„Wie schützen wir die Schwachen?“
Ein Einspruch
von Regina Ammicht Quinn
03.04.2020 · „Wie schützen wir die Schwachen?“
So die Titelseite der ZEIT am 2. April 2020. Gut gemeint, aber nicht gut gedacht.
Hier wird vorausgesetzt, dass sich unsere „Corona-Welt“ fein säuberlich einteilen lässt: in Schwache und Starke. Und die Starken sind „wir“. Die Starken müssen nun die Verantwortung übernehmen, Entscheidungen für sich und andere fällen, sich ordentlich verhalten und für die Nachbarn einkaufen gehen. Die Schwachen müssen – eigentlich nichts. Außer sich an die Regeln zu halten.
Das alles ist gut gemeint. Natürlich verfügen manche Menschen über mentale, materielle, körperliche, intellektuelle, emotionale, empathische und andere Kapazitäten anders, stärker, direkter als andere; und natürlich ist es sinnvoll, diese Kapazitäten dort einzusetzen, wo sie gebraucht werden. Eine ganze Gesellschaft ist darauf angewiesen, und eine ganze Gesellschaft ist dankbar dafür.
Aber sind das die „Starken“, die die „Schwachen“ schützen wie die Supermänner und (manchmal) -Frauen im Film?
Die Reduktion der Komplexität ist ein gutes Mittel, um sich in einer unübersichtlichen und beängstigenden Krisensituation zurecht zu finden, Ordnung zu schaffen und den eigenen Ort in diesem oft chaotischen Kontext zu finden. Genauso kann man die Titelseite der ZEIT verstehen, und man kann verstehen, warum sie gerade so und nicht anders formuliert ist.
Dennoch wird sie dadurch nicht richtig. Und möglicherweise sogar gefährlich.
Denn was für eine Gesellschaft imaginieren wir hier? Es ist eine Gesellschaft, in der die 90jährige Dame mit schwerster demenzieller Erkrankung zum Symbolbild der „Schwachen“ wird, dem gegenüber all die „Starken“ stehen, die zu einem großen und groß geschriebenen „Wir“ zusammengefasst werden. Das ist problematisch. Zu viele Stärken und zu viele Schwächen werden übersehen, die gerade in einer Krise gesehen werden sollten:
Wer „körperlich“ gesund ist, mag trotzdem materiell oder mental Hilfe benötigen. Wer über Empathie oder Humor verfügt, kann wichtig sein, ohne zu den „Starken“ gehören zu müssen. Wer sogenannte „Vorerkrankungen“ hat, ist nicht automatisch ein Objekt gutmeinender Anderer.
Gerade jetzt gilt es, die Vielfältigkeit menschlicher Abhängigkeiten zu erkennen und zu benennen, die alle betreffen. Abhängigkeit ist nicht das Gegenteil, sondern ein wesentlicher Teil von Zusammengehörigkeit. Was eine Gesellschaft jetzt braucht, ist nicht die blanke Binarität von Starken und Schwachen. Alle brauchen Schutz und Unterstützung. Und alle können Hilfe geben – auch die Alten und die „Vorerkrankten“, und auch das wenige Monate alte Kind, das seinen Eltern zeigt, worauf es ankommt: gegenwärtig sein.
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