Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Über Klassifikationssysteme in Datenbanken – Narrative Motive und stereotype Zuschreibungen im Kaiju-Filmgenre

by Christopher Zysik

10.12.2024  

Wir erkennen Westernfilme an Revolverduellen und Saloons, Science-Fiction-Filme an Aliens und Raumschiffen und Kaiju-Filme an gigantischen Monstern, die mit ihren Kämpfen ganze Großstädte zerstören. Motive wie diese helfen uns, Filme nach ihren Genres zu sortieren und in einen größeren Zusammenhang innerhalb der Medienlandschaft einzuordnen. Durch unsere Genrezuordnungen schreiben wir Filmen Bedeutung zu, kommunizieren mit und durch sie und verwenden Genres sowohl bei der Beurteilung von Filmen als auch bei der Bildung bestimmter Vorstellungen und Erwartungen, bevor wir einen Film überhaupt gesehen haben. Genrekategorien begegnen uns im Alltag in unterschiedlichen Kontexten und scheinen trivial und eindeutig zu sein. Doch bei genauerem Hinsehen offenbaren sie eine hohe Komplexität, deren Ergründung Aufschlüsse über unterschiedliche Perspektiven (Fans, Produzierende, Kritiker*innen), Erwartungen und kulturelle Vorurteile liefern kann. Die Einteilung von Motiven in Genrekategorien dient nicht nur der Vereinfachung in der alltäglichen und kulturellen Kommunikation, sondern spiegelt auch die Prozesse wider, die zur Erschließung eines Wissenskanons über Filme (und damit verbundene Interpretationen) führen. Dass diese Einteilung nicht immer einfach ist, zeigen mehrfache Genrezuschreibungen und hybride Genres wie beispielsweise Science-Fiction-Horror oder Western-Drama.

Das Filmgenre Kaiju, dessen Name aus dem Japanischen grob mit „seltsame Bestie“ übersetzt werden kann, veranschaulicht eindrücklich die Komplexität von Genrezuschreibungen, Genreerwartungen und Genrevorstellungen. Seine Ursprünge lassen sich auf den amerikanischen Monsterfilm King Kong (1933) und den japanischen Monsterfilm Godzilla (1954) zurückführen. Aufgrund des globalen Erfolgs von Godzilla und dessen Aufstieg zu einer Filmikone, hat auch die japanische Genrezuschreibung „Kaiju“ ihren Weg in westliche Kulturkreise gefunden und sich dort als Genrekategorie etabliert. Als transmediales Genre, das über die Mediengattung des Films hinaus auch in der Kategorisierung von Zeichentrickserien (Anime), Comics (Manga) und Literatur Anwendung findet, umfasst es eine Vielzahl medialer Darstellungen, Motive und Charaktere. Die erwähnten gigantischen Monster, ihre Kämpfe und die Zerstörung von Großstädten scheinen als wiederkehrende Merkmale und Motive den Kern des Genres zu bilden. Allerdings finden sich ähnliche Darstellungen auch in anderen Genres, wie Science-Fiction- oder Katastrophenfilmen. Wodurch unterscheidet sich das Kaiju-Genre also von anderen Genres, die sich ähnlicher Darstellungen bedienen? 

In unserer Analyse des Kaiju-Genres konzentrieren wir uns auf die Fanperspektive, die in der Genreforschung bislang kaum Beachtung gefunden hat. Neben Produzent*innen und Kritiker*innen tragen Fans durch Online- und Offline-Diskussionen, Fanfiction und gemeinschaftliche Interpretationen dazu bei, die Grenzen und Merkmale eine Genres zu diskutieren. Auch haben Fans oft spezifische Erwartungen an Genres und beeinflussen durch ihre Rezeption die Produktion zukünftiger Werke. In der digitalisierten Medienlandschaft nehmen Fans eine zunehmend aktive Rolle in der Rezeption und Produktion von Filmen ein. In Online-Foren und auf Social-Media-Plattformen erweitern und hinterfragen Fans Genre-Konventionen. Dabei bringen sie häufig ein tiefes Verständnis ihrer Lieblingsgenres ein, leisten wertvolle Kritik und tragen zur Diversifizierung des Diskurses bei. Über Social Media können Fans direkt mit Produzent*innen und künstlerisch Schaffenden in Kontakt treten. Fankuratierte Filmdatenbanken spielen dabei eine besondere Rolle. Sie bieten umfassende und spezialisierte Informationen zu Filmen, einschließlich Übersichten, Kategorisierungen sowie einen Raum für Bewertungen, Kritiken und Diskussionen abseits professioneller Perspektiven. Zudem schaffen sie einen Raum für Nischenfilme und -genres sowie Produktionen anderer Kulturen, die in anderen Datenbanken häufig vernachlässigt werden. Weiter werden sie als vielfältige soziale Netzwerke genutzt, die durch eine aktive Gemeinschaft kontinuierlich aktualisiert werden.  Gleichzeitig stellen sich bei der Arbeit mit Fandatenbanken spezifische ethische Fragen: Werden bei Genrezuordnungen und Motivaufschlüsselungen stereotype Vorstellungen bedient, insbesondere bei nicht-westlichen Werken? Inwiefern ist bereits die Benennung bestimmter Motive grenzüberschreitend (etwa eine Aufzählung pornografischer Motive)? Bedürfen minderjährige Nutzende solcher Datenbanken eines besonderen Schutzes? 

Das Ziel unseres Forschungsprojekts Japanese Visual Media Graph ist die Erschließung der Fanperspektive durch fankuratierte Datenbanken.  Dabei untersuchen wir, wie Fans Filmen narrative Motive zuschreiben. Als Beispiel dient das Kaiju-Genre, dessen gängige Beschreibungen im Mainstream und in der wissenschaftlichen Forschung in unserer Analyse zunächst ausgeklammert werden. Unsere Datenanalyse konzentriert sich stattdessen auf die bereitgestellten Datensätze der fankuratierten Datenbank TV Tropes, die sich auf die Definition und Zuschreibung wiederkehrender Motive, sogenannter Tropen, in verschiedenen Medien spezialisiert hat.

In einer ersten quantitativen Datenauswertung, die den Zusammenhang zwischen fan-generierten Motiven und Genres untersucht, zeigte sich, dass Fans in der Rezeption von Kaiju-Filmen gigantische Monster, Kämpfe und Zerstörung hervorheben. Dieses Ergebnis deckt sich mit stereotypen Vorstellungen des Genres. Allerdings sind die konkret zugeordneten Motive, wie „Big Damn Heroes“ oder „Behemoth Battle“, zu generisch, um für eine Genredefinition ausreichend zu sein. Aus diesem Grund analysieren wir im nächsten Schritt gleichzeitig auftretende Motive. Die erstellten Heatmaps ermöglichen es uns, Cluster von Motiven zu identifizieren und daraus das Potenzial narrativer Motive für eine Genredefinition abzuleiten. Trotz des heterogenen Charakters des Kaiju-Genres zeigen die Datensätze erste Muster, die ein detaillierteres und differenzierteres Bild genretypischer Darstellungen darlegen. 

Unsere Herangehensweise bietet Potenzial für die Analyse von Fan-Diskursen mithilfe von Daten, bringt jedoch auch verschiedene Herausforderungen und Einschränkungen mit sich. Da TV Tropes eine weitgehend anonyme Fan-Datenbank ist, bleibt unklar, wer den Korpus an Kaiju-Filmen ausgewählt und ob dieser sich im Laufe der Zeit durch verschiedene Beiträge entwickelt hat und welche Kriterien für die Zuordnung herangezogen wurden. Wie sollte damit umgegangen werden, wenn irrtümlich Filme einbezogen oder ausgeschlossen sind? Wie relevant sind narrative Motive im Vergleich zu visuellen und soziokulturellen Bedeutungszuschreibungen bei der Bestimmung eines Genres? Eine weitere Herausforderung stellen kulturelle Vorurteile dar, die in die Motivdefinitionen einfließen können. Dies wäre der Fall, wenn westliche Kategorien, die möglicherweise für japanische Werke und Genresystematiken ungeeignet sind, dennoch angewendet werden. Somit ergibt sich die Frage, inwieweit kulturelle Besonderheiten bei den Zuschreibungen von Motiven berücksichtigt werden und wie sich dies in den Datensätzen widerspiegelt. 

Die Datenanalyse hat dabei nicht nur interessante Einblicke geliefert, sondern auch die Grenzen unserer Vorgehensweise verdeutlicht. Problematisch für die Definition des Kaiju-Genres mithilfe fankuratierter Datenbanken sind zum einen unerklärte Lücken in den Datensätzen und zum anderen unvollständige Zuordnungen von Motiven, insbesondere bei weniger bekannten Filmen und solchen aus marginalisierten Kulturräumen. Dies führt dazu, dass die Datenbank einen kulturellen Bias reproduziert, der erfolgreiche Kaiju-Filme aus Japan und den USA bevorzugt, während Filme aus anderen Kulturkreisen, wie beispielsweise Südkorea, vernachlässigt werden. Ein weiteres Problem ist die Definition eines geeigneten Datenfilters, der möglicherweise wichtige Details ausschließt. Es ist daher wichtig zu berücksichtigen, dass es sich bei dieser Analyse um eine Momentaufnahme handelt, deren Ergebnisse sich im Laufe der Zeit durch andere Parameter sowie genre-analytische und sozio-kulturelle Perspektiven ändern können. In zukünftigen Analysen werden wir Comics (Manga), Zeichentrickserien (Anime) und Literatur bei der Genredefinition sowie stereotype Zuschreibungen näher untersuchen. In einem weiteren Schritt widmen wir uns den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen der wissenschaftlichen Perspektive und dem Fandiskurs bei der Definition des Kaiju-Genres. Zudem werden wir uns der Frage widmen, ob und inwiefern die Wissenschaft die Klassifizierungen kritisieren kann, ob und wie unsere Ergebnisse an die Fangemeinde zurückgespiegelt werden sollten und inwieweit es wissenschaftlich legitim wäre, sich selbst in den Fandiskurs einzubringen.

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