Solange Kultur in der Frühen Neuzeit in den Grenzen Europas definiert wurde, war Ägypten das nächste große Fremde. Die Faszination fand seit der Antike in der Aufstellung von ägyptisierenden Obelisken ihren sichtbarsten Ausdruck, erstreckte sich aber auch auf viele andere kulturelle Felder. Besonders interessant ist das Beispiel der Hieroglyphenschrift, die zwischen Bild und Text, Erkennbarkeit und Fremdheit, göttlicher und menschlicher Sphäre zu stehen scheint. Eine Übersetzung, wie sie etwa zwischen Griechisch und Latein selbstverständlich war, schien a priori nicht möglich. Bilinguen fehlen fast völlig; diejenigen, die es in der Antike gab - etwa bei Plutarch oder Ammianus Marcellinus - scheiterten oft im Prozess der Überlieferung: Die Schreiber ließen dort, wo sie den Text und/ oder das Zeichensystem nicht verstanden, oft genug einfach eine Lücke.
Die Wirkungs- und ‚Imaginationsgeschichte‘ der Hieroglyphen im frühneuzeitlichen Europa beginnt mit dem Fund der Schriften des Historikers Ammianus Marcellinus (Poggio 1417) und der ungefähr gleichzeitigen Entdeckung der Hieroglyphica des Horapollon (Buondelmonti 1419; Erstdruck Venedig 1505). Von Marsilio Ficino auf die platonische Ideenlehre bezogen, in der Hypnerotomachia Polifi (1499) als Idealschrift weitergesponnen, von Pierio Valeriano emblematisch systematisiert (Hieroglyphica 1556) und von Athanasius Kircher visualisiert und in seiner ganz eigenen Weise übertragen, bereichern die Hieroglyphen seitdem das Zeichenvokabular des Arkanwissens. Da die Hieroglyphen in dieser Epoche nicht phonetisch aufgefasst, sondern primär als Ideogramme interpretiert werden, wird die Renaissancehieroglyphik oft als ein phantasievolles Missverständnis beschrieben. Aber was ist ein phantasievolles Missverständnis? Und welche Folgen zeitigt es?
Vorn dieser Frage ausgehend hat sich die Jahrestagung 2018 des Wolfenbüttler Arbeitskreises für Renaissanceforschung den Verfahren und Funktionen kultureller Übersetzung in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Renaissancehieroglyphik gewidmet. Nach Einführungen von Johannes Helmrath und Anja Wolkenhauer wurden im Laufe des Arbeitstreffens folgende Vorträge gehalten:
- Th. Scharff (Braunschweig), Mittelalterliche Grundlagen des frühneuzeitlichen Ägyptenbildes
- F. Ebeling (Heidelberg), Die platonische Hermeneutik des Ägyptenbildes
- P. Germano Leal (Glasgow), Untranslating Horapollon's Hieroglyphica: the perception of hieroglyphs in 5th century Alexandria and in the Renaissance
- M. Gindhart (Mainz), Kategorien des frühneuzeitlichen Übersetzens von Hieroglyphen
- M. Kern (Hamburg), Die Sprachfähigkeit der Hieroglyphe in der Mission der Frühen Neuzeit
- S. Herrmann (Stuttgart), Ägyptenrezeption in Venedig
- M. Biederbeck (Kiel), Ägyptische Symbolik in Impresen
- S. Kodera, (Wien/ St. Pölten), Renaissancehieroglyphik im Werk von Giovanni Battista Della Porta
- W. Schmidt-Biggemann (FU Berlin), Athanasius Kircher und die Hieroglyphen
- F. Neumann (Rostock), Die Entzifferung der Keilschrift als Säkularisierungsmotor
Über alle Beiträge hinweg zeigte sich, dass die Auseinandersetzung mit Hieroglyphen und Aegyptiaca sowie das Verständnis derselben als Konzept zur Weltdeutung in weit höherem Maße als erwartet die gesamte frühneuzeitliche europäische Kultur durchzog. Ausgehend von Horapollons Hieroglyphica erfüllten sie im Sinne einer reinen Ideenschrift den Anspruch einer Universalsprache, die in mnemohistorische Konzepte von Antike und Wissen Eingang fand und dort eine ägyptisierende und zugleich platonisch-ideale Spur legte. In ihnen konkretisierte sich die Überzeugung, dass die Piktogramme überzeitliches und arkanes Wissen, vielleicht auch Residuen der adamitischen Sprache transportierten, die denjenigen, die die Zeichen zu deuten/lesen verstanden, die Teilhabe am Göttlichen ermöglichten. Hieroglyphen verloren – anders als andere Zeichen – zu keiner Zeit die Potenz des Numinosen. Sie wurden als mächtige Symbole in Impresen und Emblemen aufgegriffen und von den Alchemisten mitbedacht. Sie beeinflussten sprachwissenschaftliche Überlegungen und wirkten sogar weit über die Grenzen Europas hinaus, wo sie – vor dem Hintergrund der Konfrontation mit bereits existierenden mexikanischen Bilderschriften – z.B. die Visualisierungsstrategien der amerikanischen Mission prägten.
Die Tagungsakten werden voraussichtlich um vier Beiträge erweitert, die einige im Verlauf der Tagung formulierte Desiderate aufgreifen und u.a. die Begriffsgeschichte und die Verbindungen zur Alchemie in den Blick nehmen werden. Sie werden von Johannes Helmrath und Anja Wolkenhauer herausgegeben und sollen spätestens 2020 in einer Reihe der HAB erscheinen.