Vom Wandern zwischen den Welten
Die Bereitschaft zur Verunsicherung als interdisziplinäre Klammer in der Sicherheitsforschung
von Benjamin Scharte
28.11.2023 · Ist Sicherheit eine technische oder eine gesellschaftliche Aufgabe? Wer in Deutschland an ziviler Sicherheit forscht, wird irgendwann mit dieser Frage konfrontiert. Die triviale Antwort lautet „sowohl als auch“. Aber damit sind die Probleme, die an den Schnittstellen zwischen Sicherheitstechnologien und gesellschaftlichen Werten entstehen, nicht gelöst. Nach mehr als fünfzehn Jahren zivile Sicherheitsforschung in Deutschland stellt sich deshalb noch eine andere Frage: Wie geht denn eigentlich gute Sicherheitsforschung?
Folgt man der Deutschen Bundesregierung, besteht die „Kernaufgabe der zivilen Sicherheitsforschung“ im „Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor Gefährdungen“. Wer also mit seiner Forschung dazu beiträgt, diesen Schutz zu erhöhen, der sollte „gute“ Sicherheitsforschung betreiben. Aber ist Schutz auch gleichbedeutend mit Sicherheit? Und lässt sich eindeutig sagen, ob man mit Forschung einen bestimmten Zweck – und nur diesen – erfüllt, oder nicht? Über diese Fragen wurde in der Sicherheitsforschung sehr intensiv nachgedacht und die Antworten darauf sind komplex und uneindeutig. Es kommt auch darauf an, wen man fragt.
In der Sicherheitsforschung kann man sich zuweilen fühlen wie ein Wanderer zwischen verschiedenen Welten. Eine dieser Welten ist die der Ingenieur*innen, in der es darum geht, technische Lösungen für Sicherheitsprobleme zu finden – und so die Gesellschaft sicherer zu machen. In dieser Welt arbeiten zum Beispiel die Forscher*innen in den Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft daran, technologische Entwicklungen für zivile Sicherheit nutzbar und anwendbar zu machen. Die zweite ist die Welt der Sozialwissenschaftler*innen, in der die gesellschaftlichen Auswirkungen von technischen und nicht-technischen Sicherheitsanwendungen im Mittelpunkt stehen. Neben anderen forscht hier auch das Internationale Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen seit vielen Jahren an Fragen danach, wie Sicherheitsanwendungen ausgestalten sein sollten, welche Normen und Werte beachtet werden müssen und wo die Grenzen der Versicherheitlichung von Themen sein sollten. Trotz aller Versuche, Sicherheitsforschung tatsächlich interdisziplinär umzusetzen, herrscht aus meiner Sicht zwischen diesen Welten oft weiterhin eine erhebliche Sprachlosigkeit. Aber egal, ob Ingenieur*in, Politikwissenschaftler*in oder Ethiker*in, wer in der Sicherheitsforschung aktiv ist, nimmt für sich in den allermeisten Fällen an, gute Sicherheitsforschung zu betreiben und so zum „guten Leben“ beizutragen.
Wir müssen uns der obigen Frage also anders nähern. Nach den verheerenden Terroranschlägen des 11. September 2001 wurden weltweit in Passagierflugzeugen die Cockpittüren verstärkt und mit technischen Sicherheitsmechanismen versehen, um zu verhindern, dass Unbefugte sich während des Flugs Zutritt verschaffen können. So wollte man sicherstellen, dass Personen, die terroristische Ziele verfolgen, nicht die Kontrolle über ein Flugzeug erlangen können. Die politischen, sozialen, religiösen oder ökonomischen Gründe für Terrorismus spielen an Bord keine Rolle mehr. Konfrontiert mit einer sehr realen Gefahr, haben Fluglinien sich für eine nachvollziehbare und „sichere“ technische Lösung entschieden. Als der Copilot des Germanwings-Flugs 9525 am 24. März 2015 das Flugzeug abstürzen ließ und damit sich und alle 149 weiteren Menschen an Bord tötete, verhinderten diese Sicherheitsmechanismen, dass der Pilot und die Crew ihn davon abbringen konnten. Die vermeintliche Sicherheitslösung ermöglichte die Katastrophe. Hätten diejenigen, die diese Sicherheitslösung entwickelt haben, an einen solchen Fall denken müssen? Konnten sie es? Haben sie es? Und hätte es an ihrer Sicherheitseinschätzung etwas geändert? Gibt es eventuell gar keine „gute“ Lösung für diesen konkreten Fall?
Derartige Fragen verunsichern, weil sie zeigen, wie schwer es schon in einem vergleichsweise einfachen Fall ist, die oben genannte „Kernaufgabe der zivilen Sicherheitsforschung“ zu erfüllen. Interessanterweise ist es aber gerade diese „Verunsicherung“, die Regina Ammicht Quinn zufolge eine wichtige Rolle in der Sicherheitsforschung spielen kann. Demnach braucht es nicht nur ein „(Grund-)Maß an Sicherheit“, sondern auch ein „(Grund-)Maß von Unsicherheit, Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit“, denn auch letzeres sei „Teil menschlichen Lebens und damit wichtig und wertvoll.“ Dieses Grundmaß an Unsicherheit, oder treffender an „Verunsicherung“, hilft, Selbstverständlichkeiten und eingeübte gesellschaftliche Praktiken im Sicherheitskontext in Frage stellen zu dürfen, zu können und zu sollen. Denn diese Selbstverständlichkeiten und Praktiken können in sich und unhinterfragt Ungerechtigkeiten perpetuieren, Freiheitsrechte einschränken oder in anderer Weise negativ auf das „gute Leben“ einwirken, ohne dass dies den Handelnden und der Gesellschaft notwendigerweise bewusst sein muss.
Vielleicht lässt sich diese allgemeine Beobachtung analog auf diejenigen übertragen, die – aus den verschiedenen Welten kommend – Sicherheitsforschung betreiben. Wer Sicherheitsforschung mit der Gewissheit zu betreiben versucht, mit seiner Arbeit eindeutig und ohne jeden Zweifel zum Schutz von Menschen beizutragen, ist mutmaßlich noch nicht mit der komplexen Realität sozialer und soziotechnischer Systeme konfrontiert worden. Es braucht vielmehr eine Bereitschaft, sich in seiner eigenen Rolle als Sicherheitsforscher*in verunsichern zu lassen. Egal, aus welcher Welt der Sicherheitsforschung wir kommen, sollten wir in der Lage sein, unsere Gewissheiten zu hinterfragen. Das gilt für Technikwissenschaftler*innen bei der Frage nach den erwünschten und vor allem unerwünschten Nebenfolgen technischer Entwicklungen, etwa aktuell im Bereich der Künstlichen Intelligenz. Das gilt aber zum Beispiel auch für Ethiker*innen bei der Frage, wann eine Sicherheitstechnologie trotz eventuell immer noch bestehender Probleme dann einmal gut genug ist, um eingesetzt zu werden.
Wer zu den wenigen gehört, die als Wanderer zwischen den Welten sowohl die technik- als auch die sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung näher kennengelernt haben, nimmt oft eine Außenseiterrolle ein. Eine Rolle desjenigen, der als aus der jeweils anderen Welt der Sicherheitsforschung kommend verstanden wird und so – ob willentlich oder nicht – zum Herausforderer von Gewissheiten wird. Das heißt nicht, dass diesen Wanderern das verunsichert werden leichter fällt als anderen. Bereit zu sein, sich selbst verunsichern zu lassen, ist keineswegs selbstverständlich. Es ist intellektuell und emotional anstrengend. Nichtsdestotrotz scheint es essenziell. Diese Bereitschaft, sich in seinen Gewissheiten verunsichern zu lassen, ist es, die eine*n gute*n Sicherheitsforscher*in und somit auch gute Sicherheitsforschung ausmachen.
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