Eine Theologie der Nachbarschaft - von der bosnischen Erfahrung lernen
Professor Dr. Enes Karić aus Sarajevo referiert an der Universität Tübingen
Von Selva Yildirim, Redoine Baghdadi und Serkan Ince
Gleich zu Beginn des laufenden Wintersemesters war im Rahmen der Ringvorlesung „Islamic Theology between Continuity and Change“ Prof. Dr. Enes Karić eine Woche zu Gast am ZITH. Prof. Karić hält den Lehrstuhl für Koranwissenschaft der Universität Sarajevo und ist ehemaliger Minister für Erziehung, Wissenschaft, Kultur und Sport von Bosnien und Herzegowina. In seinem wissenschaftlichen Wirken setzt sich der bosnische Islamwissenschaftler vor allem mit hermeneutischen Fragestellungen und Herausforderungen bei der Übersetzung des Korans in die bosnische Sprache auseinander. Neben seiner akademischen Tätigkeit ist Prof. Karić ein mittlerweile nicht nur in seiner eigenen Heimat höchst erfolgreicher Romanautor (z.B. "Die schwarze Tulpe", 2009). Weiterhin setzt sich Karić für einen europäisch geprägten Islam ein und sieht die Erfahrung und Prägung der Muslime auf dem Balkan als potentielles Vorbild für muslimische Minderheiten in den anderen europäischen Ländern.
Im Rahmen seines Aufenthaltes in Tübingen in der Woche vom 21. bis 25. Oktober gab Prof. Karić im Laufe der Woche ein Blockseminar mit dem Titel “New Trends in Qur’anic Exegesis: Bosnian Readings of the Qur’an from 1878 until the Present Day”. Weiterhin ging es im Rahmen seines öffentlichen Vortrags “Islamic Theology and the Challenges of the Modern World: The Bosnian Example” am Donnerstag, 24.10., um die Rolle der bosnischen Erfahrung mit dem Thema "Islam im Westen".
Zunächst gab Prof. Karić einen Überblick über die Geschichte des Islams auf dem Balkan bzw. in Bosnien. Hier ging er vor allem der Frage nach, auf welche Weise sich der Islam in der Region verbreitet hat und ob diese Verbreitung plötzlich geschah oder ein allmählicher und langwieriger Prozess war. Hierzu stellte er fest, dass unter Historikern diesbezüglich drei Ansichten existieren. Die erste Meinung wird, laut Karić, vorrangig von serbischen Historikern vertreten. Diese geht von einer gewaltsamen und entsprechend raschen "Islamisierung" des Balkans seitens der osmanischen Eroberer ab dem Jahr 1463 n. Chr. aus. Die zweite Meinung wird von großen Teilen der muslimischen Historiker des Balkans vertreten und geht zwar ebenfalls von einer raschen, jedoch friedlichen und "freiwilligen" Annahme der neuen Religion aus. Die dritte Gruppe, hierzu zählt sich auch Prof. Karić selbst, beschreibt eine allmähliche Verbreitung des Islams in der Region, welche sich ohne jegliche Zwänge seitens der Osmanen allmählich herauskristallisierte. Als Beleg für seine These weist Karić auf die lange parallele Existenz von sowohl muslimischen als auch nicht-muslimischen Grabdenkmälern (stećaks) einerseits hin und auf die sehr gut erhaltenen osmanischen Steuerregister, die "defters", gut dokumentierte Namenslisten der steuerpflichtigen Bewohner des Balkans. Auch hieran sei sehr gut festzustellen, dass sich muslimische (Vor-) Namen erst allmählich einstellten und daher davon auszugehen sei, dass es sich bei der Verbreitung der islamischen Religion um einen längeren Prozess gehandelt haben muss. Die Ergebnisse von Karićs Untersuchung gehen von einem Zeitraum der islamischen Verbreitung im Balkan aus, welcher von 1463 bis ca. 1604 n. Chr. andauerte.
Für die Verbreitung des Islams auf dem Balkan und insbesondere in bosnischen Gebieten waren die Madrasas (auch "Medresen") und vor allem aber die Schulen der Sufis von entscheidender Bedeutung. Im Gegensatz zu anderen Teilen der muslimischen Welt (wie beispielsweise das muslimischen Spanien) jedoch, gibt es einen signifikanten strukturellen Unterschied in der Ausbreitung des Islams: Waren die Sufis in anderen islamischen Gebieten hauptsächlich in den urbanen Zentren aktiv, hatten sich im Gegensatz dazu die islamischen Mystiker auf dem Balkan vielmehr in ländliche Gebiete eingebracht. Hierbei spricht Prof. Karić von einem "practical approach", also einem praxis-orientierten, esoterischen Zugang der Mystiker zur Landbevölkerung. Eine weitere bosnische Besonderheit in diesem Zusammenhang stellt die Verbreitung sogenannter "Heiliger Kultstätten" aus vorislamischer Zeit dar, welche auch im Islam und noch heute für religiöse Versammlungen und Massengebete (dovas) besucht werden. Hierzu gab Prof. Karić einen detaillierten und durch Bildmaterial gut illustrierten Überblick.
Einen weiteren Aspekt, den Prof. Karić in seiner Vorlesung behandelte, war die Phase zwischen den Jahren 1878 und 1918. Hier kam es zu einer Eroberung der bosnischen Gebiete durch das Habsburgische Reich, bei dem der osmanische Einfluss weitgehend zurückgedrängt wurde. Eine der ersten Reaktionen vieler Muslime in Bosnien war der Wunsch, das nun nicht mehr unter muslimischer Führung stehende Land zu verlassen und auf diese Weise die eigene Religiosität zu schützen. Hier galten die Begriffsdefinitionen des Daru´l Islam ("Gebiet des Islams") und des Daru´l Harb ("Gebiet des Krieges") als besonders ausschlaggebend, da sich unter den Muslimen in Bosnien zwei unterschiedliche Ansichten hieraus ergaben: Während ein Teil der "Hojas", also der Islamgelehrten, im 19. Jahrhundert fatwas erließen, die eine hijra für verpflichtend erklärten, haben andere Gelehrte sich insbesondere aus Ägypten fatwas zukommen lassen (u.a. von dem berühmten ägyptischen Reformer Raschid Rida), die besagten, dass die Bedeutung der Begriffe Daru´l Islam und Daru´l Harb ihre ursprünglichen, substanziellen Bedeutungen verloren hatten und eine Hijra aus den von den Habsburgern gehaltenen Gebiete nicht notwendig sei, zumal die Muslime an der Ausübung ihrer Religion weder gehindert noch aufgehalten wurden und Österreich-Ungarn sogar noch am Aufbau neuer Medresen und Moscheen beteiligt war. Dennoch waren in dieser Phase etwa 150.000 Muslime aus dem Balkan geflüchtet und sind vor allem nach Ägypten, in den Nahen Osten und in den Maghreb umgesiedelt.
Bosnien-Herzegowina war im Zeitraum der österreich-ungarischen Herrschaft ein als "säkular" einzustufendes Land. Schon damals hat Bosnien-Herzegowina Erfahrungen gesammelt, wie man in einer säkularen Gesellschaft mit islamischen Traditionen leben kann. Das könne, so Karić, auch ein Modell für die Etablierung des Islams in Europa sein. Zudem sei der Balkan und insbesondere Bosnien seit jeher ein Gebiet gewesen, in dem unterschiedliche Religionen friedlich koexistiert haben. (v.a. der Islam, die serbisch-orthodoxe Kirche und die römisch-katholische Kirche). Daher ermahnt der Islamwissenschaftler Prof. Enes Karić seine Glaubensbrüder in Deutschland, aus der bosnischen Erfahrung zu lernen und die Möglichkeiten der de facto gegebenen Religionsfreiheit in der Bundesrepublik zu nutzen, aber auch die Gesetze des Landes zu respektieren und an politischen Prozessen zu partizipieren. Vor allem im Rahmen seines öffentlichen Vortrags im Hörsaal des Theologicums am 24. Oktober hob Prof. Karić die Bedeutung hervor, die dem bosnischen Konzept der "Theology of Neighbourhood" – einer "Theologie der guten Nachbarschaft" – zukommen sollte. Bosnien als ein Land inmitten von Europa mit einer langen Tradition des Nebeneinanders der Religionen sollte auch heute und insbesondere in den zentralen Ländern der EU bei den hiesigen Muslimen eine hohe Leuchtkraft haben. Karić hebt die Funktion der Nachbarschaft, also des Nebeneinanders, aber auch des Miteinanders zwischen unterschiedlichen Gruppen als ein "Geben und Nehmen" hervor, das in der Lage ist, eine friedliche und geistig fruchtbare Umgebung zu schaffen. Diese wiederum, so Karić, könne unter gewissen Umständen sogar in der Lage sein, insgesamt eine spirituelle Ausgeglichenheit ("Spiritual Tranquility") in der Gesellschaft herbeizuführen.