Blicke auf den Palisadenzaun um die Verständigung im Strafprozess
Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2013 steht fest, dass konsensuale Verfahrenserledigungen im Strafverfahren grundsätzlich mit der Verfassung im Einklang stehen. Zugleich konstatierte das höchste deutsche Gericht jedoch ein erhebliches Vollzugsdefizit. Die Praxis neige dazu – so der damalige Berichterstatter im Zweiten Senat – den „Palisadenzaun“ zu durchbrechen, den das Grundgesetz dem gesetzlichen Regelungskonzept vorgebe (Landau NStZ 2014, 425, 426).
Das Gericht hat deshalb klargestellt: Die Schutzmechanismen, die der Einhaltung der verfassungsrechtlichen Anforderungen dienen, sind vom Gesetzgeber fortwährend auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen (BVerfGE 133, 168, 235 Tz. 121).
Die dadurch geforderte Evaluierung der Verständigung im Strafverfahren hat sich ein empirisches Forschungsprojekt der Universitäten Düsseldorf (Prof. Dr. Altenhain), Frankfurt am Main (Richter am OLG Prof. Dr. Jahn) und Tübingen (Prof. Dr. Kinzig) zur gemeinsamen Aufgabe gemacht. Ziel des von dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz in die Wege geleitete Vorhaben, ist es, zu ermitteln, wie das geltende Recht in seiner Ausgestaltung durch die Rechtsprechung seit dem 19.3.2013 – dem Tag der Verkündung des Verfassungsgerichtsurteils – durch die Praxis umgesetzt wird. Den Zuschlag für dieses (europaweit ausgeschriebene) empirische Forschungsprojekt hat das oben genannte Forscherteam der Universitäten Düsseldorf, Frankfurt am Main und Tübingen erhalten.
Das Projekt wird neben einer eingehenden Analyse der Rechtsprechung vor allem empirisch orientiert sein und auf Basis qualitativer wie quantitativer Forschungsmethoden die Handhabung der Normen des Verständigungsgesetzes im Strafverfahren untersuchen. Im Laufe des auf zwei Jahre angelegten Vorhabens werden unter anderem die Perspektiven der involvierten Akteure (sowohl der Richterschaft als auch der Staatsanwaltschaft und der Strafverteidigung) über verschiedenene (Online-)Erhebungen erfasst werden, um das Spannungsfeld zwischen den Anforderungen obergerichtlicher Rechtsprechung und den praktischen Herausforderungen der Verständigungspraxis zu beleuchten.
Deshalb werden für die erste Phase ab Juni 2018 mit Unterstützung der Justizministerkonferenz Richterinnen und Richter in Strafsachen in nach sozialwissenschaftlichen Kriterien ausgewählten Gerichten aller Bundesländer gebeten, an einer Online-Befragung teilzunehmen. Eine möglichst breite Unterstützung dieser empirischen Erhebung, um die die Forschergruppe bittet, ist für die Aussagekraft der Ergebnisse von großer Bedeutung. Dadurch wird zugleich die Durchführung der weiteren Module vorbereitet, die Aktenanalysen, eine flächendeckende Befragung sowie Tiefeninterviews justitieller Akteure beinhalten. Durch das Zusammenspiel der verschiedenen Methoden soll ein realistischer Überblick über die Wirkungsweise des Verständigungsgesetzes ermöglicht sowie etwaiger Änderungs- und Reformbedarf ermittelt werden.
Nähere Informationen sind der Homepage www.verstaendigung-in-strafverfahren.de zu entnehmen.
Karsten Altenhain, Matthias Jahn und Jörg Kinzig – Forschergruppe „Verständigung in Strafverfahren“
Das Projekt wurde im Herbst des Jahres 2020 abgeschlossen. Eine Stellungnahme der damaligen Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz Christine Lambrecht zu den Ergebnissen der Studie ist hier zu finden:
https://www.bmj.de/SharedDocs/Artikel/DE/2020/110420_Evaluation_Verstaendigung.html
Der Abschlussbericht des Forschungsverbunds wurde im Nomos-Verlag als Printausgabe und als OpenAccess-Fassung veröffentlicht. Letztere kann unter https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748922094 kostenlos abgerufen werden.
Ein Aufsatz zu dem Projekt ist im Band der Hannover-Tagung der KrimG erschienen.