Ethik in TV-Serien
von Simon Meisch
21.02.2023 · TV-Serien sind zu Erzählformaten geworden, die die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen anstoßen und prägen. Dabei entwickeln sie sich zu Reflexionsräumen über die Gesellschaften, in denen wir (nicht) leben wollen. Allerdings bilden Serien moralische Sachverhalte nicht nur ab, sondern gestalten sie und steuern damit auch das Nachdenken über sie. Ethische Fragen stellen sich also sowohl zur Darstellung moralischer Sachverhalte wie auch zu deren ästhetischer Gestaltung.
Für die anwendungsorientierte Ethik sind TV-Serien aus mindestens drei Gründen interessant: (1) Serien werden in spezifischen Handlungskontexten produziert, vertrieben und konsumiert; diese können sowohl in individual- wie auch sozialethischer Hinsicht Nachfragen aufwerfen. (2) Moralische Konflikte sind Gegenstand von ästhetisch gestalteten Serienwelten; dabei kann die narrative Ausgestaltung dieser Konflikte eine Tendenz zu ethisch eindeutigen Interpretationen zeigen. (3) Die Rezeption von Serien kann ästhetische Erfahrungen ermöglichen und so zu ethischer (Selbst-) Reflexion anregen. Diese drei Hinsichten schließen sich nicht wechselseitig aus und werden sich entsprechend in unterschiedlicher Deutlichkeit in ethischen Reflexionen finden.
(1) Serien werden produziert, vertrieben und konsumiert, d.h. sie sind mit den Handlungen von Menschen in Institutionen verbunden. Eine darauf bezogene ethische Reflexion beschäftigt sich mit Fragen der gelebten Moral und der zugrundliegenden Handlungsbegründungen. Was die Produktion von Serien betrifft, können zwei Entwicklungen beispielhaft herausgegriffen werden: die zunehmende Auseinandersetzung von Serienmacher*innen mit den Umweltauswirkungen der Produktionen sowie mit der Schaffung eines respektvollen und sicheren Umfelds bei intimen Filmszenen. Dabei handelt es sich um zwei Felder, in denen sich der Unterhaltungssektor selbst um Regelwerke bemüht, die moralisch fragwürdiges Verhalten unterbinden. Die Ethik wiederum kann sich nicht allein darauf beschränken, solche Entwicklungen normativ zu rekonstruieren, sondern sie wird es auch als ihre Aufgabe betrachten, zugrundeliegende Geltungsansprüche kritisch zu prüfen.
Mit Blick auf den Konsum stellen sich ebenfalls ethische Fragen. Ein häufig zitiertes Beispiel ist der hohe Energieverbrauch durch das Streaming von Serien und die Suche nach nachhaltigeren Alternativen. Daneben werden die unmittelbaren Wirkungen des Serienkonsums auf die Zuschauer*innen problematisiert, etwa im Hinblick auf die Auswirkungen des Serienschauens auf das Leben der Zuschauer*innen (von den aufgebrachten zeitlichen und emotionalen Ressourcen bis hin zum ›Binge Watching‹). Schließlich gibt es Diskussionen um erwünschte erzieherische Effekte von Serien, wenn etwa Geschichten so erzählt werden, dass moralisch begrüßenswerte Handlungen oder Rollenmodelle sichtbar gemacht und ›vorgelebt‹ werden, sei es mit Blick auf umweltfreundliches Verhalten (›Green Storytelling‹) oder Geschlechterbeziehungen.
(2) TV-Serien entfalten narrativ moralische und ethische Sachverhalte, und in diesem Sinne sind das Moralische oder das Ethische Themen von Erzählungen. Damit können Ethiker*innen rekonstruieren, wie ein moralischer Fall narrativ entwickelt wird, warum Personen so (und nicht anders) handeln oder welche Zusammenhänge ihr Handeln bedingen. Jedoch bilden TV-Serien Wirklichkeit nicht einfach nur ab, sondern sie gestalten sie narrativ mit, und damit auch die moralischen Zusammenhänge. Serien zeigen unterschiedliche Ausschnitte von Wirklichkeit bzw. entwerfen Modelle der Wirklichkeit und sie tun dies in unterschiedlichen Hinsichten gut. Ethiker*innen haben entsprechend zu untersuchen, wie die narrative Konstruktion moralischer Konflikte die nachfolgende ethische Diskussion auf bestimmte Aspekte hin steuert und damit andere aus dem Blick verliert.
Vor diesem Hintergrund spielt sich eine Ethik, die sich mit TV-Serien befasst, zwischen zwei Polen ab. Gemäß der Unterscheidung von Haker ist eine solche Ethik eine kontextuelle Ethik, denn sie »bezieht ihre ethischen Analysen auf konkrete Personen, Handlungen sowie Wert- und Normensysteme und zeigt diese in ihrer ›Verstrickung in Geschichten‹« (Haker 2010: 6). Zum anderen handelt es sich um eine kritische Ethik, denn sie ist »kritisch gegenüber der vorgefundenen Moral bzw. den Moralen (den sozialen Werten, ihren Wahrheitsansprüchen) genauso wie gegenüber den Erzählungen selbst« (ebd.). [1]
(3) Die dritte oben eingeführte Perspektive befasst sich mit der ethischen Relevanz ästhetischer Erfahrung für die Reflexion lebensweltlicher Zusammenhänge der Zuschauer*innen. Was damit gemeint ist, lässt sich zunächst ex negativo beschreiben, etwa am Beispiel des ›Green Storytellings‹. Denn mit dieser Form des Erzählens ist die Erwartung verbunden, dass entsprechende Geschichten durch das Zeigen von Vorbildern unmittelbar zu tugendhaftem Leben anleiten können. Jedoch wird eine solche ins Erbauliche gehende Form des Erzählens sowohl in der Ethik wie auch in der Literaturwissenschaft skeptisch bewertet. Diese Skepsis bezieht sich auf das Können und Sollen von Narrationen, denn einerseits gilt es als zweifelhaft, ob Erzählungen überhaupt in der Lage sind, realweltliches Handeln so unmittelbar zu beeinflussen. Andererseits wird mit Verweis auf die Autonomie von Kunst problematisiert, ob Erzählungen derart funktionalisiert werden dürfen. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass es Serien-Macher*innen gibt, die eine derartig kurzgeschlossene Wirkabsicht vertreten.
Eine für die Ethik produktivere Zugangsweise beschäftigt sich mit ästhetischen Erfahrungen. Zuschauer*innen stoßen in TV-Serien auf ästhetisch gestaltete Kontexte, die ihren Held*innen Handlungsalternativen erlauben oder verwehren. Zugleich bringen Zuschauer*innen ein (ihnen nicht immer völlig bewusstes) Wissen darüber mit, welches Handeln in welchen Kontexten angemessen oder unangemessen ist – und das selbst dann, wenn solche Kontexte ihren Lebenswirklichkeiten völlig fremd sind, etwa weil sie in der Vergangenheit, auf anderen Planeten oder in Phantasiewelten liegen. Über dieses Wissen können die Zuschauer*innen das Handeln einer Person verstehend nachvollziehen, weil sie es nach den Regeln eines Genres als angemessen wahrnehmen. Dies ist selbst dann der Fall, wenn eine solche Handlung in ihrer eigenen Welt nicht nur unangemessen, sondern moralisch verwerflich wäre. Aus ethischer Perspektive können Handlungen, Situationen, Erlebnisse und Konflikte auch in solchen ungewöhnlichen Settings reflektiert werden. Unter Umständen ergeben sich dadurch neue Einsichten und ein erweitertes Problembewusstsein. [2,3]
Insofern TV-Serien im Leben vieler Menschen eine große Rolle spielen und als Kulturphänomene die gesellschaftliche Auseinandersetzung um moralische Fragen beeinflussen, ergibt sich für die anwendungsorientierte Ethik ein weites Handlungsfeld in Forschung und Lehre. Am IZEW beschäftigt sich das Projekt »Ethik in Serie« mit genau diesen ethischen Fragen zu TV-Serien. Bisher sind hierzu zwei Sammelbände erschienen. Im Sommersemester 2023 findet zum Thema eine Ringvorlesung im Studium Generale der Universität Tübingen statt.
Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/245275
Ringvorlesung im Studium Generale der Universität Tübingen
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[1] Haker, Hille: Narrative Ethik. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 2010, 2, 74–83.
[2] Berendes, Jochen: Literatur und Moral, Literaturwissenschaft und Ethik. In: Ethisch-Philosophisches Grundlagenstudium 2. Ein Projektbuch, hg. v. Maring, Matthias. Münster 2005, 69–83.
[3] Düwell, Marcus: Ästhetische Erfahrung und Moral. In: Erzählen und Moral: Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik, hg. v. Mieth, Dietmar (unter Mitarbeit von Dominik Pfaff). Tübingen 2000, S. 11-35.