Konstruktiver Umgang mit Konflikten in Zeiten von Corona
Tools und Impulse für eine gelingende Konflikttransformation
von Cora Bieß
04.04.2020 · Ein individueller wie auch gemeinschaftlich konstruktiver Umgang mit Konflikten wird in Zeiten von Krisen besonders wichtig. Je nach Wohnform verbringen wir in Zeiten von Corona durch verhängte Ausgangssperren plötzlich und unerwartet sehr viel Zeit mit unseren Mitwohnenden. Neben Mitbewohner*innen und Partner*innen, verbringen auch Eltern mit ihren Kindern mehr Zeit – zum Teil Eltern, die sonst nie gemeinsam erziehen, und sich durch Schul- und Kitaschließung nun gemeinsame Regelungen für die Kinderbetreuung überlegen müssen. Auch erwachsene Kinder, die seit Jahren aus dem Elternhaus ausgezogen sind und nun aus Sorge um den Gesundheitszustand ihrer Eltern zurückkehren, um sie (mit ihren Geschwistern) zu pflegen und zu versorgen, sind hier zu nennen. Die aktuelle Lage aufgrund von Corona versetzt viele in Anspannung und ungewohnte Situationen.
Dieser Artikel stellt Tools für einen konstruktiven Konfliktumgang in den eigenen „Vier Wänden“ bereit und bietet in drei Schritten Impulse für eine gelingende Konflikttransformation:
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Verstehen, welche Phasen ein Konflikt bis zur Eskalation durchläuft und wie der Konfliktzustand verändert werden kann
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Anwenden von sechs Schritten für einen konstruktiven Umgang mit Konflikten
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Bei Bedarf Nachlesen, was die Wissenschaft zu Konflikttransformation sagt
1. Ein Konflikt liegt vor, wenn die Beteiligten miteinander unvereinbare Ziele verfolgen. Der Kern eines Konflikts sind Unterschiede in Bezug auf Werte, Interessen, Ziele oder Wünsche. Wichtig ist hierbei zu betonen, dass Konflikte nicht per se negativ sind, sondern durch eine konstruktive Konflikttransformation die Chance für neue Beziehungen und Umgangsformen besteht. Konflikte sind natürlich und ein unvermeidbarer Teil des Zusammenlebens. Doch durch die Einschränkung von sozialen Kontakten, fehlt mitunter vielen ein Ventil oder ein regulierender Austausch mit Menschen außerhalb der "eigenen vier Wände", der normale zwischenmenschliche Spannungen oder Meinungsverschiedenheiten im Alltag schlichten würde. In der aktuellen Lage können neutrale Dritte private Konflikte, die in den eigenen vier Wänden entstehen, nicht begleiten. So wird die Konfliktanfälligkeit in der aktuellen Lage verstärkt. Für einen konstruktiven Konfliktumgang ist es wichtig, Gelegenheiten für eigenverantwortliches Handeln zu schaffen – diese Voraussetzung ist bei einer Ausgangsbeschränkung nur bedingt umsetzbar. Daher wird es in der aktuellen Situation besonders wichtig, entstehende Konflikte konstruktiv auszutragen und mit Aggressionen und Emotionen wie Wut, Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit und Unsicherheit gewaltfrei umzugehen. In der aktuellen Lage der Ausgangsbeschränkungen ist es besonders wichtig, sich bei aufkommenden Konflikten zu reflektieren, eigene Gefühle zu artikulieren, sich in andere einzufühlen und im Dialog mit dem Gegenüber zu kommunizieren, um so trotz der Anspannung und Ungewissheit eine gute Dialogs-Kultur aufrechtzuerhalten. Dialoge können den eigenen Blickwinkel erweitern und ein tieferes Verständnis für die Dialogpartner*innen mit ihren Ansichten und Verhaltensweisen erlangen. Ein gewaltfreier Umgang in Konflikten kann gefördert werden, wenn man sich der Entstehung von Konflikten bewusst wird.
Konflikte sind oft dynamisch und lassen sich anhand verschiedener Eskalationsstufen in verschiedene Phasen unterteilen. Um zu verdeutlichen, wie Konflikte entstehen und sich intensivieren, können diese Stufen einer Konflikteskalation bei der Anwendung der Visualisierung einer Konfliktanalyse dienen.
Visualisierung der Phasen einer Konflikteskalation:
Anhand der folgenden Cartoons können Sie gemeinsam veranschaulichen, in welchen Konfliktphasen Sie sich befinden und Ihren konkreten Konflikt in seinem spezifischen Verlauf auf die einzelnen Phasen schematisch übertragen.
Bei aufkommenden Konflikten in den eigenen Vier Wänden haben wir oft unterschiedliche Perspektiven auf die Konfliktauslöser. Auch der Konfliktverlauf wird oft von Person zu Person unterschiedlich wahrgenommen. Für den Einen ist der Auslöser vielleicht schon früh zu spüren, die Andere nimmt wiederum Spannungen auf eine andere Weise wahr und reagiert auf andere Auslöser. Um die gegenseitige Sichtweise zu verstehen, können Sie mit der folgenden Anleitung eine gemeinsame Konfliktanalyse durchführen. Das Ziel dieser Konfliktanalyse mithilfe der Cartoons ist, dass am Ende alle Beteiligten ein gemeinsames Verständnis entwickelt haben, was der gemeinsame Konfliktgegenstand ist und wie sich der Konflikt entwickelt hat.
2. Folgende Stufen, dienen einer ethischen Betrachtungsweise eines spezifischen Konfliktes:
(1) persönliche Problembeschreibung: Im ersten Schritt können die Cartoons der Selbstreflexion dienen in dem Sie sich selbst folgende Fragen stellen: (jede*r kann sich dabei bei Bedarf individuell Notizen machen)
- Wie hat der Konflikt aus Ihrer Sicht begonnen?
- Gibt es für Sie tieferliegende Konfliktursachen die vorangegangen sind, die vordergründig nicht thematisiert wurden?
- Besteht zwischen Ihnen und Ihrem Gegenüber Einigkeit darüber, welches die strittigen Punkte sind?
- Wie lassen sich für Sie die einzelnen Punkte voneinander abgrenzen?
- Existieren eventuell verschiedene Konflikte, die in einem großen Konflikt geendet sind, aber besser getrennt verhandelt werden sollten?
- Welche Interessen haben Sie? Was vermuten Sie, welche Interessen Ihr Gegenüber hat?
(2) gegenseitige Situationsanalyse: Im zweiten Schritt erzählen Sie dem Gegenüber chronologisch die eigene Sicht auf den Konflikt, die Sie im ersten Schritt (Problembeschreibung) reflektiert haben. Um dem Gegenüber Ihre Wahrnehmung über den Konfliktverlauf zu visualisieren, können die Cartoons als Stütze dienen. Einzelne Konfliktphasen können für Sie so verdeutlicht und voneinander abgegrenzt werden. Damit ein Dialog in Krisen gelingen kann, sind vier Aspekte wichtig: Zuhören, Respektieren, Artikulieren und Verlangsamen. Gerade der Aspekt der Verlangsamung kann durch die Cartoons so effektiv erzielt werden. Wichtig hierbei ist es, dass Sie sich gegenseitig ausreden lassen und die Sichtweise des Gegenübers anhören, ohne zu kommentieren oder zu werten. Erst nachdem Ihr Gegenüber Ihnen die eigene Wahrnehmung geschildert hat, dürfen Sie Nachfragen in Form von Verständnisfragen stellen. Hierbei können Sie auf die Grundlagen der Gewaltfreien Kommunikation zurückgreifen, wobei darauf geachtet wird, „Ich“-Botschaften zu senden. Also nicht: „Du hörst mir nie zu“ sondern: „ich fühle mich von dir nicht gehört/verstanden/gesehen“ oder „Ich habe den Eindruck, dass...“.
Im Anschluss erzählt Ihnen das Gegenüber nun nach demselben Verfahren chronologisch die eigene Sicht auf den Konfliktverlauf.
Durch die Thematisierung und Benennung von Gefühlen werden wir uns der spezifischen Situation und deren Auswirkungen bewusster und können uns gegenseitig detaillierter erläutern, wodurch wir uns in unserer Privatheit oder unserem Sicherheitsgefühl verletzt fühlen.
Sie können bei der Beschreibung Ihrer Sichtweise folgende Fragen beachten:
- Welche Gesetze, Verpflichtungen und Erwartungen müssen für Sie in der aktuellen Situation berücksichtigt werden?
- Ermöglicht die gegenseitige Beschreibung der Situation und der eigenen Wahrnehmung eine Beschreibung auf die sich alle Beteiligten einigen können?
(3) Wertebeurteilung: Konflikte sind häufig emotionalisiert, da wir uns in spezifischen Werten und Normen verletzt fühlen. Hier gilt es für Sie sowohl individuell als auch in der Gruppe zu reflektieren:
- Welche moralischen Werte und Normen sind uns besonders wichtig?
- Welche Werte und Normen wurden durch den Konfliktverlauf verletzt und haben damit unser Zusammenleben negativ beeinflusst?
(4) Handlungsoption: Im weiteren Verlauf gilt es für Sie zu klären, wie der aktuelle Konfliktzustand konstruktiv angegangen werden kann, damit alle Beteiligten den Umgang mit der spezifischen Situation als gerecht empfinden. Hier können Ihnen folgende Fragen eine Orientierung bieten:
- Welche realisierbaren Handlungsmöglichkeiten gibt es in der aktuellen Lage?
- Welche Optionen lassen sich unter welchen Bedingungen realisieren?
- Welche Konsequenzen würden daraus für Sie alle entstehen?
- Passen die Folgen zu den verschieden involvierten Werten?
(5) Entscheidung: Erst wenn alle Beteiligten sich gehört und verstanden fühlen, können Sie auf gemeinsamer Basis eine Entscheidung im Umgang mit der vorliegenden Konfliktlage treffen. Welche Werte stehen für Sie im Zusammenleben im Vordergrund? Welche Werte sind für Ihr Gegenüber besonders wichtig? Unter Berücksichtigung der Situation und den verschieden involvierten Werten, können Sie so gemeinsam eine Hierarchisierung der Werte ermitteln. Wenn die Folgen des Handelns von allen artikuliert wurden, können Sie eine hierarchische Aufstellung der Handlungsmöglichkeiten formulieren und begründen.
(6) Überprüfen: Da Konflikte meistens dynamisch und selten linear verlaufen, ist es wichtig, dass Sie die Auswirkungen und Folgen des Konfliktes beobachten und reflektieren. Alle Beteiligten sind dafür mitverantwortlich, indem sie ihre Umwelt aktiv mitgestalten. Gemeinsam können Sie sich fragen: ab welcher Phase des Konfliktes kann in Zukunft individuell und präventiv gehandelt werden, um einer weiteren Eskalation entgegen zu wirken? Lässt sich das anhand der Cartoons visualisieren?
- Gibt es ein individuelles Frühwarnsystem, dass zukünftig eine Konflikteskalation präventiv beeinflussen könnte?
- Können Sie gemeinsam einen Ablaufplan formulieren, der zukünftig als Frühwarnsystem für Konflikte zwischen Ihnen eingesetzt wird?
- Ab wann und wo bedarf es für Sie Hilfe von außen? Gibt es in der aktuellen Lage durch die Ausgangsbeschränkung dennoch Personen, die Sie per Telefon oder Videokonferenzen hinzuziehen können und die als Mediator*innen in den Konfliktverlauf einwirken können?
Folgende Impulse können Ihrer individuellen Evaluation und einer Überprüfung in der Gruppe dienen:
- Können die gewählten Handlungsmöglichkeiten tatsächlich durch Sie umgesetzt werden?
- Ist die Begründung für Sie und für Ihr Gegenüber plausibel?
- Wurden alle Faktoren von Ihnen berücksichtigt? Auch die zunächst versteckten und tieferliegenden Konfliktursachen?
- Sind keine illegitimen Interessen von Ihnen oder Ihrem Gegenüber im Spiel?
Fazit:
Die hier aufgeführten Anwendungsschritte dienen als Denkangebot und geben einen ersten Einblick in die Grundelemente aus Workshopformaten im konstruktiven Umgang mit Konflikten. Es ist wichtig zu verstehen, welche Werte und Interessen den Konflikten zugrunde liegen, die durch aktives Zuhören, das Kommunizieren von Gefühlen und gegenseitiges Zuhören konstruktiv bearbeitet werden können.
Auch wenn aktuell keine Konflikte das Zusammenwohnen überschatten, kann dieser Beitrag vielleicht einen Impuls bieten, sich gemeinsam mit Ihren Mitwohnenden bewusst über einzelne Werte im Umgang miteinander auszutauschen. So könnte die aktuelle Situation gemeinsam zu Hause als Chance betrachtet werden, bei der wir uns aktiv für eine gemeinsame Konfliktprävention Zeit nehmen, auch wenn es gerade keinen akuten Konflikt gibt.
3. Transformation im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet umwandeln, umgestalten oder umformen. Konflikttransformation kann somit als ein umfassender Ansatz verstanden werden, der versucht, eine Änderung der zugrundeliegenden Bedingungen zu erreichen, die zu Gewalt geführt haben und möglicherweise erneut führen. Gewalt beinhaltet im Kontext der Konflikttransformation weitaus mehr als den Einsatz physischer Gewalt durch Personen. Ziel ist ein „positiver Frieden“ der erst durch die Abwesenheit von physischer, kultureller und struktureller Gewalt erreicht wird (Galtung). Konflikttransformation ist ein komplexer Prozess, bei dem Beziehungen, Einstellungen, Verhaltensweisen, Interessen und Diskurse in gewalttätigen Konfliktsituationen konstruktiv[1] verändert werden. Eine gelingende Konflikttransformation wird als eine tiefgreifende und ganzheitliche Konzeptualisierung der konstruktiven Veränderungen angesehen, die erforderlich sind, um einen dauerhaften Frieden zu schaffen, der von allen beteiligten Akteur*innen als gerecht empfunden wird. Ein transformativer Ansatz versucht in diesem Verständnis, die Missstände einer Gesellschaft anzugehen und eine Transformation struktureller Ungleichheiten voranzutreiben, mit dem Ziel, soziale Gerechtigkeit und nachhaltigen Frieden zu fördern (Cochrane-Buchmüller). Deshalb geht es in einer gelingenden Konflikttransformation auch darum, struktureller und kultureller Gewalt entgegen zu wirken, um bestehende Machtverhältnisse zu verändern oder aufzubrechen.
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[1] Konstruktiv im Allgemeinen beschreibt einer spezifischen Entwicklung dienende Eigenschaft. In anderen Worten geht es in dieser Arbeit um einen sinnvollen Aufbau und um eine fördernde Handlungsweise im Umgang mit erinnerter Gewalterfahrung. Gewaltvoll in diesem Verständnis bedeutet ein schädliches Verhalten physischer, struktureller oder kultureller Natur, das verhindert, dass der Mensch sein volles Potenzial entfalten kann (Galtung 1996).
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