Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Refigurierte Ethik. Moralische Aushandlungen im Umgang mit Gewaltbildern

by Ekkehard Coenen

12.06.2025

Die Welt wandelt sich kontinuierlich – und mit ihr unsere moralischen Maßstäbe. Was einst als Tabu galt, wurde weitgehend aus der Öffentlichkeit verbannt. Hingegen sind heute in der digitalen Welt die entsprechenden Inhalte – seien sie weiterhin tabuisiert oder mittlerweile enttabuisiert – oft nur einen Klick entfernt. Gewaltvideos kursieren in den sozialen Netzwerken, Bilder aus Kriegsgebieten werden millionenfach geteilt, und während einige sie als notwendige Dokumente der Realität betrachten, konsumieren andere sie mit voyeuristischer Faszination. Die Berichterstattung über den Ukraine-Krieg zeigt, dass sich mit zunehmender Dauer des Konflikts eine Abstumpfung in der öffentlichen Wahrnehmung einstellt. Gewalt wird zur medialen Alltäglichkeit, während soziale Netzwerke sowohl als Plattformen für Informationen als auch für Propaganda fungieren. Diese Dynamiken führen dazu, dass Gewaltbilder, d.h. (audio-)visuelle Aufnahmen von als real verhandelten Gewalthandlungen, mittlerweile in hoher Zahl zirkulieren, ihnen unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen zukommen und sich ihre Betrachtung wandelt. Doch was bedeutet das alles für unsere ethischen Maßstäbe?

Der Umgang mit Gewaltbildern ist historisch und kulturell bedingt. Während in vormodernen Gesellschaften öffentliche Hinrichtungen Teil der Machtdemonstration waren (Foucault 1976), etablierte sich in der Moderne eine zunehmende Tabuisierung und Regulierung der Darstellung von Gewalt. Auf Grundlage universalistischer moralischer Prinzipien bestimmten Kirche, Staat und Massenmedien, was als moralisch akzeptabel galt. Der Glaube an Rationalität und Fortschritt ging damit einher, dass die Moderne weitgehend mit Gewaltlosigkeit gleichgesetzt wurde (Reemtsma 2008) – wodurch auch Aufnahmen realer Gewalttaten aus der Gesellschaft ausgeschlossen oder zumindest nicht in ihr akzeptiert wurden.

Doch mittlerweile werden feststehende Wertemaßstäbe angezweifelt. Der israelisch-palästinensische Konflikt illustriert, wie sich der Zugang zu verstörenden Bildern verändert hat. Zwar folgen klassische Massenmedien ethischen Richtlinien, die eine explizite Darstellung von Gewalt oft vermeiden. Insbesondere die Achtung der Menschenwürde wird hier als Argument ins Feld geführt, um der Verbreitung erniedrigender Inhalte entgegenzuwirken. Demgegenüber gibt es in einigen, aber bei weitem nicht allen sozialen Netzwerken zwar Bemühungen, entsprechende Inhalte z.B. durch Content Moderation und User Guidelines auszuschließen. Dennoch strömen Aufnahmen von Gewalthandlungen weniger gefiltert und bisweilen auch in Echtzeit auf die Plattformen. Der Umgang mit Gewaltfotos und -videos folgt nicht mehr klaren Regeln, sondern unterliegt einer Ambiguität und Vieldeutigkeit. Heute gibt es keine zentrale Instanz mehr, die moralische Grenzen klar definiert. Im Zeitalter von TikTok, YouTube und Telegram ist Moral nicht mehr von oben verordnet, sondern wird in Netzwerken ausgehandelt. Gesetzestexte – etwa §131 StGB zur Gewaltdarstellung – stellen zwar die Verbreitung von Inhalten, welche grausame Gewalttätigkeiten schildern, unter Strafe. Doch bestimmen sie nicht automatisch, was innerhalb digitaler Öffentlichkeiten als moralisch akzeptabel gilt. Zwischen juristischer Norm und moralischer Praxis klaffen zunehmend Lücken, die durch plattformspezifische Nutzungskulturen gefüllt werden (vgl. Dellwing/Tietz/Vreca 2021: 89ff.).

Diese Entwicklung offenbart eine zentrale ethische Spannung: Während die Moderne zunächst auf klare Regeln und institutionelle Kontrolle setzt, erleben wir in der digitalen Welt der Postmoderne eine Fragmentierung der moralischen Ordnung. Die einzelnen Nutzer*innen sind zunehmend mit der Entscheidung konfrontiert, ob sie sich Gewaltbilder ansehen und diese verbreiten sollen – ohne dass es eine zentrale Instanz gibt, die moralische Maßstäbe vorgibt oder reguliert.

Diese Entgrenzung kann ambivalente Folgen haben: Einerseits treten zunehmend Handlungen in Erscheinung, in denen Gewaltfotos und -videos als Mittel einer kritischen Sichtbarmachung eingesetzt werden; etwa um marginalisierte Perspektiven auf Gewalt zu dokumentieren, auf strukturelle Ungerechtigkeit hinzuweisen oder verdrängte Wirklichkeiten in den öffentlichen Raum zu überführen. In solchen Fällen fungieren Gewaltbilder als Interventionen, durch die vormals zensierte oder tabuisierte Moralvorstellungen artikulierbar werden (siehe z.B. Meis 2021). Andererseits lassen sich dort, wo reflexive Bezugnahmen ausbleiben, vermehrt Handlungen beobachten, in denen Gewaltbilder affektorientiert verbreitet, entkontextualisiert konsumiert oder zur Provokation instrumentalisiert werden. Die Exposition von Gewalttaten gerät dabei zur entgrenzten Zeigegeste – jenseits einer ethischen Rahmung und oftmals losgelöst von einem konkreten Adressierungszusammenhang.

Zygmunt Bauman (2009) beschreibt diesen Wandel als eine Verschiebung von einer modernen zu einer postmodernen Ethik. Während die Moderne universelle moralische Prinzipien und klare gesellschaftliche Regeln hervorbrachte, ist die Postmoderne durch Unsicherheit, Ambivalenz und Pluralität geprägt. Dass hierbei durchaus divergierende Moralvorstellungen aufeinandertreffen, zeigt z.B. die sogenannte „TikTok-Intifada“, bei der antisemitische und gewaltverherrlichende Inhalte massenhaft verbreitet wurden. Da die Algorithmen sozialer Medien Inhalte in den Vordergrund rücken, die starke emotionale Reaktionen hervorrufen, wurden im Zuge des Israel-Gaza-Krieges Fotos und Videos extremer Gewalt schneller verbreitet. Menschen sahen sich einer Bilderflut ausgesetzt, die sie einerseits als hochgradig problematisch empfanden und andererseits durch ihr Nutzungsverhalten auf dem Videoportal beförderten. Dies legt ein Spannungsfeld zwischen individueller Meinungsfreiheit und ethischer Verantwortung offen: Sollten Plattformen regulierend eingreifen oder den Nutzer*innen die Entscheidung überlassen, welche Inhalte sie konsumieren?

Bauman argumentiert, dass die postmoderne Ethik von Unsicherheit geprägt ist. Diese Unsicherheit resultiert aus der Erosion epistemischer und moralischer Autoritäten, wodurch traditionelle Instanzen normativer Orientierung an Bindungskraft verlieren. Die Einzelnen sind gezwungen, in einem Umfeld zu handeln, in dem es keine festen moralischen Leitlinien mehr gibt. Dabei geht es weniger um eine differenzierte Auseinandersetzung mit Begründungen als vielmehr um die Dominanz eines Vulgärpluralismus, der unter dem Gebot der Meinungsfreiheit eine beliebige Gleichwertigkeit moralischer Positionen suggeriert. Es entsteht eine paradoxe Situation: Während in der Moderne die ethische Verantwortung häufig an Institutionen delegiert wurde, steht der Mensch nun vor der Herausforderung, moralische Entscheidungen autonom zu treffen – ohne dabei auf gesamtgesellschaftlich akzeptierte Regeln zurückgreifen zu können. Dies kann einerseits als ein demokratischer Aufbruch, andererseits aber auch als eine Handlungsbelastung des Individuums gewertet werden.

Der moderne Umgang mit Gewaltbildern wurde nicht einfach von einem postmodernen abgelöst. Letzterer hat sich erst allmählich im 21. Jahrhundert herausgebildet und die bis dato bestehende moralische Ordnung überlagert. Solche Übergänge lassen sich mit Verweis auf Norbert Elias (1970) als Prozesse sozialer Figurationen verstehen, in denen sich bestehende Macht-, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster verschieben, ohne vollständig abgelöst zu werden. Die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher moralischer Orientierungen ist somit Symptom einer „Refiguration der Moderne“ (Knoblauch/Löw 2020): Die Moderne wird nicht einfach durch eine neue Gesellschaftsform ersetzt, sondern in unterschiedlichen sozialen Räumen, Medienformen und Handlungskontexten unterschiedlich aktualisiert. Das führt zu einer Pluralisierung von Ordnungsmustern, in denen sowohl modern-normative als auch postmodern-fragmentierte Deutungen nebeneinander existieren. In diesem Spannungsfeld entsteht eine refigurierte Ethik – eine Ethik, die sich nicht mehr aus einem einheitlichen moralischen und durchaus mit Machtrelationen verbundenen Zentrum speist, sondern aus der Überlagerung, Konkurrenz und situativen Aushandlung verschiedener moralischer Geltungsordnungen hervorgeht. So gelten etwa in journalistischen Kontexten, in staatlichen Institutionen oder in Gerichtssälen – gerade, weil sie pluralistisch ausgehandelt wurden – andere ethische Maßstäbe für den Umgang mit Gewaltbildern als in sozialen Netzwerken, Chatgruppen oder auf algorithmisch gesteuerten Plattformen wie TikTok oder Telegram. Die refigurierte Ethik verweist somit auf ein moralisches Gefüge, das sich dynamisch zwischen lokalen Praktiken, medialen Infrastrukturen und globalen Normkonflikten bewegt.

Dabei führt die Koexistenz moderner und postmoderner Ethiken zu unauflöslichen Spannungen und entsprechenden Fragestellungen: Sollten Plattformen Gewaltvideos konsequent löschen oder sie im Sinne der Meinungsfreiheit zulassen? Ist es Aufgabe des Staates, den Zugang zu solchen Inhalten zu regulieren, oder liegt die Verantwortung bei den Nutzer*innen? Sollte es ein generelles Verbot von Gewaltvideos geben, oder darf deren Verbreitung unter bestimmten Umständen – etwa zur Aufklärung von Kriegsverbrechen – erlaubt sein? Wer entscheidet, ob ein Gewaltvideo ,authentisch‘ und zudem moralisch gerechtfertigt ist – können wir uns auf objektive Kriterien verlassen, oder müssen wir subjektive Perspektiven anerkennen? Und brauchen wir eine einheitliche moralische Haltung zum Umgang mit Gewaltvideos – oder dürfen unterschiedliche ethische Bewertungen gleichberechtigt nebeneinander existieren?

Diese Fragen werden in der gegenwärtigen Gesellschaft sehr unterschiedlich beantwortet. Die Moral des Betrachtens von Gewaltbildern und -videos ist kontextabhängig: Im Rahmen von Gerichtsprozessen und polizeilichen Ermittlungen erfolgen hier andere Bewertungen als im Journalismus, in der Wissenschaft oder auf Schockseiten im Internet. Bemühungen, Gewaltinhalte zu kontrollieren, wird mitunter durch subversives Handeln entgegengewirkt. So werden Plattformen absichtlich umgangen, etwa im Fall des sogenannten „Minion Gore“. Seit Beginn des Jahres 2025 nutzen einige Personen KI-gestützte Videotools, um Aufnahmen von realen Morden so zu bearbeiten, dass sie wie Szenen aus den animierten „Minions“-Filmen wirken. Diese manipulierten Inhalte erzielen tausende Aufrufe, bevor sie entdeckt und entfernt werden. Zudem stehen auch Algorithmen und Plattform-Politiken moralischen Entscheidungen entgegen. Im Februar 2025 führte ein Fehler im Algorithmus von Instagram dazu, dass Nutzer*innen in ihren Feeds vermehrt gewalttätige und verstörende Inhalte sahen, darunter Videos von Tötungen und Tiermisshandlungen.

Die refigurierte Ethik stellt uns vor eine Herausforderung: Wir müssen Verantwortung übernehmen, obwohl es keine festen Regeln mehr gibt. Gewaltvideos können zugleich schockieren und aufklären. Plattformen stehen im Spannungsfeld zwischen Meinungsfreiheit und Regulierung. Diese Ambivalenz ist Ausdruck einer Welt, in der moralische Entscheidungen nicht mehr durch Institutionen vorgegeben werden, sondern von jeder/jedem Einzelnen getroffen werden müssen. 

Da Gewaltbilder nicht aus der Welt verschwinden, sondern in ihrer Zahl sogar zunehmen, kommt es darauf an, wie wir mit ihnen umgehen. Gefragt ist eine Ethik, die situativ, kontextsensibel und selbstkritisch bleibt. Dabei müssen wir lernen, zwischen widersprüchlichen moralischen Erwartungen zu navigieren und mit diesen Widersprüchen zu leben. Die Herausforderung besteht darin, dass Menschen inmitten digitaler Bilderfluten eine Haltung entwickeln, durch die sie Verantwortung übernehmen, ohne vorschnell zu verurteilen oder zu relativieren.


Autor: Ekkehard Coenen
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