Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft

 

 

Religionswissenschaft untersucht aus neutraler Perspektive, wie Menschen in Geschichte und Gegenwart religiös leben, wie sie denken, glauben, fühlen, handeln, mit anderen Menschen in Beziehung gehen und die Welt gestalten.

 

 

Religion? Spielt das in unserer heutigen „modernen“ Welt noch eine Rolle?

Viele Menschen in Deutschland können nicht mehr viel mit Religion anfangen, und es gehörte zum Fortschrittsglauben westlicher Moderne, vom Verschwinden von Religion auszugehen. Religion ist jedoch nach wie vor sehr präsent in unserer Welt, sei es als spirituelles Interesse von einzelnen, als wirkungsstarke Motive in Kultur, Kunst, Musik und Medien, in der Bildung von nationalen und kulturellen Identitäten, als Legitimation für politisches Handeln. Die Gegenwart ist ohne eine Kenntnis der Religionsgeschichte nicht zu verstehen, in Europa und weltweit.

Religionswissenschaft geht diesen Zusammenhängen auf den Grund. Sie stellt nicht die Frage nach religiöser Wahrheit, sie bewertet Religionen nicht. Stattdessen fragt sie, aus welchen Gründen und auf welche Weise Menschen die Welt sehen, sich in ihr bewegen und handeln.


Was ist Religionswissenschaft?

Religionswissenschaft beschäftigt sich wertneutral und bekenntnisunabhängig mit religiösen Traditionen und ihren Selbst- und Fremdbeschreibungen in Geschichte und Gegenwart. Sie untersucht religiöse Deutungen und Wahrnehmungen der Welt, religiöse Formen miteinander zu kommunizieren und Bedeutung herzustellen, religiöse Handlungsweisen im Alltag und in außeralltäglichen Situationen wie Ritualen. Sie analysiert Diskurse darüber, was Religion ist und ob Religion etwas anderes ist als Spiritualität, Säkularität, Ideologie oder Wissenschaft.

Religionswissenschaft nimmt dabei eine methodologische Außen- oder Metaperspektive ein: Sie fragt nicht nach der Wahrheit religiöser Äußerungen und ist im Grundsatz weder religionskritisch noch religionsaffirmativ (d. h. Religion positiv bestätigend). Ihr Gegenstand ist nicht Gott, das Heilige oder Übernatürliches – ihr Gegenstand sind menschliche Äußerungen, Handlungen und Wahrnehmungsweisen, die sich mit Hilfe von kulturwissenschaftlichen, sozialempirischen und historisch-philologischen Methoden untersuchen lassen.

Was untersucht Religionswissenschaft?

Religionswissenschaft analysiert vielfältiges Quellenmaterial:

  • Texte in allen Formen (alte Manuskripte, zentrale religiöse Texte wie sogenannte „Heilige Schriften“, Bücher, Zeitungen, Texte im Internet und den Sozialen Medien)
  • Bilder in Kunst und Alltagskultur, visuell wahrnehmbare Gestaltung der Umwelt
  • Musik aus allen bekannten Sparten (sogenannte Klassische Musik, Popularmusik, traditionelle Musik), Klang und Geräusche, die akustische Gestaltung von Lebenswelten
  • alle Formen von Medien (von archäologisch und historisch überlieferten Medien bis hin zu modernen Massenmedien und digitalen Medien)
  • Gegenstände, Artefakte, Materialität
  • die Gestaltung von Raum und Umwelt
  • empirisch erhobene Daten wie Interviews, Umfragen, Wahrnehmungen aus der Teilnehmenden Beobachtung (sowohl quantitative als auch qualitative Daten)
  • Handlungsformen und körperliches Erleben.

Was fragt Religionswissenschaft?

Religionswissenschaft stellt ganz unterschiedliche Fragen, je nach Forschungsstand und Interesse. Grundsätzlich untersucht sie historischen Wandel, Charakteristika gegenwärtiger Entwicklungen, Muster interreligiöser Kontakte oder Zusammenhänge zwischen Religion und anderen sozialen Systemen, kulturellen Bereichen oder Diskursfeldern wie z. B. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder Kultur.

Ein traditionelles Arbeitsfeld der Religionswissenschaft ist der Vergleich von religiösen Weltdeutungen und Handlungsformen.

Religionswissenschaft beschäftigt sich außerdem mit Religionstheorien verschiedener Reichweite, also der Frage, was Religion eigentlich ist – bzw. wer wann und warum was unter Religion (sowie unter angrenzenden Konzepten wie Spiritualität, Säkularität, Wissenstraditionen etc.) versteht und verstanden hat.

Religionswissenschaft arbeitet aufgrund der geographischen Breite und historischen Tiefe ihres Interesses und der Vielfalt ihrer Fragestellungen eng mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen zusammen.

Tübinger Schwerpunkte

Der Schwerpunkt der Tübinger Religionswissenschaft liegt auf folgenden religiösen Traditionen, Regionen und Zeiträumen:

  • Religionsgeschichte Europas, insbesondere die Kelten und Germanen und ihre Rezeption seit der Frühen Neuzeit
  • Geschichte der Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert
  • Europäische Gegenwartsreligiosität, insbesondere Alternative Spiritualität, Neo-Paganismus und Okkultismus/Contemporary Magic
  • Indigene Religionsgeschichte Mittelamerikas, insbesondere die Azteken, und Indigene Gegenwartsreligiosität Nordamerikas
  • Religionsgeschichte und Gegenwart Südasiens, insbesondere Ostindien, Bangladesch und die Andamanen-Inseln
  • Interkulturelle Kontakte im Kontext der christlichen Mission seit der Frühen Neuzeit. 

Grundlagen der Religionswissenschaft

Im Rahmen der GRUNDLAGEN DER RELIGIONSWISSENSCHAFT werden Kenntnisse über religionswissenschaftliche Perspektiven auf die Welt und ihre Charakteristik gegenüber anderen religionsbezogenen Disziplinen vermittelt. Einführungen in das Fach und die Disziplingeschichte sollen auf innovative Weise ein Bewusstsein für komplexe Zusammenhänge zwischen Religions- und Wissenschaftsgeschichte und gegenseitige Rezeptionsprozesse sowie die Einbettung wissenschaftlicher Entwicklungen in politische Kontexte wie z.B. dem Kolonialismus schaffen. Außerdem werden klassische und gegenwärtige Religionstheorien sowie aktuelle Forschungsansätze behandelt

Religionsgeschichte und Gegenwart

Ein Schwerpunkt des Studiengangs liegt auf der Vermittlung von vernetztem Wissen über religiöse Traditionen sowie personale und fluide Religiosität in RELIGIONSGESCHICHTE UND GEGENWART. Auf der Grundlage von innovativen aktuellen Forschungsansätzen wie z.B. der Religionsdynamik oder der Transkulturation als narrativen Strukturen erlangen die Studierenden Überblickswissen über die Religionsgeschichte der Menschheit. Dieses Wissen vertiefen sie in einzelnen Lehrveranstaltungen zu spezifischen religiösen Traditionen und lokalen und regionalen Kulturräumen. Schwerpunkte des bisherigen Lehrpersonals in Tübingen liegen auf Europa, Mittel- und Nordamerika und Asien sowie den Feldern von Christentum, Islam, vorchristlicher europäischer Traditionen, indigener Traditionen weltweit, und Traditionen der Gegenwart und Formen von Gegenwartsreligiosität. Zusätzlich werden besondere Themen der Moderne und Gegenwart behandelt wie z.B. Kolonialismus, Transnationalität und Glokalisierungsprozesse, fluide und personale Religiosität, Identitätspolitik, politische Religion oder Migration und Diaspora

Sprache und Begrifflichkeit

Um die religiöse Kompetenz in ausgewählten global wirkmächtigen sowie und lokalen Traditionen zu vertiefen, werden parallel Lehrveranstaltungen als Einführungen in SPRACHE und BEGRIFFLICHKEITEN angeboten, in denen Schlüsselwissen zu Transliteration, Transkription und Übersetzung sowie die Grundlagen einzelner Sprachen und religiöser Begrifflichkeiten vermittelt werden.

Systematik der Religionswissenschaft

Ein weiterer Schwerpunkt des Studiums ist die SYSTEMATIK DER RELIGIONSWISSENSCHAFT, in der vielfältige Querschnittsthemen behandelt werden. Vorgesehen sind hier: Komparatistische Fragestellungen (z.B. Märtyrertum, Zeitvorstellungen, Postmortalitätskonzepte) sowie verschiedene Veranstaltungen zu Religion und a) Politik und Gesellschaft, b) Kunst, Kultur und Medien, c) Körper und Rituale, d) Kosmovision und Weltdeutung, e) Natur und Welt.

Geplant ist längerfristig, dass Schlüsselkompetenzen des religionswissenschaftlichen Studiums durch Tutorien, Kolloquien und kollegiale Beratung unterstützt werden, z.B. zum wissenschaftlichen Arbeiten, Informationsbeschaffung und -auswertung oder zur Vorbereitung und Durchführung der BA-Arbeit.