Dissertationsprojekt
Archäologische Praxis im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Deutsche Ausgrabungen im Osmanischen Reich zwischen 1870 und 1914
Das Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit der archäologischen Praxis deutscher Forscher im Osmanischen Reich und deren sozialgeschichtlichen Hintergründen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlebten dort groß angelegte Ausgrabungen, die meist von Europäern durchgeführt wurden, eine Blütezeit und waren Arbeitsstätte für mehrere hundert Personen. Das Projekt untersucht archäologische Praktiken unter anderem im Hinblick auf Einflüsse imperialer Netzwerke und Gedankenstrukturen, wobei möglichst alle Grabungsteilnehmer in den Blick genommen werden sollen.
Dass Wissenschaftler Forschung nicht unbeeinflusst von ihrem zeitlichen Kontext betreiben, ist längst bekannt. Diese Feststellung ist seit einiger Zeit auch in der deutschsprachigen Archäologie angekommen, wie die wachsende Anzahl an Publikationen zur Archäologiegeschichte und v. a. zum Wirken im Nationalsozialismus zeigt. In diesem Zusammenhang wurden in den letzten Jahren vermehrt archäologische Praktiken in den Blick genommen. Dies gilt allerdings überwiegend für die Ur- und Frühgeschichte und damit zumeist für nationalen Boden. Weit weniger klar und erforscht sind die archäologischen Praktiken, die sich im Dunstkreis imperialistischer und kolonialer Politik abspielten. Dazu gehörten maßgeblich die Unternehmungen, die (deutsche) Archäologen im Osmanischen Reich leiteten. Während sich bereits einige Arbeiten mit den Sammlungsinteressen europäischer Museen und ihren Verstrickungen in politische Angelegenheiten beschäftigen, wurde den sozialgeschichtlichen Hintergründen der Archäologie im Osmanischen Bereich bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Hinzu kommt das Problem, dass historische Quellen aus und über die Feldforschung in den Archiven der beteiligten Institutionen weitestgehend unaufgearbeitet sind.
Das Projekt startet mit den folgenden Fragen: Wieviel mehr war die deutsche Archäologie als ein Kind ihrer Zeit? Waren deutsche Archäologen unumstößlich Teil des kolonialen/imperialen Projekts? Lassen sich koloniale und imperiale Praktiken innerhalb der archäologischen Praxis feststellen und falls ja, welche Auswirkungen hatten diese auf die Wissenskonstruktion? Wie ging man mit (wissenschaftlichen) Irritationen und Zweifeln um? Inwiefern waren Einheimische in die archäologische Praxis mit einbezogen? Wie genau lief die Zusammenarbeit während der Grabungen und Expeditionen mit den Grabungsteilnehmern ab? Wie waren die Arbeitsbedingungen für Arbeiter (z. B. Lohn, Arbeitszeit, soziale Leistungen)? Welche kolonialen/imperialen Netzwerke nutzten die Archäologen oder waren ihnen von Nutzen? Welche dieser Netzwerke und Strukturen hatten Anteil an den Forschungen?
Anhand ausgewählter Fallbeispiele soll das Dissertationsprojekt einen Beitrag zur Klärung dieser Fragen leisten und eine bislang bestehende Lücke in der Wissenschaftsgeschichte des Kaiserreichs schließen. Dadurch eröffnen sich neue Blickwinkel auf die Geschichte der „großen Entdecker“ und Strukturen werden sichtbar, die auch heute noch die archäologische Praxis von Europäer*innen im Ausland beeinflussen.