Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Echte Beratung oder „ethischer Anstrich“? Zu den Grenzen von Organisationsethik im Gesundheitswesen

von Christiane Burmeister

21.02.2022 · Ethikberatung im Gesundheitswesen wird zunehmend nicht durch externe Expert*innen geleistet, sondern durch basisgeschulte Mitarbeiter*innen aus den eigenen Reihen, die entweder selbst beratend tätig werden oder etwa eine ethische Fallbesprechung mit dem behandelnden Team (seltener auch den Angehörigen) durchführen.[1] In erster Linie soll damit die ethische Qualität der Patient*innenversorgung in Situationen der Handlungsunsicherheit gewährleistet werden, bspw. wenn therapeutische Ziele umstritten sind, die Betroffenen keinen Willen äußern können oder eine Konkurrenz um knappe Ressourcen besteht. In zweiter Linie aber geht es auch darum, die moralische Güte einer Entscheidung auf das ethisch gut durchdachte Verfahren der Entscheidungsfindung auszulagern und so die einzelnen Entscheider*innen zu entlasten. In diesem Zusammenhang wird nicht selten angeführt, dass Ethikberatung auch dem Abbau bzw. der Prävention von „Moral Distress“ dient (vgl. Graeb 2018; Eisele 2017; Ranisch et al. 2021).

Dass bei solchen Argumenten allerdings eine notwendige Differenzierung von Belastungsursachen und -symptomen geboten ist, zeigte Nikolai Münch in seinem kürzlich erschienenen Blogbeitrag einleuchtend anhand des Beispiels „Resilienzförderung“. So ist die einseitige Fokussierung auf die individuelle Stressbewältigung der Pflegenden aus ethischer, wissenschaftlicher und letztlich auch pragmatischer Sicht mindestens unzulänglich, schlechtestenfalls schädlich. Ein zentrales Problem ist dabei die Verzerrung von Verantwortungsbezügen. Wie sich bei genauerer Betrachtung der für die Pflegesituation charakteristischen Belastungsfaktoren zeigt, wurzeln diese vielfach in Bedingungen, die nicht individuell zugänglich sind, sondern auf Meso- und Makroebene gestaltet werden. Anders ausgedrückt: Einer dauerhaften Überbeanspruchung durch personelle Engpässe, fehlende Pausen oder pflegefremde Tätigkeiten kann und sollte eine Pflegekraft nicht mit einem „Mindful living“-Kurs begegnen.

Ganz ähnlich verhält es sich im Fall der Organisationsethik: Einem dauerhaft schwelenden Gewissensdruck, Patient*innen nicht angemessen versorgen zu können, kann auch eine (immer kasuistisch veranlagte) ethische Fallbesprechung nicht beikommen. Es gilt also hier wie dort, die jeweils richtige „Kostenstelle“ zu adressieren und nicht von falscher Seite Anpassung zu verlangen. Denn so wie auch die Resilienzförderung durch Vernachlässigung der Meso- und Makroebenenprobleme nicht nur scheitern, sondern sogar ins Gegenteil umschlagen kann, kann ein Ethikmanagement, das allein auf der Weiterbildung von Mitarbeiter*innen zu „Ethikbeauftragten“, „Ethikmoderator*innen“ oder ähnlichem beruht, stärkeren Moral Distress hervorrufen als zuvor bestand. Dann nämlich, wenn diese Mitarbeiter*innen mit ihrer nun geschärften Sensibilität für ethische Konflikte eine noch größere Diskrepanz zwischen Gewissensdruck und Handlungsmacht erleben (vgl. Christen & Katsarow 2016). Dies ist bspw. der Fall, wenn einem Pflegeteam durch die Auseinandersetzung mit medizinethischen Prinzipien die Bedeutung von individuellen Aushandlungsprozessen zur Erfassung der angemessenen Pflegeleistung bewusst wird, aber die dazu notwendigen, zeitintensiven Kontaktaufnahmen (u.a. auch mit Angehörigen) im Korsett eines überfüllten Dienstplans nicht leistbar sind. Die ethisch moderierte Besprechung von Einzelfällen kann immer nur für ebendiese Einzelfälle Abhilfe schaffen und wird in der Regel auch nur ab einer kritischen Zuspitzung der Situation einberufen – etwa, wenn bereits ein offener Konflikt zwischen behandelnden Akteuren (Ärzt*innen und Pfleger*innen) oder zwischen Behandelnden und Angehörigen entbrannt ist. Dieses Instrument zu haben, ist freilich hilfreich. Damit es aber nicht zu einem Feigenblatt gerät, das systemische Mängel zu verdecken hilft, ist es von entscheidender Bedeutung, neben den Akteuren „am Krankenbett“ auch die Akteure der organisationalen Leitungsebene regelhaft – und nicht nur initiativ – in organisationsethische Programme einzubeziehen; Akteure, die die ethische Reflexion an der Basis unterstützen, ihr im wahrsten Sinne des Worte Raum und Zeit geben (bspw. durch Freistellung für ihre Ethikarbeit), den Bedarf für Leitlinien, Handreichungen oder Fortbildungen erkennen und Entsprechendes umsetzen. Das wird in Kliniken für gewöhnlich durch ein quartalsmäßig tagendes, die Geschäftsführung beratendes Ethikkomitee realisiert – ein Modell, das sich zunehmend auch in außerklinischen, dezentralen Organisationen finden lässt.[2]

Solche Mehrebenenmodelle des Ethikmanagements scheinen auf den ersten Blick die angemessenen Verantwortungsbezüge herzustellen und jedes Problem am passenden Ort durch die richtigen Akteure bearbeiten zu lassen. Tatsächlich ist aber für die Adressierung der „richtigen Kostenstelle“ eines Problems nichts gewonnen, wenn sich die Gesprächsthemen all dieser Reflexionsgremien am Ende wieder nur auf individualethische Herausforderungen beziehen, wenn also auch das Ethikkomitee nur Empfehlungen und Orientierungsschriften für den richtigen Umgang der Ärzt*innen, Therapeut*innen und Pfleger*innen mit herausfordernden Situationen entwirft, während die zum Problem beitragenden oder es sogar herbeiführenden Rahmenbedingungen dieses Handelns gänzlich unberührt bleiben.

Wie könnte ein Ethikmanagement gestaltet sein, das in der Lage wäre, echte organisationsethische Fragen aufzunehmen? Diese Frage konnte bisher weder in der einschlägigen Theorie noch anhand praktischer Modelle zufriedenstellend beantwortet werden. Die Gründe dafür sind so offensichtlich wie schwerwiegend: Zum einen fragt sich, welche Handlungsspielräume auf dieser Ebene für die einzelne Organisation überhaupt bestehen. Um ein besonders prekäres Beispiel zu nennen: es ist kaum umstritten, dass Abläufe und Strukturen in Krankenhäusern entscheidend durch ökonomische Gesichtspunkte geprägt sind. Ein Beispiel ist das Vergütungssystem der diagnosebasierten Fallpauschalen (DGRs), das Anreize zur „lukrativen Diagnosestellung“ setzt (vgl. Wehkamp 2017, aber auch Marckmann 2021). Solche Probleme können freilich nur schwer im Rahmen der üblichen organisationsethischen Instrumente adressiert werden.

Ein zweites Problem ist das der Selbstbelastung. Welche*r Verantwortliche wollte etwa in einer ethischen Fallbesprechung zugeben, aus Kostendruck eine*n Patient*in zu früh entlassen zu haben, um einen neuen, einträglicheren Fall aufnehmen zu können? Welche Pflegedienstleitung könnte in einer Sitzung des Ethikkomitees einräumen, der systematischen Übernahme von ärztlichen Tätigkeiten durch Pflegepersonal mitgetragen oder gar angeordnet zu haben?[3]

Dennoch ist es wichtig, den Beitrag von Bedingungen wie Kostendruck, Personalmangel oder Fehlanreizen zu einem ethischen Problem nicht zu kaschieren, sondern anzuerkennen und immerhin festzuhalten, ob es sich bei individuellen Ansätzen um echte Lösungen oder nur um „ethische Mangelverwaltung“ handelt (Marckmann und Maschmann 2017). Eine Chance darauf ergibt sich vielleicht, wenn die vorhandenen organisationsethischen Mittel mit der zusätzlichen Möglichkeit ausgestattet werden, eventuelle Systemprobleme zu erfassen und einer Bearbeitungsform außerhalb des jeweiligen Instruments zuzuführen. Bspw. könnte ein an die ethische Fallbesprechung anschließender eigenständiger Reflexionsschritt prüfen, ob dem besprochenen Problem systemische Schieflagen vorausgehen. Dieser Schritt müsste vermutlich besondere Bedingungen erfüllen, die eher dem Whistleblowing-Prinzip als dem offenen Austausch entsprechen, also einen höchst vertraulichen bis gänzlich anonymen Rahmen schaffen. Die Sammlung und Bewertung dieser Vermerke könnte anschließend durch eine zentrale Schaltstelle mit (organisations-)ethischer Kompetenz geschehen, die in der Lage wäre, bedeutsame Entwicklungen oder Fragestellungen an das übergeordnete Ethikkomitee weiterzuleiten. Eine günstige Voraussetzung wäre also das Vorhandensein einer solchen vermittelnden Schalt- bzw. Koordinationsstelle zwischen den ethischen Reflexionsweisen von Organisations- und Mitarbeiterebene, wie man sie vor allem in dezentralen Gesundheitseinrichtungen bereits finden kann.[4]  Die noch wesentlichere Voraussetzung ist die Bereitschaft der Organisation, Diagnosemechanismen dieser Art zuzulassen. Hier ist auch die wissenschaftliche Seite gefragt, ein Bewusstsein über die blinden Flecken organisationsinternen Ethikmanagements zu schaffen und Anregungen für verbesserte Konzepte zu geben, die sich gegebenenfalls in transdisziplinären Pilotprojekten beweisen können.  

 

Literatur

 

Christen M, Katsarov J (2016), Moral sensitivity as a precondition of moral distress. The American Journal of Bioethics 16(12), S. 19-21.

Eisele, C. (2017), Moralischer Stress in der Pflege: Auseinandersetzung mit ethischen Dilemmasituationen, Wien: Facultas.

Graeb, F. (2018), Ethische Konflikte und Moral Distress auf Intensivstationen: eine quantitative Befragung von Pflegekräften, Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.

Marckmann, G/ Maschmann, J. (2017), Ökonomisierung: Ethische Mangelverwaltung. Deutsches Ärzteblatt 2017;114(44), S. 2028-2032.

 

Marckmann G. (2021), Ökonomisierung im Gesundheitswesen als organisationsethische Herausforderung, in: Ethik in der Medizin, 33(2021), S. 189-201.

 

Ranisch, R., Riedel, A., Bresch, F. (2021), Das Tübinger Modell der „Ethikbeauftragten der Station“: Ein Pilotprojekt zum Aufbau dezentraler Strukturen der Ethikberatung an einem Universitätsklinikum. Ethik in der Medizin, 33(2021), S. 257–274.

 

Wehkamp K.-H./ Naegler H. (2017), Ökonomisierung patientenbezogener Entscheidungen im Krankenhaus. Eine qualitative Studie zu den Wahrnehmungen von Ärzten und Geschäftsführern, in: Deutsches Ärzteblatt 2017;114(47), S. 797-804.

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[1] Vgl. bspw. die „Ethikbeauftragten der Station“ des UKT, vorgestellt in Ranisch et al. (2021).

[2] Vgl. für Baden-Württemberg bspw. die BruderhausDiakonie, die Diakonie Stetten oder die Stiftung Liebenau.

[3] Dass das Design ethischer Fallbesprechungen hierarchiebedingte Effekte auf den möglichst freien und gleichberechtigten Diskurs zu minieren versucht, ist hilfreich, um einen geschützten Raum für auch abweichende Meinungsäußerungen zu bieten. Die Hemmschwelle für Selbstbelastungen wird es aber nicht senken, da dieses Problem weitaus schwerwiegender ist und Mitarbeiter*innen auch in diesem Setting nicht vor arbeits- oder gar strafrechtlichen Konsequenzen geschützt sind.

[4] Vgl. die Position der Ethikbeauftragten der BruderhausDiakonie Reutlingen oder die Stabsstelle Ethik der Stiftung Liebenau.