Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Videokonferenzen als strukturelle Benachteiligung im digitalen Arbeitskontext

Von Jenny Dietrich

01.02.2022 · Videokonferenzen prägen einen großen Teil unserer Arbeitswelt und viele positive Entwicklungen werden mit der damit verbundenen digitalen Veränderung verknüpft. Jedoch sind zahlreiche Videokonferenzen in der Arbeitswoche für manche Mitarbeitende ermüdender als für andere. Das Geschlecht, das Alter, die Persönlichkeit, die Herkunft und die Rahmenbedingungen von Videokonferenzen bei der Arbeit haben dabei einen wesentlichen Einfluss. Besonders bestehende, nicht an die digitale Arbeitswelt angepasste und somit unreflektierte Arbeitsstrukturen können in Zusammenhang mit Videokonferenzen zu einer Benachteiligung einiger Mitarbeitenden führen.

Unsere Arbeitswelt in der Pandemie ist zum Großteil von zahlreichen Videokonferenzen geprägt. Egal ob an Hochschulen oder im Unternehmen, im Büro oder in der mobilen Arbeit, es haben sich gewisse Strukturen etabliert, wie mit Videokonferenzen bei der Arbeit umgegangen wird. An diese Veränderungen haben sich die meisten Mitarbeitenden nach knapp zwei Jahren der Pandemie gewöhnt. Die anfänglichen technischen Unwegsamkeiten sind überwunden und nun bringen Videokonferenzen viele positive Entwicklungen mit sich: Kontaktreduzierung in der Pandemie, flexiblere Arbeitszeiten, ein kürzerer Weg zur Arbeit durch wegfallendes Pendeln, was nebenbei auch reduzierte Schadstoffemissionen zur Folge hat, und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie (Bailenson, 2021). Inwieweit sollten Videokonferenzen also Mitarbeitende benachteiligen?

Eine Auswirkung von Videokonferenzen auf Mitarbeitende, zieht man die üblichen Effekte der Arbeitsbelastung von Meetings auf diese ab, besteht in der durch Videokonferenzen ausgelöste Erschöpfung (Rump & Brandt, 2020). Die Erschöpfung äußert sich in Form von unkonzentriertem Arbeiten, genervt sein und in Form von Ungeduld (Rump & Brandt, 2020). Knapp 60% aller Befragten gaben in einer Studie an, dass sie unter solchen Folgen von mehreren Videokonferenzen in ihrer Arbeitswoche leiden (Rump & Brandt, 2020). Allein die Tatsache, dass eine Videokonferenz mit Arbeitskolleg*innen für Arbeitszwecke genutzt wird und es sich nicht um eine Videokonferenz in der Freizeit mit Freunden handelt, beeinflusst die Ermüdung zusätzlich (Fauville et al., 2021). Auch die Taktung und die Länge der Videokonferenzen wirken sich auf Mitarbeitende aus. Nicht ungewöhnlich scheint daher, dass sich Mitarbeitende in Arbeitswochen mit mehreren und längeren Videokonferenzen müder fühlen als in Arbeitswochen, in denen weniger Videokonferenzen von kürzerer Dauer anfallen (Fauville et al., 2021a).

Besonders auffallend sind in den bisherigen Studien die Auswirkungen von Videokonferenzen für Frauen. Angeführt wird, dass Frauen nach mehreren Videokonferenzen aufgrund der „Spiegel-Angst“ stärker ermüden als Männer (Fauville et al., 2021): Die andauernde Konfrontation mit dem Anblick des eigenen Videos führt bei ihnen häufiger zu erhöhtem Stress, da Frauen mit ihrem Auftreten kritischer umgehen (Fox, 1997). Bezieht man diese Ergebnisse auf das im Arbeitskontext bestehende Gender-Gap, so scheinen Videokonferenzen im Arbeitsalltag nicht die Gleichstellung von Mann und Frau in Organisationen zu fördern, welche jedoch eines der zentralen Versprechen der digitalen Transformation und des mobilen Arbeitens darstellt. In einer ersten Bilanz sind Videokonferenzen demnach nicht nur gesundheitsgefährdend, sondern auch benachteiligend für das weibliche Geschlecht. Hinzu kommt, dass derzeitige Studien nur zwei Geschlechter betrachten, das männliche und das weibliche. Es ist nicht absehbar, welche Auswirkungen Videokonferenzen auf Menschen haben, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen können. Eine Konsequenz daraus sollten Veränderungen der Arbeitsbedingungen und ein veränderter Umgang mit digitalen Technologien sein, sodass Menschen unabhängig des Geschlechts gute Arbeit leisten können.

Zusätzlich tragen Alter, Persönlichkeit und Herkunft zur Benachteiligung durch Videokonferenzen bei. Menschen, die jünger und introvertierter sind, leiden mehr unter Videokonferenzen und ihren Ermüdungserscheinungen als Menschen, die älter und extrovertierter sind. Besonders besorgniserregend sind auch erste statistische Indizien aus den USA, die darauf hinweisen, dass Menschen, die nicht der weißen Mehrheitsgesellschaft angehören, durch Videokonferenzen stärker belastet sind (Fauville et al., 2021).

Nach zwei Jahren der Pandemie bleibt offen, welche weiteren Formen der Benachteiligung durch Videokonferenzen existieren, auf die bisher kein Augenmerk gerichtet wurde. Bei Betrachtung der Gegebenheiten in der mobilen Arbeit kann man verschiedene potenzielle Gruppen von Mitarbeitenden identifizieren, die sich ebenfalls Benachteiligungen durch Videokonferenzen ausgesetzt sehen. Wie steht es beispielsweise um Mitarbeitende in Regionen, in denen die (Internet-) Infrastruktur nur unzureichend ausgebaut ist, oder um Familien, deren Wohnraum keinen ruhigen Arbeitsplatz für Videokonferenzen zulässt? Wie wirkt sich die Benachteiligung auf Mitarbeitende aus, bei denen mehrere Faktoren zusammenkommen, beispielsweise weibliche People of Color oder junge weibliche Mitarbeitende, die auf dem Land wohnen und Kinder haben? Unabhängig der genannten Beispiele kann von Mitarbeitenden in einem Anstellungsverhältnis nicht erwartet werden, dass diese für ihre eigene und notwendigerweise qualitativ hochwertige technische und ergonomische Arbeitsplatzausstattung allein verantwortlich sind.

Es wird deutlich, dass die Benachteiligung durch Videokonferenzen im Arbeitskontext in das Bewusstsein der Organisationen gerufen und kommuniziert werden sollte. Mitarbeitende in Deutschland spüren zurzeit erst milde Auswirkungen in Folge von beruflichen Videokonferenzen (Rump & Brandt 2020). Doch die Auswirkungen auf die Mitarbeitendengesundheit werden bei gleichbleibenden Strukturen und einer zunehmenden Anzahl an Videokonferenzen gravierender. Sie können sich in die Richtung der körperlichen, psychosomatischen und psychischen Ebene verlagern (Rump & Brandt 2020). Es sollte verhindert werden, dass Videokonferenzen zu Lasten einiger Mitarbeitenden gehen, weil sich suboptimale Strukturen und Verhaltensweisen manifestiert haben.

Da Videokonferenzen in die (mobile) Arbeitswelt gekommen sind um zu bleiben, ist es notwendig, bessere Rahmenbedingungen für die Mitarbeitenden zu schaffen. Somit sollte der Blick auf solche Strukturen gelegt werden, die im organisationalen Arbeitskontext zahlreiche Videokonferenzen ermöglichen und deren Anzahl und Länge nicht regulieren. Auch persönliche Bedingungen sollten sichtbar und damit explizit gemacht werden, um die Möglichkeit zu eröffnen, die gegebenen Strukturen zu reflektieren, sodass diese an die Bedarfe der Mitarbeitenden und der Organisation angepasst werden können. Die Aufmerksamkeit sollte nachdrücklich auf diejenigen Mitarbeitenden gelegt werden, die besonders von der Benachteiligung durch Videokonferenzen betroffen sind. Es ist Zeit, strukturelle Benachteiligungen durch Videokonferenzen abzubauen, um zukünftig eine gerechtere Gestaltung des Arbeitsplatzes zu ermöglichen.

Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/226182

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Bailenson, J. N. (2021). Nonverbal Overload: A Theoretical Argument for the Causes of Zoom Fatigue. American Psychological Association. https://doi.org/10.1037/tmb0000030

Fauville, G., Luo, M., Queiroz, A. C. M., Bailenson, J. N., & Hancock, J. (2021). Nonverbal Mechanisms Predict Zoom Fatigue and Explain Why Women Experience Higher Levels than Men. http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3820035

Fauville, G., Luo, M., Queiroz, A. C. M., Bailenson, J. N., & Hancock, J. (2021a). Zoom Exhaution and Fatigue Scale. Computers in Human Behavior Reports, 4. https://doi.org/10.1016/j.chbr.2021.100119

Fox, K. (1997). Mirror, mirror. A summary of research findings on body image. Social Issues Reserach Center. Abgerufen am 24.01.2022, von http://www.sirc.org/publik/mirror.html

Rump, J., & Brandt, M. (2020). Zoom-Fatigue 2. Phase. Abgerufen am 04.06.2021, von https://www.ibe-ludwigshafen.de/wp-content/uploads/2021/01/IBE-Studie- Zoom-Fatigue-2-Phase.pdf