Sprecherin: Prof. Dr. Annette Gerok-Reiter
Stellvertreter:innen: Prof. Dr. Anna Pawlak, Prof. Dr. Jörg Robert, Prof. Dr. Matthias Bauer
Offizielle Homepage des SFB 1391
In jüngster Zeit erleben ästhetische Fragen eine unerwartete Konjunktur. Öffentliche, teils kontrovers geführte Debatten um Rolle, Funktion und Grenzen der Kunst lassen aufhorchen. Vielerorts wurde eine Rückkehr der Ästhetik konstatiert, gar ein ‚aesthetic turn‘ ausgerufen. Dieser hat sich jedoch vor allem außerhalb der Geisteswissenschaften bemerkbar gemacht: In den Gesellschaftswissenschaften etwa wurden die Ausdehnung ästhetischer zu sozialen Praktiken, die politische Indienstnahme der Kunst oder ästhetisch-epistemologische Grenzdiskurse thematisiert. Neurowissenschaften und Biologie suchen empirisch nachzuweisen, wie Kunst in der DNA des Menschen verankert ist. All diese Forschungsansätze zeigen ein neues Bedürfnis nach und Interesse an Ästhetik. Dabei greifen sie jedoch oft genug unreflektiert auf autonomieästhetische Konzepte des 18. und 19. Jahrhunderts zurück (Autonomie/Heteronomie, Genie, Kunst- und Werkbegriff u.a.). Fragen nach Rolle und Funktion der Kunst in sozialen Prozessen und Interaktionen geraten leicht aus dem Blick.
Umso dringlicher erscheint es, alternative ästhetische Praktiken, Manifestationen und Konzepte zu entdecken, die nicht von autonomieästhetischen Positionen ausgehen. Eine solche Andere Ästhetik lässt sich – so die These des SFB 1391 – in hervorragender Weise in der Vormoderne finden, d.h. vor dem Zeitalter der philosophischen Ästhetik. Gerade von einer ‚Ästhetik vor der Ästhetik‘ können entscheidende Impulse für ästhetische Fragestellungen auch in unserer Gegenwart ausgehen. Daher setzt der SFB eben hier mit seinem genuin geisteswissenschaftlichen Programm an. Es greift dabei (1) die Debatte um die Allgegenwart und Notwendigkeit von Kunst auf, wie sie die Gesellschafts-, Lebens- und Neurowissenschaften aufgeworfen haben, verknüpft sie aber (2) mit einem neuen Verständnis ästhetischer Prozesse, das (3) aus der dynamischen Wechselwirkung zwischen technisch-artistischer Eigenlogik (autologische Dimension) und sozialer Praxis (heterologische Dimension) gewonnen werden soll. Nicht die Konzepte, Diskurse und Theorien, sondern die konkreten Akte, Aktionen, Akteure und Artefakte im gesellschaftlichen Raum bilden den Ausgangs- und Bezugspunkt.
Ein solches ‚doing aesthetics’ ist Kern eines praxeologischen Modells der Ästhetik, das der SFB mit dem Konzept der ‚ästhetischen Reflexionsfigur‘ verbindet. Mit seiner Hilfe lässt sich eine Andere Ästhetik herausarbeiten, die sich weniger in den theoretischen Entwürfen als ‚im Vollzug’, d.h. in konkreten Akten, Aktionen, Akteuren und Artefakten beobachten lässt. Mit praxeologischem Modell und Konzept der Reflexionsfiguren bietet das Projekt eine neu entwickelte Heuristik an, mit deren Hilfe sich die dynamischen Verflechtungen zwischen autologischer und heterologischer Sphäre differenziert beschreiben lassen. Ziel des SFB insgesamt ist es, zu einer Neubewertung vormoderner Ästhetik(en) innerhalb der Ästhetikforschung zu gelangen, eine Neubewertung, die von der Aktualität und Gegenwart der Vormoderne ausgeht.