Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Bildungsungleichheit – ein viel zu subjektiver Standpunkt

von Mareike Gebhardt

17.11.2021 · Statistisch existiere ich nur als sehr geringe Wahrscheinlichkeit. Ich bin in der bayerischen, also mehrheitlich katholischen, Provinz in einem bildungsfernen Haushalt eines alleinerziehenden Elternteils großgeworden; inzwischen bin ich promoviert und stehe kurz davor, meine Habilitation fertigzustellen. Als ich in den frühen 2000er Jahren zu Beginn meines Studiums in der Vorlesung zur Einführung in die Sozialstrukturanalyse saß, zählte die Professorin – in der Soziologie traf man häufiger auf Frauen als in meinem Hauptfach Politikwissenschaft – additiv statt intersektional auf, dass „die katholische Arbeitertochter vom Land“ am stärksten von Bildungsungleichheit betroffen ist. Die Erkenntnis traf mich hart: Das war ich. Bei Bildungsungleichheit greifen verschiedene Achsen der Diskriminierung – gender, class, race, aber auch religiöse Zugehörigkeit und der Wohnort – ineinander, verstärken die Diskriminierungswahrscheinlichkeit und schaffen eine spezifische Form der Diskriminierung. Ich werde im Folgenden die Verschränkung von gender und class im Hinblick auf das deutsche Bildungs- und Wissenschaftssystem diskutieren, was sich aus meiner eigenen Positioniertheit heraus erklärt, aber auch aus der Marginalisierung klassismuskritischer Perspektiven in der Philosophie wie auch den Sozial- und Kulturwissenschaften.

Von den wenigen Arbeiterkindern, die ein Studium beginnen – es sind 24 von 100, während 71 Kinder aus Akademikerfamilien studieren – bleiben bei der Promotion nur wenige übrig. Für beide Gruppen ist dabei der Bildungsstatus des Vaters entscheidend. Es wird noch einsamer, sobald man sich nach weiblichen Arbeiterkindern unter den Postdoktorand*innen des deutschen Wissenschaftssystems umsieht. Auf den Professuren sind die gläsernen Decken besonders solide; so sind z.B. an der Universität Münster nur ca. 20% Personen auf einer C4/W3 Professur, die von der Studie als „Frau“ ausgewiesen werden. Nicht jede gläserne Decke kann durchbrochen werden: schon gar nicht allein, hochgradig individualisiert und ohne Solidarität, die die Konkurrenz- und Prekarisierungsmechanismen des universitären Betriebs nahezu verunmöglichen. Diskriminierung aufgrund von class und gender, aber auch aufgrund von race und ability, ist die Normalität des deutschen Wissenschaftssystems. Vereinen Personen(-gruppen) verschiedene Achsen der Diskriminierung, befinden sich diese Personen mehrfach „im Schatten“, wie dies Gayatri Chakravorty Spivak in ihrem inzwischen berühmten Aufsatz „Can the Subaltern Speak?“ zu subalternisierten Frauen of color unter der Herrschaft des patriarchalen Kapitalismus formulierte.

Die Diskriminierungsachsen des Bildungssystems, durch die frühe Bildungsungleichheiten bis in die Professuren hinein reproduziert werden, weisen dabei Pfadabhängigkeiten auf, die schon in der Schule, wenn nicht sogar im Kindergarten und der Kita angelegt sind: Kinder gehen dort zur Schule/Kita, wo sie leben. Die zunehmende soziökonomische Segregation der deutschen Städte, aber auch des ländlichen Raums, führt dazu, dass Kinder aus sozial schwachen Milieus dort zur Schule gehen, wo es weniger gute Betreuungs- und Förderinfrastruktur gibt; wo Lehr*innen in ihrem Alltag gegen soziale Vorurteile – auch die eigenen – kämpfen und wo von Schüler*innen bildungspolitisch nichts erwartet wird, außer vielleicht einen unteren Schulabschluss zu erreichen, wenn überhaupt. Dagegen gehen Kinder gut situierter und höher gebildeter Eltern – Väter! –, in der Regel auf Schulen, die über sehr gute Infrastruktur und Förderinstrumente verfügen; wo Lehrkräfte, unterstützt durch pädagogische Zusatzangebote, sich auf die – ebenfalls zu problematisierende – Vermittlung des ‚Bildungskanons‘ des deutschen Wissenssystems konzentrieren können – und weniger soziale Arbeit leisten müssen als ihre Kolleg*innen in sog. ‚Brennpunktschulen‘. Auch steigt die Rate der an privatisierten Schulen ausgebildeten Kinder aus bildungsnahen Familien stetig.

Bildungsaufstieg braucht aber nicht nur entsprechende Infrastruktur, sondern sozialen Zusammenhalt. Welch große Rolle Bildungssolidarität zwischen Lehrenden und Schüler*innen bzw. Studierenden spielt, zeigt meine eigene Vita: Mit zehn Jahren landete ich zur völligen Überraschung meines alleinerziehenden Vaters auf einem Gymnasium. Meine beiden Grundschullehrerinnen hatten wesentliche Überzeugungsarbeit geleistet. Solidarität gilt als „Bedingung von sozialer Mobilität“, so die Professorin Zoe Clark (2020), selbst Arbeiterkind. Ich wurde also auf einer weiterführenden Schule ausgebildet, die einst die ‚höheren Töchter‘ der Stadt auf ein bürgerliches Leben vorbereiten sollte – wo ich doch selbst eine ‚untere Tochter‘ war. Der bourgeoisen Semantik zwar beraubt, befand ich mich jedoch immer noch in der Gesellschaft von Chirurgen-, Anwalts- und Gymnasiallehrertöchtern (die Väter!). Ich erfuhr dort soziale Maßnahmen, die man in den USA wohl als affirmative action kennt. Da durch die Ausbildung von „Töchtern“ gender bereits berücksichtigt schien, sollte in meinem Fall noch class unter den liberalen Fahnen der Chancengleichheit in der Förderpolitik der Schule zum Tragen kommen. Heute würde man, neoliberal, von diversity management sprechen. Sie, liebe Leser*innen, könnten hier nun einwenden: Warum beschweren? Bin ich nicht Beweis für die bestehende Chancengleichheit des deutschen Bildungssystems? Wichtig bei der Antwort ist die Erkenntnis, dass alles auch hätte anders laufen können: Weder bin ich als Heldin meines eigenen Bildungsaufstiegs zu feiern, noch dürfen wir diejenigen vergessen, die es eben nicht schaffen – und zwar nicht, weil die weniger gearbeitet oder geleistet hätten, sondern weil das System den demokratischen Zugang aller von vornherein verunmöglicht. Sowohl „individualisierungstheoretische Prämissen“ als auch „naive Annahmen über die Zusammenhänge von Bildungs- und sozialer Ungleichheit“ sind bei der Analyse von Bildungsaufstieg zu vermeiden, schlussfolgert Clark (2020, 153f.). Denn die Vorstellung, man müsse nur hart genug arbeiten, und dies führe dann automatisch zu Bildungserfolgen, fällt einer bildungspolitischen Illusion anheim: dass im Spätkapitalismus alle gleichermaßen prekarisiert sind, dass Ungleichheit quasi demokratisiert wurde. Stattdessen verstärken sowohl liberale Ordnungsmodelle einer formalen (Rechts-)Gleichheit als auch neoliberale Regierungstechnologien des Selbst (bestehende) Ungleichheiten.

Wichtig ist auch zu betonen: Falls Arbeiterkinder an einer deutschen Universität stranden, dann haben sie bereits sehr viel Kraft und Energie in Bildung gesteckt. Sie kommen bereits erschöpft an den Universitäten und Hochschulen an; und meist eher an Hochschulen als an Universitäten – auch hier reproduzieren sich ungleiche Standards. Sie müssen dann meist während des Studiums arbeiten, wissen weniger über universitäre Infrastruktur und erhalten weniger oft Angebote von Professor*innen für eine Hilfskraftstelle. Dennoch brechen Arbeiterkinder das Studium nicht öfter ab als ihre Kommiliton*innen aus den bildungsnahen Familien und haben auch ebenso guten Noten wie sie. Dennoch: Alle paar Sprossen auf der Leiter des Bildungserfolgs wieder eine gläserne Decke durchbrechen zu müssen, ist sehr, sehr anstrengend. Es ist kräftezehrend, jeden Tag die Rolle des ‚Bildungserfolges‘ zu performen, Wissen über universitäre Strukturen zu generieren, nach den richtigen Orten des wichtigen Wissens zu suchen, während Kommiliton*innen aus bildungsnahen Familien sehr viel selbstverständlicher ihren Platz an deutschen Universitäten einnehmen und meist schon im ersten Semester ihr Auslandsstudium planen – oder sich die Kolleg*innen in der Wissenschaft das nächste Fellowship an einer prestigeträchtigen internationalen Universität zu sichern suchen, während Arbeitertöchter erst einmal verstehen müssen, was studieren und dann auch promovieren überhaupt bedeutet. Währenddessen gilt es dann darüber hinaus, sich von der ‚Kontamination‘ durch das Proletarische zu befreien UND sich in einem patriarchalen System zu behaupten: gehört und gesehen zu werden. Dieses Ungleichgewicht besteht während des Studiums und setzt sich auf jeder weiteren Stufe des Bildungssystems fort, vielleicht wird es sogar noch krasser. Ich erinnere mich daran, wie ich bei einem meiner ersten conference dinner einer internationalen Tagung mit der richtigen Verwendung des vielen Bestecks, das neben meinem Teller lag, völlig überfordert war, während sich um mich herum über die Güte der gerade gehörten key note angeregt unterhalten wurde. In dieser Situation sowohl den Stallgeruch meines ‚schlechten‘ Elternhauses zu übertünchen als auch den maskulinistischen Habitus der Akademie zu performen, haben an mir gezehrt, meine Selbstzweifel geschürt – was, verdammt nochmal, mache ich eigentlich hier?!

Nach erfolgreicher Beendigung des Studiums verlassen viele Arbeiterkinder das Wissenschaftssystem, um, bestenfalls, einen sicheren und solide bezahlten Beruf zu ergreifen. Hier haben Arbeiterkinder dann eigentlich schon „overachieved“. Eine akademische Karriere nach dem Studium erscheint für (weibliche) Arbeiterkinder aus verschiedenen Gründen unmöglich: Das Berufsprofil einer Wissenschaftler*in ist vage und ohne familiäre Vorbilder kaum zu imaginieren. Weiterhin ist es kaum mit den Vorstellungen eines gelungenen weiblichen Lebens vereinbar – Stichworte: care, Familie, Kinder. Die Anstellung als wissenschaftliche Mitarbeiter*innen ist außerdem durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (ökonomisch) hochgradig prekär. (Weibliche) Arbeiterkinder erhalten gesellschaftlich aber auch das Signal, mit einem Studium schon ‚genug‘ erreicht zu haben, schon mehr gemacht zu haben als gesellschaftlich von ihnen erwartet wird, und wollen daher ihren Erfolg nicht ‚überstrapazieren‘. Schließlich haben sie den von der Gesellschaft zugewiesenen Platz bereits verlassen, sich ganz schön weit weg von den vorgesehenen Bahnen bewegt und sind auf der Hierarchie der sozialen Anerkennung höher geklettert. Eine Promotion, gar eine Professur erscheint zu gierig.

Spätestens seit der Bologna-Reform des europäischen Hochschulsystems in den späten 1990ern erwartet die neoliberale Hochschule von ihren Subjekten nicht nur ‚exzellente‘ Leistungen, sondern auch vollkommene individuelle Selbstregierung. Wenn man nachts noch die Tische in der Kneipe abwischen, am Wochenende im Einzelhandel malochen muss, um seine Miete und seine Grundversorgung zu sichern, dann kann man sich dem Studium bzw. der Promotion vielleicht nur 80% widmen statt die erwarteten 120%. Muss man auf seine eigene mentale Gesundheit achten, Kinder betreuen oder Angehörige pflegen, gegen (auch rassifizierte) Alltagssexismen sowie Klassismus kämpfen und darüber hinaus den in fast allen wissenschaftlichen Disziplinen gepflegten akademischen Habitus, der vergeschlechtlicht funktioniert, trainieren, dann ist ein Studium bzw. eine Promotion eine große, sehr große Herausforderung – eine Professur zu erlangen, scheint schier unmöglich, und irgendwie auch: vermessen… Um mit einem Verweis aus der kritischen Gesellschaftstheorie zu enden, wie sich dies für eine gut geschulte Sozialwissenschaftlerin gehört: Dort wo Macht ist, ist Widerstand aber immer auch möglich.

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Literatur

Clar, Zoe. 2020. Solidarität als Bedingung sozialer Mobilität. In Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft, hg. von Julia Reuter, Markus Gamper, Christina Möller und Frerk Blome. Bielefeld: transcript, S. 153-161.