Theorietheorie
Die Geisteswissenschaften als Ort avancierter Theoriebildung –
Theorie als Ort avancierter Geisteswissenschaft
Eine Tagung am
Inter University Centre (IUC)
(Dubrovnik, Kroatien)
26. bis 29. März 2009
Veranstalter:
Dr. Mario Grizelj (LMU München)
Prof. Dr. Jochen Hörisch (Universität Mannheim)
Prof. Dr. Oliver Jahraus (LMU München)
PD Dr. Christian Kohlross (Hebrew University of Jerusalem)
Prof. Dr. Christoph Reinfandt (Universität Tübingen)
Theorie in Dubrovnik
Das Inter University Centre (IUC) in Dubrovnik war in den 1970er und 1980er Jahren ein Inbegriff für internationale Forschung jenseits ideologischer Barrieren zwischen Ost und West. Die besten Forscherinnen und Forscher aus aller Welt fanden am IUC einen idealen Ort für gemeinsames Denken und gemeinsames Arbeiten. In den Geisteswissenschaften hat insbesondere Hans Ulrich Gumbrecht mit seinen fünf legendären Tagungen in den 1980er Jahren für Aufsehen gesorgt und Maßstäbe gesetzt. Erinnert sei an die paradigmatische Tagung zu Materialitäten der Kommunikation (1987), deren Ergebnisse immer noch als geistes- und kulturwissenschaftliche Meilensteine gelten. 1991 ist das IUC im Krieg schwer beschädigt worden. Nach dem Wiederaufbau ist es seit dem Ende der 1990er wieder ein Ort internationaler Forschung und internationalen Austausches. Mit unserer Tagung wollen wir nicht nur ein aktuell akutes Thema (Theorie) diskutieren, sondern auch an diese große geisteswissenschaftliche Tradition des IUC anknüpfen und Dubrovnik wieder zu einem Zentrum geistes- und kulturwissenschaftlicher Spitzenforschung machen. Glücklicherweise ist es uns hierbei gelungen, neben vielen neuen auch viele der damaligen und immer noch führenden Wissenschaftler aus den 1980er Jahren für unsere Idee zu begeistern; so werden beispielsweise Aleida Assmann, Hans Ulrich Gumbrecht und Friedrich Kittler nach 20 Jahren wieder am IUC vortragen.
Das zu diskutierende Thema der Theorietheorie ist nicht nur als ein relevantes Beobachtungsobjekt interessant, sondern vor allem auch als Medium, um an diesem historischen Ort grundlegende Fragen geisteswissenschaftlichen Denkens zu stellen. Gerade in der Fortführung der erwähnten Tradition können die theoretischen Dispositionen der geisteswissenschaftlichen Disziplinen im Zuge von einerseits fortschreitender Theoretisierung und andererseits periodisch einsetzender Theoriefeindlichkeit besonders deutlich fokussiert werden. Auch ist zu fragen, wie die ‚Materialitäten der Kommunikation’ den Status der Geisteswissenschaften als Kultur- und/oder Medienwissenschaften bestimmt haben und bestimmen und ob und wie sich die permanente Revision geisteswissenschaftlicher Dispositionen theoretisch fassen lässt. Dem grundlegenden Charakter solcher Diskussionslage entsprechend sollen an dieser Debatte die verschiedenen Disziplinen beteiligt sein: Literatur-/Kultur-/Medienwissenschaften, Philosophie, Kunstgeschichte, Soziologie.
Die Frage nach dem theoretischen Status von (Geistes-)Wissenschaft hat im Zuge neuer Entwicklungen wissenschaftlicher Exzellenz deutlich an Aktualität gewonnen und das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaft auf eine völlig neue Grundlage gestellt. Dabei wird sichtbar, dass die Geschichte der Geisteswissenschaften geradezu paradigmatisch von der Oszillationsbewegung zwischen Theoriekonjunktur und Theorieabgesang geprägt ist. Entscheidend ist hier, dass beide Bewegungen ihrerseits theoriebedingt sind. Auch das Ende der Theorie wird von der Theorie eingeholt, da das Ende der Theorie ja selbst theoretischen Prämissen folgt. Konzeptionell lässt sich formulieren, dass sowohl Konjunktur als auch Abgesang, aber auch Theorieindifferenz und selbst noch der Widerstand gegen die Theorie (P. de Man) theoretische Positionen markieren.
Auf intensive Theoriedebatten folgt ein Widerstand gegen die Theorie, der wiederum intensiv theoretisch reflektiert wird. Theorie konstituiert sich solchermaßen per definitionem als Einheit und als Differenz der Unterscheidung Theorie/Ende der Theorie − und die Geisteswissenschaften waren und sind der privilegierte Reflexionsraum, der diese Differenz von Einheit und Differenz aushalten und avanciert pflegen kann. Theorien, die genau dies beobachten, die genau diese Differenz fokussieren und somit beobachten, wie Theorien funktionieren, die beschreiben wollen, wie Theorien funktionieren, lassen sich als Theorietheorie (J. Clam) bezeichnen. Theorietheorie betreiben, heißt also über das Theoretische von Theorie zu schreiben, heißt, darüber zu schreiben, wie man selbst über Theorien schreibt, die über Theorien schreiben.
Einerseits sind die Geisteswissenschaften der bevorzugte Ort von Theorietheorie, andererseits aber werden im Zuge der kultur- und medienwissenschaftlichen Erweiterung und Transgression der Geisteswissenschaften theorietheoretische Überlegungen in den Hintergrund gerückt. In aktuellen kultur- und medienwissenschaftlichen Arbeiten steht nicht mehr die Reflexion mithilfe von Theorie und über Theorie im Mittelpunkt, sondern konkrete Praktiken der Konstruktion von Wissen und der kulturelle Einsatz verschiedenster Medienkonkretisationen. Schrift-, Bild-, Visualisierungs- und Körperstrategien sowie ihre technisch-technologischen Dispositionen und Manifestationen werden ebenso fokussiert wie neuerdings affektive und emotionale Formate und Formationen von Wahrnehmung, Wissen und Macht. Dabei finden sich nahezu alle geistes- und sozialwissenschaftlichen und mittlerweile auch naturwissenschaftlichen Disziplinen (wie Biopoetik, Evolutionsgeschichte oder Neuroscience der Ästhetik und der Kultur) im Einsatz.
Solche innovativen, kreativen und anschlussfähigen Perspektiven werden für Theorie und Theorietheorie dort interessant, wo sie die theoretischen Prämissen ihres Argumentierens nicht reflektieren und ihre theoretische Syntax im Dunkeln belassen. Eine Theorietheorie muss genau hier einsetzen und die verschiedenen uneingestandenen epistemologischen, wissenstheoretischen, methodisch-methodologischen und historischen Parameter kultur- und medienwissenschaftlicher Forschung reflexiv einholen. So ließe sich diskutieren, ob und wie(so) den Geisteswissenschaften der Geist ausgetrieben werden soll (F. Kittler) und welche wissenschaftstheoretischen und -politischen Konsequenzen sich daraus ergeben. Solchermaßen könnte Theorietheorie dazu dienen, en passant eingesetzte Begriffe und Konzepte, die aufgrund ihres reflexiven Defizits und ihrer expliziten Fokussierung auf konkrete kulturelle und mediale Praktiken zu apodiktischen Konstruktionen zu verkrusten drohen (z. B. Körper), auf ihre nicht negierbaren konzeptionellen und theoretischen Implikationen zurückführen.
Eine so gestaltete Theorietheorie ist kein verschiedene Disziplinen und verschiedene theoretische Schulen verbindender oder gar vereinheitlichender Master- und Metadiskurs, sondern ganz im Gegenteil das Instrument der Beobachtung und mithin ein Medium, um die Differenzen der Disziplinen und Theorien schärfer fokussieren zu können. Theorietheorie besitzt nirgends eine Selbstidentität, sondern etabliert sich in der Differenz der sie jeweils anders konstituierenden Disziplinen, Paradigmen und Theorien und ist solchermaßen paradigmatisch inter- und transdisziplinär. Und Theorietheorie muss dabei auch für ihre eigenen uneingestandenen Formbildungseffekte sensibel sein.
Beobachtet man wie die Disziplinen und Theorien ihren Objektbereich konstituieren, indem man mithilfe von Theorien beobachtet, die beschreiben wollen, wie Theorien funktionieren, kommen die verschiedensten Unterscheidungskonstellationen in den Blick. Geistes-, Medien-, und Kulturwissenschaften, Zeichen-, Medien-, Kultur- und Systemtheorie(n), Kultur- und Medienanthropologie, Phänomenologie, Hermeneutik, Strukturalismus, Dekonstruktion (Poststrukturalismus), Konstruktivismus, Gender Theory, Postcolonial Theory, usw. konturieren sich wechselseitig in der differenten und divergenten Konstitution vergleichbarer Objektbereiche. Befragt man diese Objektkonstitutionen auf ihre theoretische Syntax, werden die Differenzen als spezifische Figurationen sichtbar. Beobachtet man die Geisteswissenschaften im Hinblick auf vergleichbare Objektbereiche als Philologie, als Kultur- oder als Medienwissenschaft, lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede als nebeneinander, ineinander, übereinander verschlungene Konstellationen, als Schwellen, Stufen, Klippen, als Schnittstellen, Relais, Widersprüche, Antagonismen, Transformationen, Transgressionen, Diskontinuitäten, Verfremdungen, Anleihen, Kopien u. ä. m. beobachten. Die Tagung möchte eine interdisziplinäre Plattform dafür liefern, über solche komplexen Konstellationen produktiv und kontrovers diskutieren zu können.
Erinnert man die Geisteswissenschaften an ihr Paradigma der Theorietheorie, werden der kultur- und medienwissenschaftlichen Forschungspraxis jegliche Selbstverständlichkeiten genommen. Holt man die Kultur- und Medienwissenschaften aus ihrem (selbst)reflexiven blinden Fleck ans Licht der reflexiven Theorietheorie, werden ihre versteckten und uneingestandenen Implikationen sichtbar. Hierbei mag das IUC aufgrund seiner signifikanten Signatur – Forschung, Austausch, Internationalität, Diskussion, Krieg und Frieden – als der Ort dienen, der im besonderen Maße zur Hinterfragung von Selbstverständlichkeiten einlädt.
Programm
Donnerstag, 26. März 2009
9.00 ERÖFFNUNG
Oliver Jahraus
WOZU THEORIETHEORIE? I
9.15 – 9.45 Oliver Jahraus (München)
"Was heißt und zu welchem Ende studiert man TheorieTheorie?“
9.45 – 10.15 Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford)
"What did – and what should – we mean by ‘Theory’?"
10.15 – 10.45 Diskussion
10.45 – 11.15
Kaffeepause
11.15 – 11.45 Simone Winko / Tom Kindt (Göttingen)
"Wissenschaftstheorie – Metatheorie – TheorieTheorie“
11.45 – 12.15
Christoph Reinfandt (Tübingen)
"Objektivität, Kontingenz und Theorie in historischer Perspektive“
12.15 – 12.45 Beat Wyss (Karlsruhe)
"Das Paradox vom ’blinden Fleck’“
12.45 – 13.30 Diskussion
13.30 – 15.30
Mittagspause
DEKONSTRUKTION ALS PARADIGMA
15.30 – 16.00 Uwe Wirth (Gießen)
"Gepfropfte Theorie: eine ’greffologische’ Kritik des Hybriditätskonzepts als Beschreibung von intermedialen und interkulturellen Beziehungen“
16.00 – 16.30 Bettine Menke (Erfurt)
"Lesen Lesen"
16.30 – 17.00 Diskussion
20.00
Gemeinsames Abendessen
Freitag, 27. März 2009
Systemtheorie als Paradigma
9.00 – 9.30 Remigius Bunia (Berlin)
"Epistemische Fundamente der Geisteswissenschaften. Differenztheorie und die Formalisierung nicht formalen Denkens"
9.30 – 10.00 Niels Werber (Bochum)
"Ameisengesellschaft: Zur Genealogie der Systemtheorie"
10.00 – 10.30 Diskussion
10.30 - 11.00
Kaffeepause
11.00 – 11.30 Mario Grizelj (München)
"(Fehl)Lektüren der Kybernetik"
11.30 – 12.00 Elena Esposito (Modena und Reggio Emilia)
"Die Logik der Autologie in der Systemtheorie"
12.00 – 12.30 Diskussion
12.30 – 13.30
Mittagssnack im IUC
Heidegger als Paradigma
13.30 – 14.00 Thomas Khurana (Potsdam)
"»Ein Seiendes, dem es um sein Sein selbst geht«: Vulgär- und Fundamentalontologie nach Heidegger, Brandom und Luhmann"
14.00 – 14.30 Rodolphe Gasché (Buffalo/NY)
"Nur-hinsehen oder hütendes Schauen: Zu Heideggers ’lebensweltlicher’ Begründung der Theorie"
14.30 – 15.00 Friedrich Kittler (Berlin)
"Heideggers Seinsgeschichte"
15.00 – 15.45 Diskussion
Samstag, 28. März 2009
Kritik als Paradigma
9.00 – 09.30 Aleida Assmann (Konstanz)
"Theorien als implizite Wertsysteme"
09.30 – 10.00 Georg Stanitzek (Siegen)
"Über den Gebrauchswert von Ideologiekritik"
10.00 – 10.30 Jan Assmann (Konstanz)
"Transkulturelle Theorien - am Beispiel von Jaspers’ Achsenzeit-Konzept"
10.30 – 11.15 Diskussion
11.15 – 11.45
Kaffeepause
TheorieTheorie und Kultur(Wissenschaft)
emotional culture, cognitive culture
11.45 – 12.15 Bernd Scheffer (München)
"Wissenschaft und Emotionen"
12.15 – 12.45 Dirk Baecker (Friedrichshafen)
"Kulturkultur"
12.45 – 13.15 Diskussion
13.15 – 14.15
Gemeinsamer Mittagsimbiss
performative culture, iconic culture, material culture
14.15 – 14.45 Anna Babka (Wien)
"Judith Butlers und Homi Bhabhas widerständige Performativität. Eine Erkundung in Theorie"
14.45 – 15.15 Sybille Krämer (Berlin)
"Windungen und Wendungen geisteswissenschaftlicher Debatten: Ein Kommentar zu den Grenzen des ’performative turn’ und ’iconic turn’"
15.15 – 15.45 Natalie Binczek (Siegen)
"Medienmaterialität als Theorieproblem"
15.45 – 16.30 Diskussion
20.00
Gemeinsames Abendessen
Sonnntag, 29. März 2009
TheorieTheorie und Literatur(Wissenschaft)
9.00 – 09.30 Jochen Hörisch (Mannheim)
"Die Geister der Geisteswissenschaften – Wieviel Theorie braucht und verträgt die Literatur?"
09.30 – 10.00 Klaus-Michael Bogdal (Bielefeld)
"Anleitung zum Erlernen des Ungenauen"
10.00 – 10.30 Diskussion
10.30 - 11.00
Kaffeepause
11.00 -11.30 Vladimir Biti (Wien)
"Theorie und Weltbürgerlichkeit"
11.30 – 12.00 Claus-Michael Ort (Kiel)
"Das ’Wissen’ der Literatur und die Grenzen ihrer Selbst-Beobachtung"
12.00 – 12.30 Diskussion
12.30 – 14.30
Mittagspause
Wozu TheorieTheorie? II
14.30 – 15.00 Christian Kohlross (Jerusalem)
"Theorie und Poesie"
15.00 – 15.30 Karl Ludwig Pfeiffer (Siegen)
"TheorieTheorie und die Paradoxie der Tatsächlichkeit"
15.30 – 16.00 Diskussion
16.00 - 16.30
Kaffeepause
16.30 – 17.00 Christoph Bode (München)
"TheorieTheorie als Praxis. Überlegungen zur Figur der Unhintergehbarkeit"
17.00 – 17.30 Peter Fuchs (Neubrandenburg)
"Die theoretische Beobachtung von Theorie – Anmerkungen zu einem Unausdrückbarkeitsproblem"
17.30 – 18.00 Diskussion