AJR-Symposium 2025: Gender in japanischen Religionen
-- Abstracts --
Bernhard Scheid: "Sexualität und rituelle Souveränität: Die Transformationen der Ame no Uzume"
In meinem Vortrag ging es um die bekannte Geschichte von Ame no Uzume, einer Tänzerin aus der japanischen Mythologie, die die Sonnengottheit aus einer Höhle lockt, indem sie ihren Körper entblößt. Ich betonte dabei, dass diese Entblößung im ursprünglichen Mythos implizit positiv bewertet wird, da sie positive Ergebnisse zeitigt. Dann verglich ich die ursprüngliche Szene mit späteren Transformationen der Uzume in der bildenden Kunst, nämlich 1) die „hässliche“ Komödiantin des Kyōgen-Theaters, die in einer Maske namens Oto-Goze ihren Ausdruck findet; 2) die davon abgeleitete Glücksgöttin Otafuku/ Okame, die allenthalben mit Uzume identifiziert wird; und 3) die Gestalt der Uzume in Kagura-Tänzen, die sich an den beiden vorherigen Gestalten orientiert. Daraus entstand in der Edo-Zeit ein fixes Erscheinungsbild der Uzume als fröhlicher weiblicher Clown, wobei sexuelle Anziehung (wie ich sie aus dem Mythos herauslese) durch Humor substituiert wurde. Von Entblößung ist in diesem Fall nichts zu sehen, doch wird Uzume zumeist als Partnerin des langnasigen (phallischen) Gottes Sarutahiko dargestellt. Die Wiederentdeckung der Mythen durch die Kokugaku führte zwar zu einer Erinnerung an ihre Entblößung, die auch in späten ukiyo-e Darstellungen zum Ausdruck kommt. Doch zugleich floss das Bild der „hässlichen Frau“ aus dem Kyōgen in diese Darstellungen ein. Dieses Image scheint schließlich sowohl japanische als auch europäische Gelehrte veranlasst zu haben, den Namen „Uzu-me“ als „schreckliches Weib“ zu übersetzen, wofür allerdings jede mythologische Grundlage fehlt. Damit wurde die Gleichzeitigkeit von weiblicher Sexualität und ritueller Souveränität, die der ursprüngliche Mythos feiert, in den klassischen Mytheninterpretationen des 19. Jahrhunderts negiert oder zumindest marginalisiert.
Pia Jolliffe: "Komahime und ihre Eltern: Religion, Gefühle und Politik zwischen Yamagata und Kyōto im späten 16. Jahrhundert"
In meinem Referat habe ich den Entwurf eines Kapitels meines aktuellen Buchprojekts Himegimi: Girls, Buddhist communities and political defeat in Japan, 1595-1635 vorgestellt. In diesem Buch analysiere ich den politischen und gesellschaftlichen Übergang vom späten 16. zum 17. Jahrhundert anhand der Erfahrungen von Mädchen, jungen Frauen und den buddhistischen Gemeinden, in denen diese lebten und bis heute erinnert werden. Anhand des Fallbeispiels von Komahime (駒姫, 1579–1595) und ihren Eltern Mogami Yoshiaki (最上義光, 1546–1614) und Ōsaki-dono (大埼殿, ?–1595) habe ich gezeigt, wie sehr Religion, Politik und Emotionen im historiographischen Diskurs miteinander verwoben sind. Zunächst habe ich den historischen und politischen Hintergrund der japanischen „Reichseinigung“ unter Toyotomi Hideyoshi und die spezielle Situation der Provinz Dewa (heutiges Yamagata und Akita) unter Mogami Yoshiaki Ende des 16. Jahrhunderts erklärt. Dabei wurde klar, wie untrennbar religiöse Kontrolle für Yoshiaki mit politischer Kontrolle einherging. In diesem politischen Kontext und den dadurch entstandenen Machtbeziehungen zwischen Yamagata und Kyōto ist dann auch die Ehe von Komahime und Hideyoshis Neffen, Toyotomi Hidetsugu (豊臣秀次, 1568–1595), zu verstehen. Anhand verschiedener Quellen – wie zum Beispiel waka-Gedichten, gunki (軍記, Kriegsberichten), Porträts und Reliquien – habe ich gezeigt, wie sehr die Erinnerung an Komahimes gewaltsamen Tod im Zuge des Hidetsugu-Vorfalls von 1595 von buddhistischen Gemeinden in Kyōto und Yamagata getragen wird und wie dank dieser – oft emotionsgeladenen – Erinnerungsarbeit alternative Perspektiven auf die „Reichseinigung“ ermöglicht werden. In der Tat ermöglicht der Blick auf das Mädchen Komahime Zugang zu den Erfahrungen von Familien und Gemeinden, die zu den Verlierern des Reichseiningungsprozesses zählten und deren Erfahrungen im allgemeinen Diskurs zur Geschichte Japans bislang kaum oder nur marginalisierte Beachtung fanden.
Itō Yōko: "An diesem Ort liegt nichts im Dunkel: Inhalt und Kontext der Briefe der Nonne Eshin"
Dieser Vortrag widmete sich der Gestalt Eshinni (恵信尼 ca. 1182–1268?), der Ehefrau des Jōdo-Shinshū-Gründers Shinran (親鸞 1173–1262), und untersuchte ihre Briefe (Eshinni shōsoku 恵信尼消息) als Schlüsselquelle zur Rekonstruktion weiblicher Religiosität im Japan der Kamakura-Zeit. Lange Zeit galt Eshinni als randständige und vergessene Figur – erst die Entdeckung von zehn Briefen an ihre Tochter Kakushinni (覚信尼 1224–1283) im Jahr 1921 ermöglichte eine historisch fundierte Neubewertung ihrer Person.
Nachdem der philologische und religiös-historische Hintergrund untersucht wurde, der dazu führte, dass der Name Eshinni in der modernen Geschichte zunehmend aus dem Gedächtnis verschwand, fokussierte sich die vorliegende Arbeit auf drei zentrale Analyseachsen: (1) die soziale Stellung und Bildung Eshinnis als Tochter einer mittleren Adelsfamilie, (2) ihre geistige Beziehung zu Shinran sowie ihre Rolle bei der Weitergabe seiner Lehre, und (3) ihr persönlicher Jōdo-Glaube, der stark von alltäglichem Leid, dem Alter und dem Bewusstsein der Vergänglichkeit geprägt war.
Besonders hervorzuheben ist die wirtschaftliche und geistige Selbstständigkeit von mittelständischen Adelsfrauen im Japan des Mittelalters (z.B. yuzurijō 譲状, Übertragungsurkunden), die sich auch in Eshinnis religiöser Deutung von Shinran als Erscheinung des Bodhisattva Kannon manifestiert (Brief III) – eine Vorstellung, die seine spätere Vergöttlichung in der Jōdo-Shinshū-Theologie vorwegnimmt.
Die Analyse zeigte, dass Eshinni nicht bloß als fromme Gefährtin eines Religionsstifters zu verstehen ist, sondern als eigenständige historische Akteurin: als Gläubige, Grundbesitzerin, Mutter und Briefautorin. Indem sie am Ende ihres Lebens schreibt: "An diesem Ort liegt nichts im Dunkel (nanigotomo kurakarazu なにごとも くらからず)", bringt sie ihre Hoffnung auf das Reine Land als einen Ort der Erlösung und Gewissheit zum Ausdruck – ein Bild, das die weit verbreitete und einfache Vorstellung vom Reinen Land im Mittelalter widerspiegelt und bis in die Gegenwart weitergegeben wurde (Brief X). Der Vortrag erschloss, wie Eshinni aus der mythologischen Überlagerung der Moderne gelöst und ihre Stimme durch historisch-philologische Methoden im religiösen und gesellschaftlichen Kontext des 13. Jahrhunderts eingeordnet wurde.
Michael Kinadeter: "Frauen in den buddhistischen Genealogien Japans"
Die Zen-buddhistischen Schulen Japans, allen voran die Sōtō- und Rinzai-Denominationen, haben seit dem 13. Jh. eine Vielzahl und Vielfalt an genealogischen Diagrammen hervorgebracht. Diese Diagramme umfassen in der Regel mehrere Hundert bis mehrere Tausend Personen, und so stellt sich die Frage, wie in diesen Materialien mit Nonnen umgegangen wurde. Unter den rund 23.000 Personen von zwölf ausgewählten Genealogien aus dem Zeitraum von 1238–1925 konnte ich lediglich rund 50 Nonnen identifizieren. Auf Basis dieser ersten Auswertung lassen sich folgende, vorläufige Forschungsergebnisse festhalten: Nonnen werden i.d.R. zusammen mit den Mönchen gelistet, meistens explizit als Nonne (ama 尼 bzw. bikuni 比丘尼), seltener ohne besondere Kennzeichnung (und dann nicht ohne Weiteres als Frauen zu erkennen); Nonnen scheinen fast immer an der ‚letzten‘ Stelle gelistet zu werden (d.h. ganz links in den genealogischen Diagrammen); und es scheint keine Korrelation zwischen der Inklusion und Anzahl von Nonnen und dem Umfang der jeweiligen Genealogie zu bestehen. Bemerkenswert ist jedoch, dass unter den bislang identifizierten Nonnen mehrere Cluster bestehen, in direkter Nachfolge zu Keizan Jōkin 瑩山紹瑾 (1264–1325) oder einer der darauffolgenden Generationen, etwa unter Gasan Jōseki 峨山韶碩 (1275–1366). Ein möglicher Erklärungsansatz dafür ist die besondere Rolle von Keizans Mutter und seiner Großmutter, die mitunter dafür verantwortlich waren, dass er als Mönch aufgewachsen ist, und seine grundsätzliche Haltung zur Anerkennung von Nonnen.
In der zweiten Hälfte der Präsentation habe ich mich hauptsächlich auf die persönlichen Überlieferungsdokumente der Sōtō-Denomination konzentriert. In dieser Ausrichtung werden seit Manzan Dōhaku 卍山道白 (1635–1715) traditionell drei Dokumente als Set (sanmotsu 三物) überliefert: kechimyaku 血脈 als Nachweis zur Überlieferung der buddhistischen Gelübde, daiji 大事 als esoterisches Überlieferungsdokument und shisho 嗣書 als das zentrale Schriftstück, das die Überlieferung der buddhistischen Einsicht bzw. des Erwachens dokumentiert. Da diese Überlieferungsdokumente traditionell keine Frauen inkludieren, gibt es mehrere Initiativen aus dem 21. Jh. die sich explizit auf die Anerkennung der Rolle von Frauen als Teil der Überlieferungskette konzentrieren, darunter etwa das sog. Women Ancestors Document, dass die Soto Zen Buddhist Association 2010 eingeführt hat (siehe https://www.lionsroar.com/chanting-names-once-forgotten oder https://www.maryfowles.com/zen-women) oder die Abbildung von Julie A. Nelson, die verschiedene Personen, Orte und andere Faktoren berücksichtigt (https://julieanelson.com/2024/03/26/ancestry-without-lineage). In der Diskussion wurde schließlich der Punkt aufgegriffen, dass unter den 28 indischen Ahnen, die die Zen-Tradition traditionell anführt, möglicherweise auch Frauen sind, die bislang nicht als solche identifiziert wurden. Dies ist jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht gesichert und Bedarf weiterer Forschung. Vielen Dank an Mio Cibulka für die Eröffnung dieser Diskussion.
Doreen Thierfelder und Britta Stein: "Gender-spezifische Bestattungssitten in der Kofun Zeit – Krieger und Priesterinnen?"
Das Thema Gender ist in der Archäologie der Kofun-Zeit bisher nur unzureichend erforscht. Die jüngere Forschung hat sich bisher vor allem auf die militärische Ausrüstung als Indikator für das männliche Geschlecht konzentriert. Darüber hinaus werden Waffen und Rüstungen vor allem im Zusammenhang mit militärischer Organisation und Kriegsführung diskutiert. Dieser Ansatz übersieht jedoch die rituelle und repräsentative Bedeutung von Grabbeigaben, die dazu dienten, den sozialen Status und die komplexen, wechselseitigen Beziehungen zwischen der bestatteten Person und der Grabgemeinschaft auszudrücken.
Spiegel hingegen werden vor allem außerhalb Ostasiens mit Frauen und deren Kosmetikartikeln in Verbindung gebracht. Auf dem japanischen Archipel erfüllten Spiegel jedoch wichtige Funktionen als Prestige- und Ritualobjekte. Trotz der großen politischen und religiösen Bedeutung von Spiegeln in der gesamten Kofun-Zeit, stehen Untersuchungen zur gender-spezifischen Nutzung von Spiegeln bisher noch aus.
In diesem Vortrag werden bestehende Narrative, die einen Zusammenhang zwischen Grabbeigaben und Geschlecht in Bestattungen der Kofun-Zeit herstellen, erneut untersucht. Es wird argumentiert, dass der soziale und politische Rang sowie die Regionalität entscheidende Faktoren für die Interpretation dieses Materials sind. Die Verteilung von Waffen, Rüstungen und Spiegeln an lokale Eliten diente wahrscheinlich der Stärkung und Legitimierung der sozialen Stellung und politischen Macht der Elite in der zentralen Kinki-Region. Diese Geschenkdiplomatie wurde genutzt, um Bündnisse zu schließen und eine gemeinsame Identität mit den peripheren Regionen zu schaffen. Die Grabbeigaben hochrangiger Eliten waren somit keine geschlechtsspezifischen, sondern geschlechtsneutrale Objekte, die eine gemeinsame symbolische Kriegeridentität und einen sozialen Status repräsentierten. Angesichts der begrenzten archäologischen Beweise für gender-spezifische Beigabensitten auf dem japanischen Archipel während der gesamten Kofun-Zeit sollte die soziale, politische und apotropäische Rolle der Grabbeigaben in der kofun-zeitlichen Gesellschaft stärker in den Fokus der Forschung gerückt werden.
Julia Swoboda: "'Onna narade wa': Der weibliche Beitrag zum zeitgenössischen Shintō aus Sicht seiner Funktionsträgerinnen"
Der Vortrag stellt einen Bericht aus meiner Dissertation dar, wobei er sich auf die in der Öffentlichkeit stehende Position der Priesterin konzentriert: Eine stetig wachsende Gruppe zertifizierter Ritualspezialistinnen an Schreinen, die seit Kurzem mehr als zwanzig Prozent der Priesterschaft ausmacht. Genauer beschäftigt sich dieser Vortrag mit der Frage des Selbstverständnisses dieser Frauen in Bezug auf ihren Beitrag zum zeitgenössischen Schrein-Shinto, und inwieweit dieser Beitrag jeweils in einen gender-essentialistischen Rahmen gefasst wird, wie Mirsalis (2022) dies beschreibt.
Wenngleich Ausnahmen nicht verschwiegen werden dürfen, kann tatsächlich festgestellt werden, dass viele Priesterinnen die „natürlichen“ Qualitäten von Frauen wie kommunikative Fähigkeiten hervorheben als besonders qualifizierend für die Anforderungen des modernen Priestertums – sowohl im Dienst an den kami, als auch den Menschen. Hier wird besonders die Praxis von Empathie (yorisoi 寄り添い) im weltlichen wie im rituellen Teilbereich genannt, in Verbindung mit der spezifischen Lebenserfahrung, die sie erst ermöglicht: So sei echte Empathie für Trauernde nur auf Basis einer vergleichbaren Verlusterfahrung möglich. Gleichzeitig konnten die früheren Erkenntnisse von Nelson (1996, 1997) zum Stellenwert der rituellen Seite des Priestertums (nakatorimochi ナカトリモチ) relativiert werden: Die Daten meiner Studie legen nahe, dass der Dienst an den kami, die Verbindung (go-en ご縁) mit ihnen sowie die Agency, die aus den rituellen Aufgaben abgeleitet wird, tatsächlich einen wichtigen Teil des Selbstverständnisses weiblicher Priester ausmacht, und nicht rein der Erhaltung des sakralen Images dieser vielschichtigen und häufig mit weltlichen Angelegenheiten befassten Position dient. So finden sich in den Diskursen der Priesterinnen zu ihrer Arbeit neben einer Mischung von Konzepten frauenspezifischer Lebenserfahrung und „naturgegebenen“, „weiblichen“ Qualitäten, auch einige Instanzen der Ablehnung von Erklärungen, die primär auf dem weiblichen Geschlecht beruhen: Stattdessen werden individuelle Eignungen wie der persönliche Hintergrund, Charakter und professioneller Anspruch in den Vordergrund gestellt.
Stefan Köck: "Drei Treffen und fünf Berichte – Yoshikawa Koretarus erste Kontakte zum Bakufu hinterfragt"
Im Rahmen dieses Vortrags wurden erste Beobachtungen im Rahmen des Forschungsprojektes Daimyatsshintō und Yoshikawa Shintō in Nordjapan (FWF PAT4754924) vorgestellt, das seit Februar 2025 an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt wird. Mithilfe von Quellenvergleichen wurde argumentiert, dass die Frühphase der Beziehungen des Shintō-Experten Yoshikawa Koretaru 吉川惟足 (1616–1696) mit Vertretern des Bakufu hinsichtlich der Chronologie der Ereignisse wie auch der Inhalte, die bei den Treffen thematisiert wurden, neu bewertet werden muss.
Bislang waren zur Frühphase von Koretarus Wirken vier Hauptquellen bekannt. Sein Adoptivsohn und Nachfolger Yoshikawa Yorinaga 吉川従長 (1654–1730) verfasste nach Koretarus Tod (1.1.1695) zwei Biographien, die längere ist datiert auf den 3.1.1695. Außerdem ist von Yorinaga eine nicht klar datierte Darstellung des ersten Treffens Koretarus mit Tokugawa Yorinobu 徳川頼宣 (1602–1671) erhalten, dem Daimyō von Wakayama. Eine vierte Quelle bildet eine Biographie, die Tani Jinzan 谷秦山 (1663–1718), ein Schüler von Yamazaki Ansai 山崎闇斎 (1619–1682) und Vertreter des Suika Shintō 垂加神道, über Koretaru verfasst hat. Zudem wurde ein bisher nicht berücksichtigtes Werk von Yorinaga herangezogen, in dem dieser das erste Treffen zwischen Koretaru und Tsugaru Nobumasa 津軽信政 (1646–1710), dem Daimyō von Hirosaki, schildert.
Ein ausschlaggebender Faktor für die Treffen Koretarus mit Tokugawa Yorinobu 1657 und Hoshina Masayuki 保科正之 (1611–1673) im Jahr 1661 war die prekäre Lage des Bakufu in den 1650er Jahren. Zwei missglückte Staatsstreiche, landesweite Hungersnöte und der Meireki Großbrand in Edo 1657 setzten das Bakufu in dieser Zeit unter Druck. Nach Yorinagas Darstellung erörterten Yorinobu und Masayuki daher mit Koretaru die Frage, ob Shintō Elemente enthalte, durch die eine zivile, nicht militärisch basierte Legitimierung der Herrschaft des Kriegerstandes, konkret des Bakufu, möglich wäre. Koretaru habe in beiden Fällen einen von ihm vertretenen Shintō des Studiums der Prinzipien (rigaku shintō 理学神道) empfohlen, der terminologisch eng an Konfuzianismus angelehnt war, aber einen Schwerpunkt auf Herrschaft durch den Kriegerstand legte.
Tani Jinzan schildert das Treffen mit Hoshina Masayuki thematisch völlig anders. Ihm zufolge hielt Koretaru 1661 in Masayukis Residenz in Edo einen ersten Vortrag zu den Götterzeitalter-Kapiteln des Nihon shoki 日本書紀, dem weitere folgten. In der Literatur wurde bislang i.d.R. die Darstellung Yorinagas übernommen. Eine Problematisierung der divergierenden Schilderungen Yorinagas und Jinzans blieb dagegen aus.
Ebenfalls hinterfragt wurde, inwieweit Yorinagas Darstellung vom Treffen Koretarus mit Tokugawa Yorinobu als zutreffend angesehen werden kann. Durch einen Interlinearvergleich dieser Darstellung mit der des Treffens Koretarus mit Tsugaru Nobumasa ließ sich zeigen, dass beide Quellen inhaltlich übereinstimmen. Unterschiede sind marginal, sie zeigen sich bei abweichenden Namenschreibungen und gelegentlichen grammatikalischen Varianten. Welche Quelle die frühere ist, lässt sich nicht bestimmen, da nur die Darstellung des Treffens mit Nobumasa eindeutig datiert ist (29.3.1699).
Festhalten lässt sich, dass u.a. mangelnde Quellenkritik zu einer unkritischen Übernahme der Darstellungen Yorinagas in Studien zu Koretaru und Yoshikawa Shintō 吉川神道 geführt hat. Dabei wurden die Motive, die Yorinaga mit der Abfassung seiner Werke verfolgte, zu wenig berücksichtigt. Die Tradition Koretarus, der Yorinaga nach dessen Tod 1695 vorstand, befand sich in den späten 1690er Jahren in einer Übergangsphase. Yorinagas Werke, die zu dieser Zeit entstanden, sind deswegen nicht als sachliche, neutrale Schilderungen zu verstehen. Er verfolgte das Ziel, Koretarus Tradition als Grundlage für die Legitimität der Kriegerherrschaft darzustellen und sie so für das Bakufu unverzichtbar zu machen. Das Sichern der Position, welche die Yoshikawa seit 1684 als Shintō Experten (shintōgata 神道方) in der Bakufu-Bürokratie hatten, erweist sich damit als ein zentrales Motiv hinter Yorinagas Argumentation. Ebenso strebte er eine Festigung bzw. Bestätigung der Verbindung der Yoshikawa mit dem Daimyaten Aizu, Hirosaki und Wakayama an, deren Daimyō Koretaru unterstützt hatten. Diese Aspekte müssen bei einer Neubewertung der Frühphase von Koretarus Wirken berücksichtigt werden.
Markus Rüsch: "Politisierte Praxis im Buddhismus aus räumlicher Perspektive"
Der Vortrag „Politisierte Praxis im Buddhismus aus räumlicher Perspektive“ beschäftigte sich mit religiösen Räumen und ihren Ritualen im Kontext der Tendai-shū und Shingon-shū. Bezogen auf die Tendai-shū wurde hervorgehoben, dass ein wesentlicher Teil ihrer Praxis auf den Staatsschutz ausgerichtet ist, was insbesondere am Haupttempel Enryaku-ji deutlich wird. Dieser Tempel wird in den Gründungslegenden über Saichō auch als „Übungsort zum Schutz des Staates“ beschrieben und Saichō selbst entwickelte ein System zur Ausbildung von Mönchen, die er in vier Kategorien einordnete abhängig von ihrer Rolle, die sie nach seiner Vorstellung im Staat zu übernehmen hätten.
Im Gegensatz dazu steht die Shingon-shū, bei der die Praxis nicht wesentlich auf den Staatsschutz ausgerichtet ist, sondern andere Aspekte zur Erlangung der Erlösung auf Grundlage esoterischer Praktiken hervorhebt. Zwei für die Shingon-shū bis heute bedeutende Tempel, deren Geschichte (und zu Teilen auch deren Gegenwart) eine vergleichsweise starke Ausrichtung auf den Staatsschutz zeigt, sind der Jingo-ji und Tō-ji. Der Kongōbu-ji (Kōya-san) hingegen, der im Gegensatz zu den anderen beiden Tempeln nicht auf der Basis eines bereits bestehenden Tempelkomplexes entstanden ist, spiegelt deutlich stärker die auf Erlösung fokussierte Praxis in der Shingon-shū wider.
Insgesamt zeigte der Vortrag, dass „politisierte Praxis“ in beiden Schulen sehr unterschiedliche Ansätze beschreiben, obwohl beide Traditionen eng mit dem Staatsschutzgedanken verbunden werden. Dies konnte mit Rückgriff auf zentrale Texte der beiden Schulgründer Saichō und Kūkai sowie wesentlich von ihnen mitentworfenen Tempelstrukturen gezeigt und konkretisiert werden. In der Tendai-shū muss nahezu die gesamte religiöse Praxis in Verbindung mit dem Staatsschutz gesehen werden, wohingegen in der Shingon-shū der Staatsschutz nur eines von zahlreichen Angeboten des estorischern Buddhismus in der Tōmitsu-Tradition dargestellt.