Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Wenn „zu Hause bleiben“ gefährlicher ist als das Virus – häusliche Gewalt

von Laura Schelenz

06.04.2020 · „Bleibt zu Hause“ lautet die Aufforderung der Bundesregierung mit Empfehlung und eindringlicher Bitte von vielen Gesundheitsexpert*innen, Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen. Weltweit wenden sich Menschen, die an vorderster Stelle gegen das Virus kämpfen, mittels sozialer Medien an die Bevölkerung. So riefen beispielsweise die Intensivstationen der Berliner Charité unter dem Hashtag #BleibtzuHause die Menschen dazu auf, sich zur Unterstützung des überlasteten Personals selbst zu schützen. „Wir bleiben für Euch hier, bleibt Ihr bitte daheim,“ steht auf den Schildern, welche die Pfleger*innen in die Kamera halten. Auch das Personal des New York Presbytarian Krankenhauses richtete sich per Twitter unter den Hashtags #WeStayHereForYou #PleaseStayHomeForUs an die New Yorker Bevölkerung. In Kenia teilt das Gesundheitsministerium unter dem Hashtag #KomeshaCorona das Video einer Krankenpflegerin, welche die Bevölkerung ermutigt, zu Hause zu bleiben.

Doch während die Forderung „Bleibt zu Hause“ sinnvoll zur Eindämmung der rasanten Ausbreitung des Virus erscheint, gibt es Bedenken, dass das zu Hause bleiben für manche Menschen ebenso eine Gefahr darstellen kann. Die Aufforderungen nach dem Zuhause-Bleiben, „restez chez vous“ oder „shelter in place“ setzt voraus, dass es ein solches „Zuhause“ überhaupt gibt. Und sie setzt voraus, dass, wenn es dies gibt, dieses Zuhause auch ein Schutzraum ist – nicht nur vor Viren. Neben Obdachlosen, Menschen auf der Flucht oder Häftlingen stellt die „Bleibt zu Hause“-Politik auch Menschen in Missbrauchsbeziehungen vor große Herausforderungen.

Für Menschen in Beziehungen, die von Gewalt geprägt sind, kann zu Hause bleiben bedrohliche Nebenfolgen haben. Vor allem der akut aufkommende zusätzliche Stress miteinander in der Wohnung auszuharren und des damit einhergehenden konstanten Kontakts kann Konflikte provozieren, die in emotionaler oder körperlicher Gewalt enden. Auch wenn Menschen wegen einer völlig neuen und bedrohlichen Pandemie-Situation verunsichert sind, wenn finanzielle Sorgen, Zukunftsängste und die Überforderung durch konstante Kinderbetreuung hinzukommen, kann dies alles in Aggression und Gewalt umschlagen. Kann man das Haus öfter verlassen, reduziert dies mitunter die Wahrscheinlichkeit und Häufigkeit, Gewalt in der Beziehung und Familie zu erfahren.

Auch können Gewalttaten anderen Menschen eher auffallen, wenn man regelmäßig Freund*innen, Bekannte, Kolleg*innen oder Lehrer*innen trifft. Die Psychologin Maggie Mulqueen rief in diesem Sinne in der Nachrichtensendung PBS Newshour dazu auf, dass Bekannte sich auch während Ausgangssperren nicht nur sprechen, sondern auch sehen, wenn möglich per Videotelefonat. Dabei sollte man durchaus darauf drängen, die gewünschte Person im Video zu sehen. Besorgte Lehrer*innen könnten beispielsweise darum bitten, ihre Schüler*innen im Bild zu sehen, wenn sie Hausaufgaben verteilen. Ein blaues Auge fiele auch hier auf. Der Zustand des Kindes und der Wohnung gäbe Indizien, wie es um die Familie aktuell stünde.  

Besonders besorgniserregend ist, dass das Gebot der „Kontaktsperre“ kontrollsüchtigen Partner*innen die perfekte Vorlage bietet, die Partner*in im Haus zu halten. Hier wird dann die Empfehlung, man solle Bekannte und Freund*innen aufgrund einer möglichen Übertragung des Virus nicht treffen, durch die Täter*innen genutzt, um die eigentlichen Motive der Isolation der Partner*in zu verschleiern. Eine betroffene Frau berichtete beispielsweise, dass ihr Partner sie nicht aus dem Haus gehen lassen wollte, obwohl die Arbeitgeber*in versichert hatte, dass sie ohne Gefahr vor dem Virus zur Arbeit kommen könnte. Schwierig wird es vor allem dann, wenn man sich nicht sicher sein kann, welche Motivation hinter der Aufforderung der Partner*in, zu Hause zu bleiben, steckt. Nimmt die Person einfach die Empfehlungen der Regierung ernst oder möchte die Person zwanghaft verhindern, dass die Partner*in sich ihrer Kontrolle entzieht?

Für den deutschen Kontext hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vor Kurzem in einer Pressemitteilung auf die Relevanz der staatlichen Hilfsangebote per Telefon aufmerksam gemacht. Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ (08000-116 016) und die „Nummer gegen Kummer“ für Kinder und Jugendliche (116 111) bieten eine erste Anlaufstelle für Opfer häuslicher Gewalt. Solche Informationen sind wesentlich, um gefährdete Menschen in Quarantäne und Isolation zu erreichen. Häufig jedoch kann es Hilfesuchenden unmöglich sein, einen Anruf zu tätigen. Laut Katie Ray-Jones, Geschäftsführerin der „National Domestic Violence Hotline“ in den USA, kontrollieren Partner*innen häufig das Telefon und den Internetzugang ihrer Opfer.

Dies kann Opfern häuslicher Gewalt gerade jetzt in der Corona-Situation, in der persönliche Angebote eingeschränkt sind und auf telefonische und online-Alternativen umgestellt wird, Hilfe verunmöglichen. Ein Beispiel ist der Wunsch nach einer Abtreibung infolge einer Vergewaltigung. In Deutschland wurden kürzlich die Regeln zur Schwangerschaftskonfliktberatung während der Corona-Zeit gelockert. Somit ist es nun möglich, auch online oder telefonisch eine Beratung durchzuführen. Dies ist zwar grundsätzlich zu begrüßen, jedoch ist aus oben genannten Gründen fraglich, ob Opfer häuslicher Gewalt die Angebote telefonisch wahrnehmen können. In den USA wurden sogar in einzelnen Staaten Abtreibungen als nicht-essenzielle Eingriffe deklariert, sodass hier Kapazitäten für Infizierte mit dem Corona-Virus frei gemacht werden können. Dies kann verheerende Folgen für Opfer von Vergewaltigungen haben, z.B. eine verstärkte Abhängigkeit von dem gewalttätigen Partner.

Aufgrund der Corona-Situation müssen Opfer von häuslicher Gewalt mit weiteren Einschränkungen zurechtkommen. Bei körperlicher Gewalt kann es aktuell schwierig sein, sich an Ärzt*innen und Notaufnahmen in Krankenhäuser zu wenden. Sie sind einerseits überlastet und es kann andererseits eine größere Zurückhaltung geben, sie aufzusuchen. Frauenhäuser sind zwar weiterhin geöffnet und Frauen in Not können sich an die Einrichtungen wenden, wenn sie Zuflucht suchen. Jedoch erschwert sich auch die Arbeit der Mitarbeiter*innen, welche die Einrichtungen betreuen. Sie sind ebenfalls von der Schließung von Kindergärten und Schulen betroffen, sodass sich ihre Kapazitäten unter Umständen durch die zusätzliche Kinderbetreuung verringern.  

Es scheint also für Menschen, die emotionale und körperliche Gewalt im häuslichen Bereich erleben, aufgrund der Corona-Ausnahmesituation zunehmend schwierig zu sein, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Eine weitreichendere Strategie zur Eindämmung zunehmender Gewalt in Beziehungen und Familien muss daher dringend für die derzeitige „Bleibt zu Hause“-Politik entwickelt werden. Obwohl diese Maßnahmen sehr zu begrüßen sind, reicht es nicht, digitale Lösungen oder Hilfstelefone im Sinne der Notrufnummern bereitzustellen. In Situationen, in denen sich Menschen bedroht fühlen, ist es essenziell, Öffentlichkeit herzustellen und den physischen Kontakt zu anderen Menschen zu ermöglichen. Hier braucht es also Konzepte zur Herstellung von Öffentlichkeit, die im Einklang mit einer allgemeinen Politik zur Eindämmung des Virus stehen.

Eine Möglichkeit wäre es, das Verantwortungsgefühl füreinander in der Nachbarschaft zu stärken. Denn es ist wirksam, wenn Nachbar*innen aufmerksam sind und Anzeichen von häuslicher Gewalt nachgehen. Bei den Nachbarn zu klingeln, mit einem Vorwand oder um „in Corona-Zeiten“ Hilfe beim Einkauf anzubieten, kann ein Gefühl von Öffentlichkeit erzeugen. Kommunen können weiterhin an öffentlichen Orten, die trotz Corona-Situation zugänglich sein müssen, Expert*innen zum Thema „häusliche Gewalt“ platzieren und Aufklärung oder Hilfsangebote machen. Dies könnten Orte sein, an denen auf das Corona-Virus getestet wird, z.B. Drive-Ins, oder Orte der öffentlichen Versorgung wie Supermärkte und Apotheken. Denkbar wäre auch die Einführung von Codewörtern, mit denen sich Betroffene an Supermarktkassen und Apotheken an die Personen vor Ort wenden können. Frankreich hat eine Initiative hierfür ins Leben gerufen: dort können Frauen unter dem Codewort „Maske 19“ auf ihre Notlage aufmerksam machen. Den persönlichen Kontakt herzustellen, natürlich unter Einhaltung der notwendigen Sicherheitsvorkehrungen wie dem Abstand halten, ist wichtig, um Opfern das Gefühl zu geben, dass es eine Rettungsleine nach draußen gibt.

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