Diskussionen und Analysemodelle der Gender Studies haben in der postklassischen und emanzipatorisch ausgerichteten Narratologie, teilweise unter dem Begriff der feminist narratology, an Bedeutung gewonnen und beeinflussen die Theoriebildung in allen zentralen Erzählkategorien wie Fokalisierung, Zeit und Raum.
Ein wichtiger Ansatzpunkt der Gender Studies liegt in der Beobachtung, dass die Wahrnehmung der Welt durch die subjektive Perspektive der Erzählinstanz oder die der Charaktere (innerhalb oder außerhalb der erzählten Welt) gefiltert ist: „Feminist criticism […] interrogates „masculinity“ as part of a complex set of social relations in which men and women are both seen as governed by cultural stereotypes and ideologies.“ (Greene 1998, xi). Durch die Verankerung sämtlicher Akteur:innen des Textes in einen bestimmten kulturellen Kontext ist die Wahrnehmung stets durch deren Umfeld und Vorerfahrungen geprägt, die eine (un-)bewusste Färbung des Textes mit sich bringen. So können sich geschlechterbasierte Strukturen auf der Basis der gesellschaftlichen Mikroebene verfestigen und naturalisieren (vgl. dazu Foucaults Genealogie der Macht).
Ein derartiger Naturalisierungseffekt lässt sich beispielsweise an dem Phänomen des male gaze (dt.: männlicher Blick) beobachten. Der male gaze entspringt ursprünglich der Filmtheorie nach Laura Mulvey. Ausgehend von der Freud’schen Psychoanalyse beschreibt sie die Darstellung von Geschlechterverhältnissen im Film, indem sie den patriarchal geprägten männlichen Blick auf die objektifizierte Frau aufzeigt. Zusätzlich zu der genderbasierten Textentschlüsselung schafft eine solche Sensibilisierung Bewusstsein für die perspektivische Prägung von Literatur und gibt Aufschluss über die in engem Zusammenhang stehenden Machtverhältnisse, die damit verknüpfte Gewalt, etwaige (Un-)Gleichgewichte oder auch über die Ambiguität.
Insbesondere bei der Analyse antiker Literatur ist daher ein genauerer Blick auf die Färbung des Textes durch die männliche Brille (etwa bei Catull) essenziell, da man antiken Texten eine überwiegend männliche Adressatenschaft zuschreiben kann und diese meistens durch eine gleichfalls männliche Erzählinstanz verfasst wurden (vgl. Skinner 1998, 450 f). Der Feminist criticism, so hat Susan Lanser die Unternehmung beschrieben „is an optimistic enterprise, eager to account for the whole of its relevant universe“ (Lanser 1986, 341). Auf diesem Wege eröffnet sich eine präzisere Betrachtungsweise antiker Kulturphänomene und ihrer literarischen Reflexion. Dabei ist jedoch ein Bewusstsein dafür wichtig, dass auch diese Perspektive durch unsere eigenen kulturellen Voraussetzungen geprägt ist: Wir können nur interpretieren, was wir sehen (wollen).
(Ein Studentischer Beitrag von Jana Kemmler, B.Ed.)