Zentrum Vormodernes Europa

Das interdisziplinäre und interfakultäre Zentrum vormodernes Europa bietet ein Forum für die Forschung zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne. Im Blickpunkt steht Europa als ein vernetzter, auf vielfältige Weise mit anderen Regionen verbundener Raum im langen Zeitraum zwischen der Antike und etwa 1800.
Das Zentrum vormodernes Europa vereint eine Vielzahl von Disziplinen von der Archäologie über die Sprach- und Literaturwissenschaften bis hin zur Rechtswissenschaft. Ziel des Zentrums ist es, Forschungspotentiale fruchtbar zu machen und den fakultäten- und fächerübergreifenden Dialog zu fördern. Als Plattform des Austauschs soll das Zentrum die Vernetzung von Forschenden aller Karrierestufen erleichtern und Impulse für die Entwicklung neuer interdisziplinärer Forschungsprojekte geben.
 

Direktorin:
Prof. Dr. Andrea Worm (Kunstgeschichte)

Stellvertretung:

Prof. Dr. Regula Forster (Islamwissenschaft)
Prof. Dr. Steffen Patzold (Mittelalterliche Geschichte)

Vorstand:
Prof. Dr. Matthias Bauer (Anglistik)
Prof. Dr. Christina Brauner (Globalgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit)
Prof. Dr. Sarah Dessì Schmid (Romanische Philologie)
Prof. Dr. Stephan Dusil (Rechtswissenschaft)
Prof. Dr. Annette Gerok-Reiter (Germanistik, Literatur des Mittelalters)
Prof. Dr. Sigrid Hirbodian (Geschichtliche Landeskunde und Historische Grundwissenschaften)
Prof. Dr. Andreas Holzem (Kath. Theologie, Kirchengeschichte)
Prof. Dr. Jörg Robert (Germanistik, Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit)
Prof. Dr. Stephan Winter (Kath. Theologie, Liturgiewissenschaft)
Prof. Dr. Christian Witt (Ev. Theologie, Kirchengeschichte)
Prof. Dr. Anja Wolkenhauer (Lateinische Philologie)
 

Europa und die Vormoderne

„Europa“ ist nicht mehr selbstverständlich – es steht zur Debatte. Aktuell scheinen die nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte politische Ordnung und ein lange für verbindlich gehaltenes Wertesystem ins Wanken zu geraten. Die Idee eines politisch geeinten Europas wird längst nicht von allen Parteien geteilt, und vielfach haben sich politische Gruppierungen etabliert, die als Zielsetzung die Rückkehr in nationalstaatliche Identitäten verfolgen. Auch in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften werden, vor allem in Teilen der postkolonialen Theorie, die Grundlagen dessen in Frage gestellt, was seit dem 19. Jahrhundert im globalen „Westen“ und in Europa als „wissenschaftlich“ gilt. Angesichts dieser Prozesse verfolgt das Zentrum vormodernes Europa das Ziel, die Geschichte und die Kultur Europas in ihrer Verflechtung mit anderen Regionen der Welt von der Antike bis zum Beginn der Moderne zu erforschen und dabei im Rahmen der aktuellen wissenschaftlichen wie politischen Debatten die Position Europas in der Welt zu reflektieren.

Europa war als einer der drei seit der Antike bekannten Erdteile neben Asien und Afrika fundamentaler Bestandteil eines konzeptionellen Zugriffs, einer (auch biblisch begründeten) Weltordnung. In der Spätantike und im frühen Mittelalter vollzogen sich mit der Transformation der römischen Welt weitreichende Veränderungen. Nicht zuletzt durch die Verbreitung des Islam wandelte sich das Mediterraneum als Kultur- und Wirtschaftsraum tiefgreifend; gleichwohl blieb die Kultur der griechisch-römischen Antike prägend weit über die Grenzen des ehemaligen Imperium Romanum hinaus. Europa entwickelte sich zu einem pluralen Raum, geprägt durch verschiedene Religionen, Herrschaftsbereiche und Normensysteme: Weite Teile Osteuropas und Skandinaviens wurden erst im Verlauf des späteren Mittelalters christianisiert, und manche orientierten sich dabei nicht auf Rom als Zentrum sondern auf Konstantinopel oder Kiev; große Teile Spaniens und Süditaliens gehörten zum islamischen Herrschaftsraum. Für das Judentum ist die Vormoderne durch die Diaspora bestimmt. Jüdische Gemeinden bestanden spätestens im Hochmittelalter im gesamten europäischen Raum. ür Austausch und Transfer innerhalb Europas und mit der Welt waren vor allem die vielfältigen Handelsbeziehungen wichtig, die über Land- und Wasserwege Menschen und Regionen in der Vormoderne miteinander verbanden. Seit dem 16. Jahrhundert eroberten und unterwarfen Europäer weite Teile der Welt. Die Folgen dieser Kolonialisierung prägen die politischen und wissenschaftlichen Diskurse über die Position und Verantwortung Europas in der Welt bis heute.

Der weite Begriff der Vormoderne erlaubt es, jenseits der längst als problematisch erkannten Epochengrenzen, diese formative Periode in diachroner und vergleichender Perspektive in den Blick zu nehmen. Während die Vormoderne im 19. und 20. Jahrhundert vor allem als Wurzel der eigenen Geschichte gedeutet wurde, wobei die Frage nach Kontinuitäten im Vordergrund stand, wurde sie im ausgehenden 20. Jahrhundert verstärkt als fremde Gegenwelt entworfen. Das Verhältnis von Kontinuität und Alterität theoretisch zu reflektieren ist nur in interdisziplinärem Dialog möglich.