Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

„Wir retten möglicherweise Menschen, die sowieso bald sterben“

Eine Antwort an Boris Palmer

von der BedenkZeiten Redaktion

29.04.2020 · Boris Palmer, Oberbürgermeister der Stadt Tübingen, hat zusammen mit der Schriftstellerin Juli Zeh, dem Philosophen Julian Nida-Rümelin, dem Mediziner Alexander Kekulé, dem Volkswirt Christoph M. Schmidt und dem Ökonom Thomas Straubhaar am 24.04.2020 im Spiegel einen Beitrag veröffentlicht, in dem die Autor*innen für einen schnellen Ausweg aus dem Lockdown argumentieren, um die wirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen gegen Covid-19 abzumildern (Spiegel online: „Corona – raus aus dem lockdown so schnell wie möglich“).

In unmittelbarer Folge, aber mutmaßlich nicht für die Gruppe sprechend, sondern für sich selbst, gab Boris Palmer am 28.04.2020 ein Interview im Sat.1-Frühstücksfernsehen über eben jene schnellen Wege aus dem Lockdown. Ein zentraler Punkt von Palmers Argumentation war, dass ‚wir‘ – also Politik und Gesellschaft – Strategien finden müssen, die den aktuellen Risiken angemessen sind. In diesem Sinne sollten auf der einen Seite Maßnahmen für junge und vorerkrankungsfreie Menschen und auf der anderen Seite für ältere und von Vorerkrankungen betroffene Menschen mit höherem Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf durch Covid-19 getroffen werden. Diese Differenzierung ließe sich auf Statistiken zurückführen, da viele der Todesopfer über 80 Jahre alt seien. Ein Satz Palmers im Interview, der in diesem Rahmen für große Aufmerksamkeit sorgte, lautet: „Wir retten möglicherweise Menschen, die sowieso bald sterben.“

Das Kernproblem in Palmers Interview liegt nicht in den von ihm aufgebrachten alternativen Szenarien und Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie, die stark an die Logik der schwedischen Bemühungen zur Eindämmung von Covid-19 erinnern. Das Problem seiner Äußerung liegt in einer Entwertung von Lebenszeit, die den ethischen Kernprinzipien unserer Gesellschaft widerspricht. Leben, so sagt Palmers Argument, verliert an Wert, wenn es sich seinem Ende nähert. Ganz abgesehen davon, dass Vulnerabilität nur wenig mit Lebensalter zu tun hat, stellt sich die Frage, ob es in Ordnung ist, in Krisenzeiten nicht nur die Lebensjahre unterschiedlicher Personengruppen gegeneinander aufzurechnen, sondern mit einer Aussage wie der von Palmer sogar anzudeuten, die verbliebene Lebenszeit habe keinen Wert oder Sinn an sich. Denn ergibt sich der Wert des Lebens eines Menschen aus einer unantastbaren, unbezifferbaren Würde – also eben aus einer Berücksichtigung von Lebensjahren und Qualität und Inhalt dieser Jahre für den jeweiligen Menschen, so ist eine Hochrechnung von verbliebenen Lebensjahren sinnfrei und deplatziert – auch in Notsituationen wie einer Pandemie.

Ob diese Entwertung der Überzeugung von Boris Palmer entspricht, oder ob es ein Kalkül darstellt, um Medienreichweite zu erreichen oder schlicht eine rhetorische Nebenfolge seines Interviews ist, kann hier nicht beurteilt werden. Klar ist, dass Palmer mit seiner Gegenüberstellung der Alten und der arbeitenden Bevölkerung eine unterschiedliche Schutzwürdigkeit von Leben vertritt. Diese Argumentation findet sich derzeit auch in ultrarechten Kreisen zum Beispiel in den USA wieder. So bringt der Vizegouverneur von Texas Dan Patrick das Opfer der Alten für das Wohl der Jungen ins Spiel. Die Großeltern sollten sich opfern, damit die USA die Vereinigten Staaten von Amerika bleiben könnten.

Nun unterscheidet Boris Palmer vieles von Dan Patrick: Der Oberbürgermeister erkennt das Dilemma, in dem sich die Gesellschaften weltweit befinden. Seine Motivation für eine Veränderung der Maßnahmen ist nicht ein Nationalstolz oder die Rettung einer neoliberalen Gesellschaft. Palmer folgt viel mehr einer simplen utilitaristischen Grundhaltung. Sein Kalkül verfolgt das Ziel, Leid zu mindern und hat das Wohl der größeren Zahl im Blick. So fordert Herr Palmer in dem Fernsehinterview eine Lockerung der Maßnahmen für die Mehrheit der Gesellschaft, um die Wirtschaft und die damit verbunden Arbeitsplätze zu schützen. Diejenigen, die in der aktuellen Krise zu Minderheiten gemacht werden, müssen damit leben – oder nicht. Für sie gibt es dann spezifische Maßnahmen, die ihren Schutz gewährleisten sollen.

Der zentrale Irrtum, der in diesen Annahmen mitschwingt, liegt in der Sicht auf das Leben an sich. Hier werden nicht quantifizierbare Güter, sondern Rechte verhandelt. Die Folge daraus führt Prof. Weyma Lübbe im Verfassungsblog bereits am 16. März aus: „As every lawyer knows, the rights of individuals do not automatically give way just because they are pitted against the rights of several others. Rights work ‚non-aggregatively‘.“ Menschen haben ein Recht darauf, dass der Staat ihre Würde, und damit auch ihre Selbstbestimmung und in diesem Fall ihren Lebenswillen, schützt. Rechte sind nicht, wie Werte oder Güter, verrechenbar oder aufrechenbar.

Hier treffen ultrarechte Diskurse und Gedanken, wie sie von Herrn Palmer geäußert werden, zusammen. Die Errungenschaften der Anerkennung einer unantastbaren Würde des Menschen und die daraus entwickelten Rechte und Schutzfunktionen, insbesondere der Schwachen und Minderheiten, sollen durch Nutzenerwägungen relativiert und aufrechenbar werden. Gesundes und krankes Leben, alt und jung sollen hierarchisiert und letztlich das Minderwertige dem Höherwertigen geopfert werden.

Vermutlich möchte Boris Palmer dies nicht, was er bereits dadurch signalisierte, dass er am Dienstag gegenüber der dpa wieder zurückruderte: „Niemals würde ich älteren oder kranken Menschen das Recht zu leben absprechen“ (dpa, zitiert nach Stuttgarter Zeitung vom 28.04.2020). Nichtsdestotrotz begibt man sich durch die statistische Recheneinheit Menschenleben gegen Lebensjahre abzuwägen auf einen gefährlichen Weg. Diese Argumentation ist nicht mit Artikel 1 unseres Grundgesetzes „die Würde des Menschen ist unantastbar“ vereinbar, denn der zweite Satz von Artikel 1 lautet „sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Dieses Recht darf kein gewählter Repräsentant unseres Staates je verkennen.

Kurz-Link zum Zitieren: https://uni-tuebingen.de/de/177051