Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Covideo Parties und Zoom Fatigue

Zum paradoxen Bedürfnis, online über digitale Erschöpfung zu sprechen

von Dr. Paula Helm

08.02.2021 · Die Corona-Pandemie hat das Leben rund um den Globus tiefgreifend verändert. Zusätzlich zu den unmittelbaren gesundheitlichen Gefahren der Pandemie, stellen auch physische Distanzierungsmaßnahmen Herausforderungen für das psychische und soziale Wohlbefinden dar. Die psycho-sozialen Langzeitfolgen sind nicht abzusehen. In diesen problematischen Zeiten spielen Lösungen auf Basis digitaler Technologien eine zentrale Rolle. Doch ungeachtet all der unleugbaren Vorteile und Potentiale, geht die mit der Coronapandemie drastisch angewachsene, sowohl ökonomische als auch emotionale Abhängigkeit von digitalen Lösungen und ihren (kommerziellen) Anbietern auch mit Risiken einher. Diese sind ebenso auf der Ebene individueller Gesundheit wie auf jener sozialer Machtungleichgewichte angesiedelt.

Die Corona-Pandemie hat das Leben rund um den Globus tiefgreifend verändert. Zusätzlich zu den unmittelbaren gesundheitlichen Gefahren der Pandemie, stellen auch physische Distanzierungsmaßnahmen Herausforderungen für Gesundheit und Wohlbefinden dar. Die psycho-sozialen Langzeitfolgen sind nicht abzusehen. In diesen problematischen Zeiten spielen Lösungen auf Basis digitaler Technologien eine zentrale Rolle. Beispielsweise bieten digitale Plattformen mannigfaltige Möglichkeiten, durch die Verbindung und den Austausch mit anderen in langwierigen Lockdownphasen die eigene emotionale Stabilität zu verbessern. Darüber hinaus spielen sie eine zentrale Rolle bei der Ermöglichung von neuen Formen der plattform-basierten Telearbeit, da sie einen im wörtlichen Sinne virenfreien und somit gesundheitlich scheinbar völlig unproblematischen Raum eröffnen, indem tägliche Arbeitsroutinen auch von zu Hause aus aufrechterhalten werden können oder zukünftig sogar müssen.

Die intensive Nutzung und Einbettung digitaler Technologien in sämtliche Bereiche des täglichen Lebens hat freilich nicht erst mit der Corona-Pandemie begonnen. Aber die Pandemie hat diese Entwicklung massiv verstärkt und beschleunigt. Corona funktioniert gleich einem Digitalisierungskatalysator. Das Virus begann sich zu einem Zeitpunkt zu verbreiten, zu dem bereits sämtliche Strukturen dafür angelegt waren, um innerhalb von nur wenigen Wochen große Teile des öffentlichen Lebens in den Äther zu verlagern. So wundert es nicht, dass von Angestellten, Führungskräften, Schüler*innen und Eltern verlangt wurde, sich rasch an die neue Situation zu gewöhnen.

Unserer Fähigkeit zur raschen Adaption zum Trotz und ungeachtet all der unleugbaren Vorteile und Potentiale, geht die mit der Corona Pandemie drastisch angewachsene, sowohl ökonomische als auch emotionale Abhängigkeit von digitalen Lösungen und ihren (kommerziellen) Anbietern jedoch auch mit Risiken einher. Diese sind ebenso auf der Ebene individueller Gesundheit wie auf jener sozialer Machtungleichgewichte angesiedelt. Zum einen können ständige Verfügbarkeit, permanente Konfrontation mit neuen Schreckensnachrichten und die vielen Stunden vor dem Bildschirm zu neuen Formen von Stress und Erschöpfung führen, die in populären Neologismen wie "zoom-fatigue", „doomscrolling” oder „digital burnout“ ihren Ausdruck finden.

Zum anderen potenziert sich die Kluft zwischen jenen, die hochwertige Geräte und digitale Kompetenzen besitzen und solchen, denen es daran mangelt (s. hierzu auch digital divide), sowie die ohnehin schon enorme Macht großer Technologieunternehmen, die von vielen Experten und Beobachtern als zunehmend "bedrohlich" bezeichnet wird.

Es ist schwierig, diese beiden Perspektiven – das heißt, die sozio-technische und die psycho-emotionale –­ zusammen zu bringen und doch scheint es offensichtlich, dass sie auch in diesem Fall (wie in so vielen anderen) zutiefst miteinander verwoben sind. Warum greifen wir immer wieder zu unseren Geräten, auch wenn wir merken, dass es uns besser tun würde, klare Grenzen zu ziehen? Sind es, den Argumenten führender Medienpsycholog*innen folgend, allem voran die sozialen Anreize, die anscheinend so schwer wiegen, dass wir dafür gerne bereit sind, bis zur Erschöpfung zu tweeten, mailen, scrollen, posten, liken und sharen und dabei in doppelter Weise (sowohl was das Persönliche als auch was das Monetarisierungspotential betrifft) wertvolle Daten von uns preiszugeben? Oder ist es, den Argumentationen vieler Sozialanthropolog*innen und Technikphilosoph*innen folgend, zudem das manipulative Design der Plattformen, welches so gestaltet ist, dass wir kaum anders können, als die Kontrolle über die Zeiträume unserer Nutzung zu verlieren? Höchst wahrscheinlich ist es eine Kombination aus beidem. Diese Sichtweise lässt sich anhand einer Reflexion über das widersprüchliche Verhalten verdeutlichen, bei dem wir uns in Zeiten pandemie-bedingter Distanzierungsmaßnahmen massenhaft der durchaus absurden Tätigkeit hingeben, uns online über unsere digitale Erschöpfung auszutauschen.

Für viele Menschen ist sozialer Austausch von elementarer Bedeutung für ihre psychische und emotionale Gesundheit. Das bezieht sich nicht nur auf den Wunsch, Glück zu teilen, sondern auch auf das häufig drängende Anliegen, sich mit Leidensgenoss*innen auszutauschen. Der positive Einfluss von Support- und Selbsthilfe-Gruppen ist nur eines von vielen Beispielen, anhand derer sich diese Aussage veranschaulichen lässt. So wundert es nicht, dass viele Personen derzeit das Bedürfnis verspüren, einen Diskurs über die Erschöpfung und Frustration zu führen, die sie angesichts ihrer Angewiesenheit auf den digitalen Austausch empfinden[1]. Zentrale Themen dabei sind Entgrenzung zwischen Arbeit und Privatheit, die häufig auf oberflächliche Kommunikation ausgelegten Anforderungen sozialer Medien, der Mangel an physischem Beisammensein, das Gefühl der Leere, das trotz Tweeten, Posten und Retweeten zurück bliebt und die – nicht zuletzt – besorgniserregende Macht großer Plattformbetreiber, in deren Bedingungen wir einzuwilligen haben, wenn wir nicht vereinsamen, sozial marginalisiert werden und evtl. sogar unseren Job verlieren wollen. Das Absurde daran ist, dass der aktuelle Diskurs über die digitale Erschöpfung und die Kritik an der Plattformmacht über eben jene Plattformen geführt wird, von denen er handelt und die er kritisiert.

Was sagt dieses Paradox über die Zeit, in der wir gerade leben, aus? Wir könnten uns auch Briefe schreiben, wir könnten meditieren, beten, uns vor den Viren in die Nostalgie oder die Esoterik flüchten. Während einige das auch tun (mitunter online), bevorzugt die Majorität der Mitglieder westlicher Gesellschaften doch ganz offensichtlich die Flucht ins aufgeklärte Digitale – auch wenn wir noch nicht absehen können, welche Folgen dies für unsere Psychen und unsere Gesellschaften haben wird. Dass wir unsere Bedenken und unseren Leidensdruck hierzu über dieselben Plattformen diskutieren, die uns Sorgen bereiten, zeigt, welche Macht und welch dominante Stellung sie mittlerweile in unserem Leben eingenommen haben. Wollen wir unsere Sorgen öffentlichkeitswirksam mitteilen, so führt der einfachste Weg, um dies zu tun, über eben jene Plattformen, deren Einfluss, deren Geschäftsmodelle und deren teils manipulativen und übergriffigen Designtricks wir kritisieren.

Allerdings ist der einfachste Weg bekanntlich nicht unbedingt der wirksamste und schon gar nicht der nachhaltigste. So gibt es viele Bewegungen und Gemeinschaften, die sich bewusst von den dominantesten und aggressivsten unter den Plattformen distanzieren und stattdessen zum Beispiel Open Source Wikis selbst erstellen oder kostenpflichtige aber dafür privatheitssensiblere Anbieter wählen. Um einen sicheren und informierten Umgang sowie die Vielfalt unter den Anbietern zu gewährleisten, genügt es jedoch nicht, auf das autodidaktische Engagement der Nutzer*innen zu vertrauen. Schon gar nicht, wenn die Verwendung nicht mehr freiwillig ist, sondern zur Pflicht wird, wie mittlerweile vielerorts in der Telearbeit oder dem Home Schooling. Hier müssen staatliche Institutionen Rahmenbedingungen schaffen, wie beispielsweise die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), der wir es unter anderem zu verdanken haben, dass der Videokonferenzanbieter „Zoom“ zur Neusteuerung im Datenschutz gezwungen war Doch nicht nur der Schutz der Privatheit verdient staatliche Regulation. Auch der Schutz vor manipulativen Designs. Hier ist allerdings noch erheblicher Handlungsbedarf. Spätestens die Corona-Pandemie und unsere nicht nur infrastrukturelle, sondern auch emotionale Angewiesenheit auf digitale Technologien sollte dies deutlich gemacht haben.

Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/203881

[1] Zum Beispiel, 8. Jan. 2021: https://medium.com/digital-exhaustion/contribute-d859a6e9182c

, oder networkcultures.org/longform/2021/01/06/teaching-into-the-void/