Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Die Unsichtbaren

Über die Lage von Menschen in ambulanter Pflege und ihrer pflegenden Angehörigen muss mehr gesprochen werden

von Dr. Marcel Vondermaßen

07.05.2020 · Das Wunderbare an SARS-CoV-2 sei, dass es uns in vielen Weisen gleich mache. „It doesn't care about how rich you are, how famous you are, how funny you are, how smart you are, where you live, how old you are, what amazing stories you can tell." Egal wie reich, berühmt oder alt du bist, der Virus diskriminiert nicht. Dies war die Botschaft, die Madonna Mitte März an ihre Fans richtete.

Wie fern diese Behauptung der Realität ist, wissen Anfang Mai nicht nur Katastrophenforscher*innen. Wir alle realisieren, dass die Lasten ungleich verteilt sind und das Fragen der Sichtbarkeit, des Bedacht-Werdens aber auch der Marginalisierung in Situationen, in denen es um Leben und Tod geht, eine neue Dringlichkeit erhalten: Wer übersehen wird, der oder dem wird nicht geholfen. Dies gilt nicht nur für die akute Rettung in einer Katastrophenlage, wie einem Brand oder einer Überschwemmung, sondern auch bei sich länger hinziehenden Krisen, wie einer Dürre oder eben einer Pandemie. Es sind, wie bei früheren Katastrophen auch, die Armen, die schon vor der Krise Diskriminierten, die Älteren, die in prekären Jobs Arbeitenden, welche besonders betroffen sind.

Covid-19 als „the great equalizer“ (den großen Gleichmacher) zu bezeichnen, wie es Madonna tut, ist jedoch ein folgenreiches Narrativ. Denn eine gleiche Verletzlichkeit aller Menschen suggeriert, dass auch die Hilfe gleichverteilt sein sollte. Damit spricht es gegen besondere Schutzmaßnahmen für einzelne Gruppen und eventuell auch gegen eine genauere Betrachtung und Ausdifferenzierung von Folgen und Bedarfen. Ohne eine solche genauere Betrachtung bleiben jedoch vor allem diejenigen sichtbar, die vor der Krise sichtbar waren und die, denen es an Sichtbarkeit mangelte, werden es noch schwerer haben, aus der Unsichtbarkeit herauszutreten.

Bislang zu wenig beachtet worden ist eine Gruppe, die vor der Krise gerade im öffentlichen Diskurs ein wenig Fuß fassen konnte: pflege- und hilfebedürftige Menschen und ihre Angehörigen. (Einen Beitrag zur Frage, wie die Sichtbarkeit dieser Gruppe zu erhöhen ist, steuerte das IZEW 2016-2019 im vom BMBF geförderten Forschungsprojekt KOPHIS zur Debatte bei. Aktuell wird im Projekt AUPIK erforscht, wie ambulante Pflegeinfrastrukturen auch in der Krise aufrechterhalten werden können.) Dies scheint auf den ersten Blick paradox, da die Bemühungen der Eindämmung der Corona-Pandemie doch dem Schutz der Ältesten als Hochrisikogruppe gelten. Und sind nicht Pflege- und Altenheime oft in den Nachrichten?

Das stimmt. Doch über 70% der ca. 3,9 Millionen zu pflegenden Menschen in Deutschland leben nicht in Heimen, sondern werden zuhause versorgt. Die Hälfte davon wiederum von Angehörigen. Auch wenn die Mehrzahl fortgeschrittenen Alters ist, gibt es zahlreiche jüngere Menschen bis hin zu Kindern, die von ihren Eltern gepflegt werden. Vor der Krise hatte gerade ein zähes Ringen darum begonnen, pflegenden Angehörigen mehr Spielräume in ihrer oft zeitintensiven und emotional fordernden Hilfe zu ermöglichen. In der jetzigen Debatte werden sie oft schlicht übersehen.

Dies zeigt sich am deutlichsten in der aktuellen „Öffnungsdebatte“. Seien die neuesten Empfehlungen von Prof. Kekulé vom 06.05.2020 in der Zeit oder die Pläne der Bundesregierung: Im Fokus stehen Fragen, ob Kleinkinder ihre Großeltern anstecken könnten, oder wie verhindert werden kann, dass bei Besuchen im Altenheim das Virus übertragen wird. Dabei schätzt das Robert-Koch-Institut (RKI) bereits in der Gesundheitsberichterstattung des Jahres 2015 die Anzahl pflegender Angehöriger in Deutschland auf 4,7 Millionen.i Das entspricht knapp 7% der erwachsenen Bevölkerung. Eine Zahl, die seitdem gestiegen sein dürfte.

Für diese Gruppe stellen sich mit der Lockerung der Quarantäne und der Rückkehr an den Arbeitsplatz neue Fragen, die sie in den Äußerungen und Programmen von Politiker*innen nicht wiederfinden, wie Zuschriften an „Die Zeit online“ zeigen, die heute veröffentlicht wurden. Wie verhindere ich als pflegender Angehöriger, dass ich zu einem Gesundheitsrisiko für meine eigenen Eltern, Partner*innen, Großeltern werde? Wie stelle ich eine alternative Versorgung sicher? Dabei hat die Krise die Lage bereits jetzt verschärft. Oftmals speisen sich Unterstützungsnetzwerke aus den direkten Angehörigen, aber auch aus Nachbar*innen, Freund*innen und lokalen Anlaufstätten wie Begegnungsstätten oder Bibelkreisen. Viele Sozialkontakte entstehen überdies in Lokalen, Bäckereien oder Blumengeschäften. Diese Kontakte sind nicht nur wichtig für den sozialen Austausch, oftmals sind damit kleine Hilfen, wie zum Beispiel beim Einkaufen, Müll rausbringen etc. verbunden. In der Pandemie brechen diese Unterstützungsnetzwerke oft weg, was zusätzliche Lasten auf die Schultern der Angehörigen lädt. Dort, wo die Netzwerke weiter bestehen, werden diese bei einer weiteren Öffnung von Geschäften und Gastwirtschaften ebenfalls zu einem erhöhten Risiko für die älteren Menschen.

Hier zeigt sich, wie unterkomplex die Debatte um eine Isolierung von Menschen mit Pflege- und Hilfebedarf geführt wird. Sie baut auf dem in die Irre führenden Bild von gefährdeten Menschen auf, die in Altersheimen oder von Pflegediensten versorgt werden. Es wird suggeriert, dass alle Kontakte dieser Menschen identifiziert und kontrolliert werden könnten, obwohl es nicht einmal für die von ambulanten Pflegediensten versorgten Menschen eine zentrale Erfassung gibt. In Wahrheit leben in Deutschland Millionen Menschen mit Hilfe- oder Pflegebedarf, die wiederum von Millionen Angehörigen versorgt werden, die in allen Branchen arbeiten und allen Bereichen der Gesellschaft stammen.

Doch ist die Pflegearbeit nicht gleichverteilt, womit sich die nächste Stufe von Sichtbarkeit und Diskriminierung zeigt. Das RKI stellt im oben genannten Gesundheitsbericht zusätzlich fest: Pflegende aus niedrigeren Bildungs- und Einkommensgruppen sind diejenigen, die auf Grund mangelnder Finanzierbarkeit von Alternativen mehr eigene Zeit in die Pflege investieren müssen. Gleichzeitig erfahren sie eine geringere soziale Unterstützung. Auch die Verteilung unter den Geschlechtern ist ungleich: 65% der Pflegenden sind Frauen.

Damit zeigen sich Überschneidungen mit jenen Gruppen, die bereits mit einem höheren Ansteckungsrisiko in der Krise leben müssen. Sei es, weil die entsprechenden schlechter bezahlten Berufe seltener digitale Home-Office-Jobs darstellen, die Wohnverhältnisse beengter sind und die eigene Gesundheit statistisch bereits vor der Krise schlechter war als die von Schichten mit höherem Einkommen. Aber auch weil die Mehrheit der in der Krise systemrelevanten Care-Berufe ebenfalls mehrheitlich von Frauen ausgeübt wird. Dies überschneidet sich mit jenen Gruppen, wie etwa Alleinerziehenden, die nicht über die Rücklagen oder die Jobsicherheit verfügen, um bei Verdacht auf eine Ansteckung vorsorglich zuhause zu bleiben.

Hier stehen wir wieder am Anfang der Betrachtung: Ohne eine Lösung für diese bislang zu wenig beachteten Dynamiken könnte sich ein Teufelskreis ergeben, der die sowieso schon ungleich verteilte Last der Pandemie noch stärker auf die Schultern der Armen, prekär Beschäftigten und Kranken verteilt. Frauen könnten durch unbezahlte Care-Arbeit langfristig Karrierechancen verbaut werden. Eine Verbesserung der Situation der Menschen mit Pflege- und Hilfebedarf und ihrer pflegenden Angehörigen kann es jedoch nur geben, wenn es gelingt, die Sorgen und Nöte dieser Menschen lauter, deutlicher, sichtbarer in die Debatte einzubringen. Hierzu ist es notwendig das Narrativ vom „großen Gleichmacher“ umzudrehen: Die Corona-Pandemie verschärft Ungleichheiten und deshalb ist es wichtiger denn je, diese unterschiedlichen Unterstützungsbedarfe gleichberechtigt sichtbar zu machen. Diese Einsicht ist für eine demokratische Bewältigung der Krise entscheidend. Denn nur wenn die bisher versteckten Lasten und Risiken Teil der Debatte sind, können wir, verstanden als Zivilgesellschaft, informiert darüber diskutieren und streiten, ob und wie wir die Pandemie gerechter bewältigen wollen.

Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/177540

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i (Wetzstein M., Rommel A., Lange C. (2015): Pflegende Angehörige - Deutschlands größter Pflegedienst. [Hrsg.] Robert Koch-Institut Berlin. GBE kompakt 6(3) www.rki.de/gbe-kompakt)