eine dauerhaft würdevolle Behandlung der Asche sichergestellt sei. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Abschaffung der Friedhofspflicht Handlungskomplexität nicht nur reduziert, sondern bisweilen auch erhöht: Was geschieht etwa mit der im Garten beigesetzten Asche, wenn das Grundstück eines Tages zum Verkauf steht? Wohin mit der Urne, wenn die mit ihr Betrauten selbst gestorben sind? Wie gerade ein Blick in solche Länder zeigt, die keine Friedhofsplicht kennen, folgt daraus jedoch nicht zwingend, dass die zuhause aufbewahrte Totenasche über kurz oder lang eine ,unwürdige‘ Behandlung erfährt. Populäre Gerüchte, wonach ,lästig‘ gewordene Urnen im Müll landen, halten sich wacker, entbehren letztlich aber jeder empirischen Grundlage. Dessen ungeachtet sind gerade solche Begriffe wie Würde und Pietät in einer pluralisierten Gesellschaft keineswegs unproblematisch. Wer mit entsprechenden Kategorien argumentiert, tut so, als gäbe es ein allgemeines Empfinden im Sinne einer Kollektivmoral.
Doch wie sind ferner solche Fälle zu beurteilen, in denen die Hinterbliebenen keinen Konsens über den künftigen Verbleib der Asche erzielen können? Gerade dann, wenn es keine Hinweise auf die Bestattungswünsche des/der Verstorbenen gibt, wächst mit der Notwendigkeit der wechselseitigen Aushandlung auch das Konfliktpotenzial. Die Lösung besteht gemäß gängiger Rechtsprechung darin, dass den Totenfürsorgeberechtigten die finale Entscheidung obliegt. Ob es sich dabei zwangsläufig um diejenigen mit der stärksten Bindung oder dem intensivsten Trauerempfinden handelt und ob diese Regelung ein Garant für den innerfamiliären Frieden ist, darf indes bezweifelt werden. Überdies lässt sich zumindest nicht ausschließen, dass die Platzierung der Urne an einem nichtöffentlichen Ort (auch) dazu genutzt wird, sich an bestimmten Personen aus der näheren oder ferneren Verwandtschaft zu rächen, indem ihnen der Zugang verwehrt bleibt. Doch genügt dies als Argument, um allen Hinterbliebenen die private Aufbewahrung der Asche per se zu verbieten – also auch denen, die damit keinerlei feindselige Absichten verbinden? Schließlich könnten ungeliebte ,Mittrauernde‘ auch auf anderen Wegen benachteiligt werden, etwa durch das bewusste Verschweigen des Beisetzungstermins oder die Wahl einer anonymen Beisetzung (6).
Auch findet das häufig ins Feld geführte Argument, wonach die permanente Verfügbarkeit der Urne negative Folgen für den Trauerprozess habe, keine Bestätigung im vorhandenen Datenmaterial. Von den Befragten wird auffallend oft bekundet, dass von der Aschepräsenz eine tröstende, beruhigende und mithin beschützende Nähe ausgehe. Die Urne ist folglich weit mehr als ein Wohnungsaccessoire – durch sie bleibt die verstorbene Person nicht nur materiell gegenwärtig, sondern auch kommunikativ adressierbar. Sie ist nicht etwas, sondern sie ist jemand.
Inwiefern derartige Zuschreibungen einer gewissen Dynamik unterliegen, wäre mittels Langzeitbeobachtungen zu prüfen. Wer weiß: Vielleicht möchten manche Hinterbliebenen die zuvor aufbewahrte Asche eines Tages eben doch auf einem Friedhof beisetzen? Um derartige Absichten möglichst unkompliziert umsetzen zu können und somit nicht weiter im Dunkelfeld handeln zu müssen, sind Liberalisierungen dringend notwendig. Ohnehin wäre zu diskutieren, ob eine Urne tatsächlich bereits nach wenigen Tagen in einer letzten Ruhestätte irreversibel verortet werden muss oder ob Angehörigen grundsätzlich mehr Zeit gegeben werden könnte, um sich über die weitere Zukunft der Asche einig zu werden und vorab getroffene Entscheidungen ggf. zu revidieren.
Auch wenn die Ergebnisse der jüngsten Reformierungsbemühungen diesbezüglich wenig Optimismus verbreiten (7), scheinen weitere Lockerungen der Friedhofspflicht bis hin zu ihrer endgültigen Aufhebung nur eine Frage der Zeit zu sein. Dass damit keine apokalyptischen Zustände eingeläutet würden, zeigt abermals der Blick in die besagten Nachbarländer. Abgesehen davon, dass Trauernde nicht für die Friedhofsbranche zuständig sind, sondern umgekehrt, kann die Institution Friedhof sogar zu einem Liberalisierungsprofiteur werden, insofern sie dann nicht mehr länger im Rahmen einer auferlegten Verpflichtung, sondern einer selbstbestimmten Entscheidung aufgesucht würde.
Obschon die Mitnahme der Urne nicht in jedem Fall eine geeignete Lösung ist, wird ein allgemeines Verbot den diversifizierten Trauerbedürfnissen innerhalb der Bevölkerung längst nicht mehr gerecht. Neben Innovationen auf rechtlicher Ebene bedarf es vor allem einer kompetenten Beratung und Begleitung durch Bestattungs- und Trauerexpert*innen, die Betroffenen dabei helfen, eine informierte Entscheidung zu treffen und etwaige Konfliktrisiken im Vorfeld zu reflektieren. Gerade weil es keine Patentrezepte für sämtliche Problemvarianten gibt, werden zudem wechselseitige Zugeständnisse anstelle eines beharrlichen Durchfechtens persönlicher Interessen gefragt sein.
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(1) https://feuerbestattungsanlagen-ral.de/wp-content/uploads/2022/10/GFB-umfrageergebnisse2021.pdf
(2) https://www.deutschlandfunkkultur.de/letzte-ruhe-unter-baeumen-102.html
(3) https://www.deutschlandfunkkultur.de/seebestattungen-in-der-nordsee-asche-zu-meer-100.html
(4) https://www.nomos-shop.de/nomos/titel/autonomie-der-trauer-id-87920/
(6) https://www.sueddeutsche.de/muenchen/erding/erding-friedhof-anonyme-bestattungen-1.4574181
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