Care-Ethik und Corona: Eine Perspektive der (Für-)Sorge
von Lena Schlegel
15.04.2020 · Der Ausbruch des Corona-Virus hat unseren Lebensalltag und gesellschaftliche Verhältnisse weltweit durcheinandergebracht. Von Auswirkungen auf Wirtschaft, Arbeitsverhältnisse und Reiseverbote, über die massive Einschränkung des öffentlichen Lebens, bis hin zu den individuellen Konsequenzen von Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen – überall sind die Folgen der Pandemie sicht- und spürbar. Dabei wirft die Krise Fragen der Verantwortung und des angemessenen Umgangs mit einer Situation auf, die für uns neuartig ist. Sie konfrontiert uns mit einer tiefen Verwundbarkeit. Wir haben Angst, uns selbst oder andere anzustecken und sind verunsichert, weil sich die Welt um uns herum rapide wandelt. Gleichzeitig zeigt die Krise auch tiefe gesellschaftliche Missstände auf. Sie zeigt die negativen Folgen von Einsparungen im Gesundheitssektor, die Grenzen der freien Marktwirtschaft und die mangelnde gesellschaftliche Wertschätzung für Fürsorgeaufgaben wie Pflege, Betreuung und Versorgung.
Wie wichtig solche Fürsorgepraktiken für das Funktionieren gesellschaftlicher Ordnung sind, wird umso deutlicher, wenn wir jetzt von „systemrelevanten“ Berufen sprechen. (Für-)Sorge spielt jedoch nicht nur in Krisenzeiten eine zentrale Rolle, sondern ist zentraler Bestandteil allen sozialen Lebens. Zweifelsohne sollten wir die Arbeit von Pfleger*innen, Erzieher*innen, Verkäufer*innen und Rettungsdienstleistenden nicht nur während der Krise honorieren, ihnen nicht nur von unseren Balkonen Beifall klatschen. Daher müssen wir uns früher oder später auch mit der Frage beschäftigen, wie uns die Erfahrung der Krise als Gesellschaft verändert und wie wir als Gemeinschaften in Zukunft leben wollen. In diesem Beitrag möchte ich daher der Frage nachgehen, was eine Perspektive der Fürsorge für gesellschaftliches Leben, auch jenseits der Krise, beitragen kann.
Der Gedanke, Fürsorge-Arbeit gesellschaftlich zu stärken, ist nicht erst mit der Corona-Krise zu Tage getreten, wird durch sie aber in seiner Bedeutsamkeit unterstrichen. Vertreter*innen der feministischen Care-Ethik (deutsch: Fürsorge-Ethik), wie Carol Gilligan, Joan Tronto oder Selma Sevenhuijsen, um nur einige zu nennen, untersuchen bereits seit den 1980er Jahren die gesellschaftliche Rolle von Fürsorge und ihren Wert als ethisch-analytische Perspektive auf gesellschaftliche Verhältnisse. Der Begriff Care bezieht sich dabei sowohl auf das Praktizieren von Fürsorge als auch das affektive Empfinden von Sorge um Andere oder eine bestimmte soziale oder politische Konstellation. Beide Dimensionen sind zentral für die Übernahme moralischer Verantwortung in Fürsorge-Beziehungen. Als ethische Perspektive steht Care daher nach María Puig de la Bellacasa für die ethisch-politische Auseinandersetzung mit den konfligierenden Aspekten von (Für-)Sorge.
Care-Ethik geht davon aus, dass alle Beziehungen des Menschen – zu uns selbst, zu Anderen, und zur Welt – von (konfligierenden) Fürsorgebedürfnissen gekennzeichnet sind. Moralische Verantwortung erwächst daher aus dem In-Beziehung-Stehen mit Anderen und der Welt. Jede*r benötigt (Für-)Sorge, und das in vielfältiger Weise. Verwundbarkeit und Abhängigkeit sind damit einhergehend nicht zwangsläufig Zeichen von Schwäche, sondern notwendiger Bestandteil unseres Lebens. Es ist also völlig in Ordnung, wenn wir uns im Kontext der Corona-Krise verwundbar fühlen. Die Frage ist vielmehr, wie wir mit den damit verbundenen Gefühlen wie Hilflosigkeit, Schuld und Angst (um das eigene Leben, das Leben anderer oder auch vor Verlust der bekannten Lebenswelt) auf eine konstruktive Weise umgehen können und wie wir in der Krise Verantwortung füreinander übernehmen können – und für welche Andere.
Eine Antwort aus dem vielfältigen Bereich der Fürsorge-Theorien könnte sein, den unangenehmen Gefühlen nachzuspüren und sich mit den wahrgenommenen Konflikten auseinanderzusetzen. Denn Konflikte sind zentraler Bestandteil von Fürsorge und Verantwortung erwächst aus dem Umgang mit ihnen. Es gibt in der Welt mehr Bedürfnisse nach (Für-)Sorge als befriedigt werden können. Auch muss Fürsorge nicht immer positiv konnotiert sein. Fürsorge-Beziehungen sind in der Regel hierarchisch und können mithin auch negative Abhängigkeiten nach sich ziehen, z.B. durch einen schlecht praktizierten Erziehungs- oder Betreuungsauftrag oder wenn körperliche Pflege ohne Zuwendung praktiziert wird. Das bedeutet aber auch, dass wir Verantwortung haben gegenüber jenen, mit denen wir in (Fürsorge-)Beziehungen stehen. Begreift man eine Bandbreite an gesellschaftlichen Verhältnissen als Fürsorge-Beziehungen, könnte man so beispielsweise argumentieren, dass Arbeitgeber*innen in der durch Corona hervorgerufenen Situation der Prekarität nun in besonderer Verantwortung für ihre Beschäftigten stehen, Wohnungseigentümer*innen für ihre Mieter*innen, der Staat für seine Bürger*innen und so weiter.
Gleichzeitig ist es möglich, in tief empfundener Sorge um Andere zu sein und ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, ohne unmittelbar praktische Fürsorge für sie zu übernehmen, womit sich wiederum Fragen der Verantwortung stellen. Denn wo praktisches Handeln erforderlich ist, reicht es nicht aus, sich zu sorgen, wie beispielsweise an der Situation von 20.000 geflüchteten Menschen deutlich wird, die unter ärmsten Hygienebedingungen in Zelten auf Lesbos die Ankunft der Pandemie und damit eine humanitäre Katastrophe erwarten. Es reicht nicht aus, dass uns ihr Schicksal berührt, wir müssen für ihren Schutz eintreten. Als Einzelne*r mögen wir uns zwar hilflos fühlen, wir sind aber als Individuen in gesellschaftliche Kontexte eingebettet und daher in der Lage, Akteur*innen auf anderen gesellschaftlichen Ebenen zur Verantwortung zu rufen, wie beispielsweise in diesem Aufruf von Amnesty International an die Bundesregierung zur Evakuierung des Lagers in Moria. Eine gute Praxis der Fürsorge ist daher gewissermaßen abhängig von der Fähigkeit ein Fürsorge-Bedürfnis in seiner Komplexität wahrzunehmen und angemessen zu beurteilen.
Wenn wir uns mit unserer Verantwortung für die Menschen in Moria beschäftigen, zu Zeiten, in denen wir selbst kaum die eigene Wohnung verlassen, wird ein weiterer Aspekt der Care-Perspektive deutlich, die als kontextuale Ethik die Einbettung von Individuen in soziale Kontexte betont. Das bedeutet nach Joan Tronto, dass moralische Urteile und unser Handeln der Komplexität einer Situation entsprechen müssen. Es bedeutet auch, dass wir uns in unserem ethischen Urteil nicht auf den Standpunkt eines unbeteiligten Beobachters zurückziehen können, sondern dass wir anerkennen müssen, dass wir durch unsere Beziehungen immer schon selbst Teil einer ethisch-politischen Konstellation sind. Insofern bietet die Care-Ethik auch keine universellen Prinzipien als ethische Leitlinien an, sondern betont die Verantwortung, die aus konkreten gesellschaftlichen Kontexten, aus konkreten Beziehungskonstellationen erwächst. Dies sollte uns aber im Umkehrschluss nicht dazu verleiten lassen, den Kreis unserer moralischen Gemeinschaft immer enger zu ziehen und Verantwortung an europäischen oder nationalen Grenzen abzugeben – wie beispielsweise der Eindruck entsteht, wenn die Europäische Union Corona-Bonds ablehnt oder wenn Staaten auf dem Weltmarkt unerbittlich um dringend notwendiges medizinisches Material wie Schutzmasken konkurrieren.
Wir haben Verantwortung für Menschen in anderen Staaten, Menschen auf der Flucht oder im Globalen Süden und für die Welt, die wir mit ihnen teilen. Die Care-Perspektive hilft uns, diese Verantwortungskonstellationen sichtbar zu machen und auch denjenigen Beziehungen nachzuspüren, die nicht unmittelbar sind: Wir stehen in Verantwortung gegenüber Menschen, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in Bangladesch unsere Kleidung nähen, die unter Einsatz ihres Lebens im Kongo seltene Erden für unsere Smartphones aus der Erde holen und jenen, deren Heimat infolge der Klimaerwärmung bereits jetzt im Meer versinkt oder in Flammen steht.
Worum wir uns kümmern, ist unmittelbar davon abhängig, was uns kümmert. Indem wir also manche Dinge in den Bereich unserer ethischen Überlegungen ein- und andere ausschließen, treffen wir immer bereits moralische Urteile mit politischen Konsequenzen. Diese Überlegung sollte zentral sein, wenn wir evaluieren, wie wir mit der Corona-Erfahrung langfristig als Gesellschaft umgehen. Sie bedeutet nicht nur, dass uns die Corona-Krise dazu anhalten sollte, längst überfällige gesellschaftliche Diskurse über die gerechte Entlohnung von Care-Berufen, die Anerkennung des Wertes von Fürsorgearbeit und die notwendige Stärkung der sozialen Sicherungssysteme zu führen, wie zum Beispiel in der neu entfachten Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Indem die Care-Perspektive unsere tiefe Verbundenheit mit anderen und unserer Mitwelt sichtbar macht, ermöglicht sie auch eine ethisch-politische Reflexion unserer gesellschaftlichen Verhältnisse jenseits der Krise. Wir sollten uns darum bemühen, den vielschichtigen Fragen einer entfesselten Welt nicht auszuweichen, sondern uns kritisch mit ihnen und unserer Verantwortung auseinander zu setzen. (Für-)Sorge ernst zu nehmen würde insofern auch die Anerkennung von Verantwortlichkeiten bedeuten, die soziale Ungleichheiten, Gerechtigkeitsfragen und etwa ökologische Krisen, nicht nur in unserem Nahbereich, betreffen.
Kurz-Link zum Zitieren: https://uni-tuebingen.de/de/175821