Wissenschaft in der Corona-Pandemie: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
von Dr. Uta Müller
09.06.2020 · Seit Wochen werden in allen Medien wissenschaftliche Expert*innen zu ihren Forschungen und Kenntnissen über das Corona-Virus befragt. Von ihnen wird auch erwartet, dass sie Einschätzungen geben, wie gehandelt werden soll – mit möglichst klaren Empfehlungen für politische Entscheidungen, aber auch für das Handeln von uns Bürger*innen. Mein Interesse in diesem Beitrag ist ein nicht vorrangig ethisches, sondern wissenschaftstheoretisches – ich betrachte die Rolle der Wissenschaft als Praxis, d.h. in Handlungs- und Entscheidungskontexten unserer Gesellschaft.
In der Woche vor Pfingsten ist ein Streit in den Medien ausgetragen worden, an dem gezeigt werden kann, wie manche Medien, aber auch Entscheidungsträger*innen und Bürger*innen, mit der Wissenschaft umgehen. Der Virologe Prof. Christian Drosten des Klinikums der Humboldt-Universität zu Berlin (Charité) hatte Ergebnisse einer empirischen Studie über die Infektiosität von Kindern vor dem eigentlichen langwierigen Peer-Review-Verfahren veröffentlicht. Die publizierte Preprint-Fassung von Studien erlaubt es Expert*innen verschiedener Disziplinen, mögliche Fehler der Methode, Datenermittlung und Interpretation zu entdecken und Studien damit zu verbessern. In seiner Analyse kommt Drosten zu dem Schluss, dass Kinder nicht weniger infektiös seien als Erwachsene. Es gab vielfältige Reaktionen auf die Studie, z.B. haben Statistiker*innen begründete Kritik geäußert. 1 Diese Kritik wiederum wurde von der BILD-Zeitung aufgegriffen und zum Anlass für eine unsachliche und polemische Kampagne gegen Christian Drosten genommen. Wobei es der BILD-Zeitung wohl nicht vorrangig um die Person Drosten geht, sondern um die aus der wissenschaftlichen Studie gezogenen Schlüsse, nämlich bei der Öffnung von Kitas und Schulen vorsichtig zu sein. Die Heftigkeit der Auseinandersetzung zeigt, welche Erwartungen an „die Wissenschaft“ von verschiedenen Seiten herangetragen werden. Im Folgenden soll genauer betrachtet werden, welche Rolle „die Wissenschaft“ in modernen Gesellschaften haben kann – und welche Hoffnungen sie (nicht) erfüllen kann.
Von den ersten Wochen an, in denen die Medien vom „neuartigen Corona-Virus“ sprachen, wurde deutlich, dass über dieses Virus, seine Ansteckungsgefahr, seine Gefährlichkeit für den menschlichen Organismus, die Gefahr einer globalen Pandemie, etc. nicht viel bekannt war. Selbst erfahrene Virolog*innen äußerten anfangs Vermutungen, die sich erst im Laufe der Zeit dank der Zunahme (wissenschaftlich bestätigter) Kenntnisse als falsch erwiesen. Die Erwartungen von Medien und Öffentlichkeit an „die Wissenschaft“ waren und sind aber gesicherte Erkenntnisse, die z.B. von Seiten der Politik als Grundlage und Rechtfertigung für Entscheidungen genommen werden. Die Wissenschaftler*innen versuchten, diesen Ansprüchen auf Gewissheit gerecht zu werden, auch wenn gerade zu Beginn der Pandemie, selbst unter Expert*innen, Ungewissheit und Unsicherheit herrschte.
Von den Medien zusammen mit den Wissenschaftler*innen selbst hätte also von Beginn an deutlicher vermittelt werden können, dass es über das Corona-Virus, seine Verbreitung und die Konsequenzen der Erkrankung noch wenige Kenntnisse gab und es zu erwarten war, dass die Forschung komplex und langwierig sein würde. Außerdem ist immer zu berücksichtigen, dass Wissenschaft nicht in Elfenbeintürmen und abgeschotteten Laboren stattfindet, sondern in Universitäten im Austausch mit Kolleg*innen, in staatlichen oder privaten Forschungseinrichtungen und -laboren. Die Forscher*innen verfolgen bestimmte wissenschaftliche Ziele, ihre Arbeit muss sich den unterschiedlichen Ausstattungen, finanziellen Rahmenbedingungen, personellen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Ansprüchen anpassen. Hierbei kann es Defizite in der Qualität der Forschung geben, können persönliche Ziele eine Rolle spielen oder Irrtümer auftreten. Die Wissenschaften sind also Teil unserer Gesellschaft.
Der grundsätzliche Anspruch, dass „die Wissenschaften“, namentlich die Naturwissenschaften, im Alleingang die meisten Probleme der Menschheit lösen können, wird heute nicht mehr ernsthaft vertreten.2 In der aktuellen Situation zeigt sich, dass naturwissenschaftliche Forschung alleine die Probleme der Pandemie nicht lösen kann: Mit Hilfe dieser Forschung können die Charakteristika des Corona-Virus, z.B. die molekulare Struktur, die Verwandtschaft mit anderen Viren und die Behandlung der Krankheitsfolgen aufgeklärt werden. Aber bereits dann, wenn es um die Ansteckungsgefahr geht, werden in der Forschung praktische – nicht-biomedizinische – Überlegungen relevant: Wie genau die Ansteckung mit dem Corona-Virus wissenschaftlich untersucht wird, wird nämlich auch davon bestimmt, dass es Ziel der Forschung ist, zukünftige Ansteckungen und damit die Verbreitung des Virus zu vermeiden. Gesellschaftliche, aber auch politische und wirtschaftliche Ziele und Vorgaben haben Einfluss auf wissenschaftliche Forschung. Die Ergebnisse der Forschungen haben wiederum Auswirkungen auf weitere Handlungsentscheidungen, sie werden in diesem Sinne von politischen Akteur*innen in einem gesellschaftlichen Kontext interpretiert. Es ist aber z.B. nicht Aufgabe der Wissenschaft zu fordern, welche Menschen vor der Viruskrankheit besonders geschützt werden sollen, sondern herauszufinden, wer besonders betroffen sein kann.
Neben der sachlichen Begrenztheit von wissenschaftlicher Forschung muss auch berücksichtigt werden, dass sie oft nicht in der Lage ist, Unsicherheit in komplexen Situationen zu verringern. Versuchen die Wissenschaften, ihre Ergebnisse gegenüber einer nicht-fachlichen Öffentlichkeit zu vermitteln, ergeben sich oft Fehler und Fehleinschätzungen3. Dabei ist das Kommunizieren einer unsicheren Datenlage in der Wissenschaft nicht problematisch –, selbst wenn damit den Erwartungen der Öffentlichkeit, dass „die Wissenschaft“ die „richtigen“ Antworten möglichst schnell zu geben hat, nicht immer entsprochen werden kann. Scheitern und Rückschläge gehören ebenfalls zur Praxis der Wissenschaften und zur Arbeit von Forscher*innen. In der gegenwärtigen Krise wurde, was etwa die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Corona-Viren betrifft, von Seiten wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen sehr offen kommuniziert, dass dieser Prozess, mit allen Entwicklungsstufen, Tests und Versuchen am Menschen im klinischen Bereich, lange dauern werde, und mit Rückschlägen zu rechnen sei.
Obwohl es „die Wissenschaft“ der absoluten Wahrheiten – getrennt von der irrtumsanfälligen Praxis menschlichen Alltagshandelns – nicht gibt, ist es der Anspruch der Wissenschaft, gesicherte Erkenntnisse zu liefern, d.h. begründetes Wissen. Über gute und überzeugende Begründung lässt sich selbstverständlich streiten, aber sowohl in den Natur- als auch in den Geisteswissenschaften haben sich über lange akademische Traditionen Standards wissenschaftlichen Arbeitens etabliert, die in der Regel geeignet sind, nicht gesicherte Ergebnisse und Publikationen als solche zu identifizieren und abzulehnen und gesicherte zu bestätigen. Aber klar ist auch – dies zeigt sich an der neuen, teilweise instabilen Situation in der Corona-Pandemie –, dass auch diese Standards immer wieder überprüft und von den verschiedenen Wissenschaftsbereichen kritisch hinterfragt werden müssen. Wünschenswert wäre die Zurückhaltung von Wissenschaftler*innen bei Gebieten, die nicht Teil ihrer Expertise sind. Virologen sollten sich mit Viren und nicht vorrangig mit anderen Aspekten der Pandemie, wie etwa der Öffnung von Kitas und Schulen, befassen. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen im gesellschaftlichen Kontext und durch politische Akteure interpretiert und verhandelt werden – politisch gebotene Handlungen ergeben sich selten direkt aus wissenschaftlichen Fakten.
Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/178797
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1 Mittlerweile wurde die Studie überarbeitet und die Preprint-Publikation aktualisiert: https://www.sciencemediacenter.de/alle-angebote/rapid-reaction/details/news/statistische-tests-in-zweiter-version-von-drosten-studie/
2 Anders als in früheren Jahrhunderten, vgl. etwa bei Francis Bacon, Magnalia Naturae. In Spedding, R. Ellis, & D. Heath (Eds.), The Works of Francis Bacon. Cambridge: Cambridge University Press: 2011. doi:10.1017/CBO9781139149563.011
3 „When science is used to suppress uncertainty – rather than to explore the sources of our ignorance – failures are likely.” (Saltelli, A. & Giampietro, M., The Fallacy of Evidence-Based Policy. In Benessia, A. et al. (eds.), Science on the Verge. Tempe/Washington: Consortium for Science, Policy & Outcomes, 2014, 31-69, hier S. 47.