Dr. Jörg Neuheiser
Arbeitsethos zwischen Diskurs und sozialer Praxis.
Einstellungen zur Arbeit in Deutschland vom Zeitalter des „bürgerlichen
Wertehimmels“ bis zum „Wertewandel“ der 1970er und 1980er Jahre
Seit über 30 Jahren werden Arbeitsethos, Leistungsbereitschaft und allgemein die Einstellungen der Deutschen zur Arbeit unter dem Stichwort „Wertewandel“ intensiv diskutiert. Der Öffentlichkeit wurde die Debatte 1975 durch Elisabeth Noelle-Neumanns provokante These vom „Werteverfall“ bekannt, mit der sie ausgehend von Umfragen einen dramatischen Niedergang bürgerlicher Werte und vor allem des deutschen Arbeitsethos in allen gesellschaftlichen Schichten beklagte. Wertideale, die rund 250 Jahre als gesellschaftliches Leitbild etabliert gewesen seien, hätten in kürzester Zeit ihre Bedeutung verloren und würden gerade von der Jugend zunehmend abgelehnt.
Gleichzeitig konstatierten sowohl die internationale als auch die deutsche Sozialwissenschaft ähnlich dramatische Wertveränderungen und legten umfangreiche Survey-Programme zur Untersuchung dieser „stillen Revolution“ auf. Heute präsentieren Soziologen bei allen Debatten um Ursachen und Verlaufslinien ein bemerkenswert einheitliches Bild des Wertewandels: Nach 1965 erlebte die Bundesrepublik (mit Einschränkungen auch die DDR) wie viele andere westliche Staaten einen Wertewandelsschub, der alte Werttraditionen radikal in Frage stellte und in kürzester Zeit jene neuen Einstellungen zur Arbeit schuf, mit denen die Deutschen den Herausforderungen der Arbeitswelt am Beginn des 21. Jahrhunderts begegnen.
Während zahlreiche historische Darstellungen die sozialwissenschaftliche Perspektive üblicherweise unkritisch übernehmen, irritiert bei genauerer Betrachtung schon das vereinfachend lineare Bild der Entwicklung vom bürgerlichen Arbeitsethos zu postmaterialistischen Selbstentfaltungswerten: Hatten nationalsozialistischer Arbeitskult oder die Stilisierung der Arbeit zum gesellschaftlichen Grundwert in der DDR keinen Einfluss auf ein jahrhundertelang unverändertes Arbeitsethos? Konnte sich das bürgerliche Arbeitsideal trotz aller Wandlungen der Arbeitswelt unbeschadet bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg als Leitvorstellung behaupten? Spielten konfessionelle und regionale Unterschiede ebenso keine Rolle wie soziale Gegensätze etwa zwischen Bürgern und Arbeitern, Eliten und Unterschichten? Und daran anschließend: In welcher Weise wurden Wertvorstellungen vermittelt, welche Mechanismen beeinflussten ihren Wandel? Welche Rückwirkungen hatten insbesondere zeitgenössische Wahrnehmungen in Gesellschaft und Sozialwissenschaft auf die eigentlichen Wandlungsprozesse? Lässt sich der allseits konstatierte Wertewandelsschub im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts tatsächlich erhärten und wenn ja, wie kann man ihn – jenseits von kursorischen Verweisen auf Wohlstandsgesellschaft, Wirtschaftswunder, Bildungsrevolution – erklären?
Schon durch ihre methodische Beschränkung auf die Umfragenforschung können Sozialwissenschaftler diese Fragen nicht beantworten. Soziologische Forschungsergebnisse zum Wertewandel und damit verbundene Beiträge zur Wertdebatte erscheinen zudem heute eher als Teil des Phänomens denn als verlässliche Wirklichkeitsbeschreibungen. Das Tübinger Projekt will daher soziologische Forschungsergebnisse und aktuelle Wertedebatten historisieren. Dabei schließt es an die Bürgertumsforschung und das Konstrukt des „bürgerlichen Arbeitsethos“ an. Mit Blick auf die Arbeitswelt des 20. Jahrhunderts und die Debatten um dieses Arbeitsideal untersucht das Projekt die Rolle des bürgerlichen Arbeitsethos über das „lange 19. Jahrhundert“ hinaus und bindet neuere Erkenntnisse aus der Arbeiterforschung und von Studien zur Geschichte der Arbeit ein.
Die leitende Frage nach Erosion oder Gestaltwandel des bürgerlichen Arbeitsethos im 20. Jahrhundert lässt sich empirisch in Debatten um grundlegende Aspekte der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit wie Arbeitslosigkeit, Arbeitszeit, die Verbindung von Arbeit und Freizeit oder die Einbindung der individuellen Arbeitsleistung in umfassende gesellschaftliche ‚Arbeitsentwürfe’ erfassen. Konzeptionell schließt das Projekt an das sozialphilosophische Werteverständnis von Hans Joas an, der Werte in einem dreiseitig wechselseitig kausalen Wirkungsgefüge mit sozialen Praktiken und Institutionen situiert. Ziel ist es, die Ebene der diskursiv verhandelten Werte mit den von Sozial- und Wirtschaftshistorikern recht gut untersuchten sozialen Praktiken und Institutionen in der Arbeitswelt zu korrelieren, um zu einer neuen Perspektive auf Wertewandelsprozesse im 20. Jahrhundert zu gelangen.