Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN)

17.08.2013

Nachruf auf Dezsö Varjú: von K. P. Hadeler

Am vergangenen Samstag, 17.08.2013, verstarb nach längerer Krankheit Professor Dezsö Varjú, ehemals Leiter der Abteilung Biokybernetik der Universität Tübingen, in seiner Wohnung auf Waldhäuser-Ost.

Dezsö Varjú wurde 1932 in Gasztony/Ungarn an der Grenze zum Burgenland geboren. Nach Schulbesuch in Szombathely schloss er das Physikstudium an der Universität Budapest 1956 mit dem Diplom ab. Während des ungarischen Aufstands wurde er verhaftet und flüchtete nach Deutschland.

Durch "zufällige und glückliche Umstände" (Varjú) geriet er an das berühmte Institut für Physikalische Chemie in Göttingen. Er fand bald, dass die Biologie, hier die Systemanalyse biologischer Reiz-Reaktions-Beziehungen, interessanter war als die bisherige Experimentalphysik. Schon 1958 wurde er mit einer Arbeit über Phototropismus und Licht-gesteuertes Wachstum des Algenpilzes Phycomyces in Physik promoviert. Er folgte Werner Reichardt (nach dem jetzt in Tübingen das CIN benannt ist) an die Abteilung 'Kybernetik' des Max-Planck-Instituts für Biologie in Tübingen, 1959/60 arbeitete er über Phycomyces am California Institute of Technology bei Max Delbrück. Auch Delbrück hatte als Physiker in Berlin begonnen, war in die USA emigriert und später zur Biologie gekommen.

Varjú erhielt einen Ruf nach Köln und 1968 einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Zoologie (später 'Biokybernetik') in Tübingen.

Seit 1967 war er deutscher Staatsbürger. Im Jahre 1962 heirateten Dezsö Varjú und Heide Agner, eine Enkelin von Wilhelm Singer, der 1910 bis 1946 als Stadtpfleger für die Finanzen der Stadt Tübingen verantwortlich war. Im vorigen Jahr konnten die Eheleute die goldene Hochzeit feiern.

Der neue Zoologe entfaltete eine rege Tätigkeit. Sein Ziel war die Aufklärung der Sinneswahrnehmung und der Verhaltensreaktionen von Organismen und deren Beschreibung durch mathematische und computergestützte Modelle. Sein Lehrbuch der Systemtheorie für Biologen erschien 1977. Die 'etablierten' Labortiere waren Stubenfliege und Mehlkäfer, aber Varjú war fasziniert von der Vielfalt der wirbellosen Tiere. Er erforschte das Sehen von Strandkrabben und Schnecken, den Flug des Taubenschwänzchens, die Kreisbahnen der Taumelkäfer, den Beutefang von Wasserläufern, die erkennen, ob eine Schwingung der Wasseroberfläche von einer zappelnden Fliege herrührt.

Varjú hat Generationen von Tübinger Studenten in sein Forschungsgebiet Biokybernetik zwischen den Neurowissenschaften und der Verhaltensforschung eingeführt, bevor es den Begriff der Neuroethologie¸überhaupt gab. Einige seiner Schüler arbeiten erfolgreich weiter in diesem Gebiet. Er hatte besonders enge Bindungen nach Australien; dort verbrachte er einige Forschungsaufenthalte. Er war mehrfach Dekan der biologischen Fakultät.

Nach der Emeritierung 1997 hat Varjú seine Einsichten in einem sehr lesbaren  Buch allgemein zugänglich gemacht. In 'Mit den Ohren sehen und den Beinen hören' (mit Bezug auf Eulen und Heuschrecken) erklärt er, wie Wespen in Minuten den Erdbeerkuchen entdecken, und vieles andere zu Orientierung und Wanderungen von Tieren.

In den letzten Jahren galt sein Interesse der Frage, wie Tiere (z.B. Bienen, Krebse, Fische, Kaulquappen, Vögel) die Polarisation des Sonnenlichts zur Orientierung nutzen. Die Monographie 'Polarized Light and Animal Vision' mit Gábor Horváth aus Budapest erschien 2003.

Ein Zentrum im Leben von Dezsö und Heide Varjú war ihr Gütle in Kiebingen, wo sie so gern Gastgeber für Freunde und Verwandte waren. Varjús Engagement für Andere spiegelt sich wider in der Stiftung eines Preises für wissenschaftlich begabte Schüler seines Heimatlandes.

Dezsö Varjú wird in Erinnerung bleiben durch seine Arbeiten zum Bewegungssehen der Tiere und zu den Grundlagen der Biokybernetik.

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