19.01.2023
Gesetzlich pauschalierter Schadensersatz – ein innovatives Konzept?
Vergangenen Donnerstagabend eröffnete das Forum Junge Rechtswissenschaft seine Veranstaltungsreihe in diesem Semester mit einem Vortrag von Dr. Johannes Ungerer von der University of Oxford zum Thema „Gesetzlich pauschalierter Schadensersatz“.
Ungerer erläuterte das Instrument des gesetzlich pauschalierten Schadensersatzes anschaulich anhand der Regelung des Schuldnerverzugs (insbesondere § 288 BGB) sowie der europäischen Fluggastrechte-Verordnung.
Der Gesetzgeber pauschaliere Schadensersatzansprüche für Leistungsstörungsfälle, in denen es massenhaft zu gleichförmigen konkreten Schäden komme, bei deren Bewältigung private Vertrags- und Marktmechanismen versagen würden.
Die Entscheidung für eine gesetzliche Pauschalierung liegt laut dem Referenten unter anderem darin begründet, dass Schadenspositionen wie verlorene Lebenszeit durch verspätete Flüge oder Einbußen wie aufgezwungene Refinanzierungskosten und erhöhte Insolvenzrisiken für Gläubiger im Rahmen des Schuldnerverzugs schwer greifbar und kaum bezifferbar sind.
Gesetzlich pauschaliert bedeutet in diesem Fall, dass die Haftungsverantwortlichkeit und die Schadenshöhe nicht nach allgemeinen bürgerlich-rechtlichen Schadensersatzgrundsätzen (Kausalität, Verschulden, Differenzhypothese) ermittelt und bemessen werden, sondern der Gesetzgeber für bestimmte Fälle spezielle Haftungsvoraussetzungen und fixe, teils gestaffelte Ersatzbeträge festsetzt.
Der Referent ging umfassend auf die Vorteile dieser pauschalierten Ausgleichung bestimmter massenhaft auftretender Schäden ein.
In prozessökonomischer Hinsicht werde die Geltendmachung und Durchsetzung solcher Schäden erheblich vereinfacht: Der Gläubiger müsse nur noch die Eröffnung des Anwendungsbereichs darlegen und beweisen, nicht dagegen Verschulden und Kausalität. Zudem könnten würden zur Geltendmachung kommerzielle Dienstleister eingesetzt werden. Auch die Titulierung könnte effizienter erfolgen, beispielsweise in Deutschland mithilfe von Musterfeststellungsverfahren oder der noch umzusetzenden europäischen Verbandsklage. Der Bereich eigne sich zudem für die Automatisierung und den Einsatz von legal tech, etwa in Form von smart contracts.
Gleichzeitig könne gesetzliche Pauschalierung verhaltenssteuernd gegenüber Schuldner und Gläubiger wirken. Aufgrund der drohenden Kosten in nicht unerheblicher Höhe würde der Schuldner dazu gehalten, Leistungsstörungen nach Möglichkeit zu vermeiden und seine Leistungsanstrengungen zu erhöhen. Infolge der Skaleneffekte und durch eine hinreichend hohe Festlegung der Mindestbeträge bestünde kein Anreiz zu ökonomisch motiviertem Rechtsbruch.
Auf Gläubigerseite steige aufgrund der Einfachheit des Verfahrens die Motivation, die gesetzlichen Pauschalbeträge tatsächlich geltend zu machen. Der Gläubiger schlüpfe dadurch gewissermaßen in die Rolle eines privaten attorney general.
Im Rahmen des Regelungsbereichs bestehen für die Vertragsparteien nur sehr begrenzt Möglichkeiten, in konsensualer Weise von der Pauschalierung abzuweichen. Aus diesem Grund charakterisierte Ungerer die Rechtsfigur letztlich als eine Form „libertären Paternalismus“, der in einer sozialen Marktwirtschaft durchaus seine Berechtigung habe.
Der Referent sieht einige zukünftige Einsatzmöglichkeiten für die Regelungstechnik der gesetzlichen Schadensersatzpauschalierung, darunter die Behandlung von Anschlussstörungen im Telekommunikationsbereich oder die Passagierrechte im Bahn-, Bus- und Schiffsverkehr.
Im Anschluss an seinen Vortrag meldeten sich viele der Zuhörenden zu Wort, teilten ihre Gedanken und traten in Dialog mit dem Referenten. So durfte sich auch das Forum Junge Rechtswissenschaften über einen gelungenen Programmeinstieg freuen.
Die Monografie zum Vortragsthema veröffentlichte der Referent bei Duncker & Humblot (2022).
Alina Rehmann
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