Tübinger Forum für Wissenschaftskulturen

Signal und Rauschen - in Wissenschaft und Gesellschaft

Studienkolleg 2025/2026

English Version below.

Was wir als Signal und was wir als Rauschen verstehen, prägt, wie wir die Welt wahrnehmen und strukturieren. Damit konstituiert diese Unterscheidung unser grundlegendes Verständnis der Welt – und damit auch unsere Art, mit ihr zu interagieren. Doch was genau gilt als Signal? Und was als Rauschen? Was bedeutet diese Unterscheidung? Bemerkenswert ist der (Bedeutungs-)Wandel, den der Begriff des Rauschens zu Beginn 20. Jahrhundert durchlaufen hat: Im 19. Jahrhundert als „lärmendes Geräusch“ verstanden, entwickelte er sich nun zur Bezeichnung für fehlerhafte Signale, Störungen in Nachrichten und Informationsflüssen. Rauschen wurde so zum Synonym für Fehler, Abweichung und zufälliger Schwankung, die alle Arten von Signalen, Nachrichten und Informationen betreffen. 

Unabhängig davon, ob wir Signal und Rauschen als akustisches, wissenschaftlich-technisches, oder kommunikatives Phänomen betrachten, fällt auf, dass es sich dabei um relative Kategorien handelt: Signal und Rauschen werden erst durch ihre Beziehung zueinander bestimmt. Auch fällt auf, dass die Begriffe gewöhnlich mit Wertungen versehen sind: Das Signal ist Signal, weil es klar und bedeutungsvoll erscheint; Rauschen hingegen ist unklar und vage, eine Störung des Signals. 

Diese Wertungen können das Anzweifeln der Einteilung in Signal und Rauschen zu einem gewagten oder sogar gefährlichen Unterfangen machen. Wird das Rauschen als alternatives Signal und Botschaft verstanden, so beansprucht es, bedeutungsvoll zu sein und stellt die bis dahin uneingeschränkte Deutungshoheit des Signals in Frage. Ein gutes Beispiel für ein solches transgressives Phänomen ist der Jazz des angehenden 20. Jahrhunderts, der als unzivilisierter Lärm beschrieben und beschimpft die (vermeintliche) Ordnung von Signal und Rauschen in Frage stellt. Es forderte die europäisch-klassische Musiktradition heraus und konkurrierte mit deren Autonomie über die Deutung der in der Musik gesandten Signale. Die Erkennbarkeit der Differenz zwischen Rauschen oder Signal setzt immer schon eine Beobachtungsperspektive voraus. Die gesellschaftliche Reaktion auf das „Rauschen“ außerhalb der akzeptierten Klangordnung zeigt daher die normative Dimension der Grenzziehung und den Einfluss der Grenzziehenden auf. 

Zurückkommend auf die zentrale Frage, worin die Unterscheidung zwischen Signal und Rauschen eigentlich besteht, lautet also eine Vermutung: Sie ist eine Konvention, weshalb es sich nicht nur lohnt zu fragen, wie diese Unterscheidung eingeführt wird, sondern auch, wer festsetzt, was als Signal und was als Rauschen gilt. Stimmt diese Vermutung? Im Studienkolleg wollen wir hierüber gemeinsam und interdisziplinär nachdenken und diskutieren. Im Kontext dieser Fragestellung und darüber hinaus wollen wir uns mit unterschiedlichen Bedeutungen von Signal und Rauschen — in Wissenschaft und Gesellschaft auseinandersetzen und ihre Grundlagen und Konsequenzen betrachten. Dabei sollen u.a. die folgenden Aspekte eine Rolle spielen:

  • Wie kann man sich Signal und Rauschen in der Welt vorstellen? Was für eine Art von Objekt ist das? Und was heißt das für die Frage: Signal als Determiniertheit; Rauschen als Zufall?
  • Rauschen als parasitäre Störung, die in die Kommunikation und Informationsübertragung eindringt? Was lernen wir aus Kommunikations- und Informationstheorien über Signal und Rauschen?
  • Können Signal und Rauschen auch als Norm vs. Abweichung und damit als politische Begriffe verstanden werden, die Machtsysteme und soziale Verhältnisse festlegen?
  • Auch in Abwesenheit äußerer Reize gibt es im Gehirn ein gewisses „Grundrauschen (oder schon ein Signal?). Wie erkennen wir aus den sensorischen Signalen die Welt? Wie filtern wir in unserer Wahrnehmung das „wahre“ Signal aus dem „Rauschen" heraus?
  • Noise: Feature or a Bug — Ist Signal Wissen und Rauschen Ungewissheit und damit ein Hindernis wissenschaftlicher Erkenntnis? Oder in mathematischen Modellen: Modellieren wir wirklich das Signal oder das Rauschen?
  • Sind Vorhersagen, d.h. Outputs von statistischen oder Machine Learning Modellen, Signal oder Rauschen? Einfach Zahlen zwischen Null und Eins und damit ein subjektiver Gradmesser für (unsere) Unsicherheit und Glauben an das Eintreffen eines Ereignisses?
  • Welche Rolle und Einfluss haben Vorhersagen in der Gesellschaft — schließlich sind sie Wetten auf die Zukunft: Als Prognosen gestalten und beeinflussen sie unsere soziale Welt aktiv mit.
  • Wie steht es um die Anerkennung des Rauschens als ästhetisches Material in der Kunst und Literatur? Können wir über die (begrifflichen und technischen) Werkzeuge des Signal-Rausch-Vokabulars die interpretative Unschärfe und die Komplexität ästhetischer Phänomene beschreibbar machen?
  • In der Musik ist die Auseinandersetzung und Auflösung klanglicher Erwartungen spannend: Wie kann man sich hier den Aspekt des (Grund-)Rauschens zunutze machen?

 


Signal and Noise -- in Science and Society

Studienkolleg 2025/2026

What we perceive as signal and what we perceive as noise shapes the way we understand and structure the world. This distinction fundamentally constitutes our understanding of reality – and thus also influences how we interact with this reality. But what exactly counts as a signal? And what as noise? What does this distinction really mean? It is noteworthy how the concept of “noise” underwent a significant transformation at the beginning of the 20th century. In the 19th century, it was understood simply as a “loud, disturbing sound.” Over time, however, it came to refer to faulty signals, interference within messages and flows of information. Noise became synonymous with error, deviation, and random fluctuation – phenomena that affect all forms of signals, messages, and information.

Whether we approach signal and noise as a sonic, scientific-technical or communication phenomenon, one observation stands out: they are relative categories. Signal and noise are only defined in relation to one another. Furthermore, these terms are typically associated with an evaluation: The signal is considered to be meaningful term, while noise is contrasted to be synonymous with being vague and being ambiguous, no more than an unwanted interference with the signal.

These evaluations can make questioning of the signal/noise distinction dangerous, even risky, endeavor. If noise is interpreted as an alternative signal, it asserts its own claim to meaning and challenges the previously uncontested interpretive authority of the present classification. A compelling example of such a transgressive phenomenon is early 20th-century jazz, which was often denounced as uncivilized noise. It questioned the (alleged) cherished categorization, challenged the European classical music tradition, and competed with its authority to define noise as  category antithetical to “music.” The very ability to distinguish between noise and signal already presupposes a particular perspective. Society’s response to “noise” that falls outside the boundaries of accepted (here sonic) norms thus reveals the normative dimension of this boundary and the influence of those who draw it.

Returning to the core question what actually constitutes the distinction between signal and noise one possible hypothesis is this: the distinction is a convention and therefore a decision to which we have become accustomed to. Am I right? If yes, then it is worth asking these further questions: How is this distinction established? And more importantly, who determines what is considered signal and what is noise? We will explore all these issues together in an interdisciplinary setting, i.e.:  be discussed are:

  • How can we conceptualize signal and noise in the world? What kind of entities are they? What does that mean for the distinction: signal as determinacy; noise as randomness?

  • Is noise a parasitic disturbance that invades communication and information transmission? What do communication and information theories teach us about signal and noise?

  • Can signal and noise also be understood in terms of norm vs. deviation, i.e. in political terms that define power structures and social relations?

  • Even in the absence of external stimuli, the brain produces a certain baseline of noise (or is it already a signal?). How do we extract the world from sensory signals? How do we filter the “true” signal from the noise in our perception?

  • Noise: Feature or a Bug? Is signal equivalent to knowledge and, analogously, noise to uncertainty and thus an obstacle to scientific understanding? Or with regard to mathematical models: are we really modeling the signal or the noise?

  • Are predictions, the outputs of statistical or machine learning models, signal or noise? Are they simply numbers between zero and one, and therefore subjective indicators of our uncertainty or belief in the occurrence of an event in the world?

  • What role and influence do predictions have in society? Since, after all, they are bets on the future: as forecasts, they actively shape and influence our social world.

  • What about the recognition of noise as an aesthetic category in art and literature? Can the conceptual and technical tools of the signal-noise vocabulary help us to describe the interpretative ambiguity and complexity of aesthetic phenomena?

  • In music, the engagement with and subversion of sonic expectations is exciting: how can the aspect of (background) noise be creatively used here?