Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Digitale Lösungen für Probleme mit Demenz - Chancen und Risiken auszubalancieren, reicht nicht aus

von Mone Spindler

29.03.2022 · Demenz und Digitalisierung sind beides komplexe Felder und politisch, ökonomisch und emotional aufgeladene Themen. Beide stellen unser Verständnis vom Menschsein auf die Probe. Aktuell werden von Politik und Pflege die Potentiale digitaler Lösungen für Herausforderungen mit Demenz ausgelotet. Chancen und Risiken sollen dabei ausbalanciert werden. Das klingt gut. Aber es reicht nicht aus. Denn Chancen und Risiken lassen sich nicht einfach ausbalancieren. Teilhabe an technischem Fortschritt würde andere Ansätze erfordern. Digitale Techniken entfalten nur in gut ausgestatteten Pflegeensembles ihre Potentiale. Und selbstbestimmte Technikanwendung muss für Demenz und Digitalisierung neu gedacht und fortwährend hergestellt werden.

Demenz und Digitalisierung sind beides komplexe Felder und politisch, ökonomisch und emotional aufgeladene Themen. Beide stellen unser Verständnis vom Menschsein auf die Probe. Das Thema kommt deshalb mit einiger Ladung daher. Demenz wird mitunter als Paradebeispiel misslungenen Alterns dargestellt und als Inbegriff des demographischen Wandels, der den Bestand unserer Gesellschaft und die Sozialsysteme bedroht. Umgekehrt gilt Digitalisierung als Megatrend, der ungeahnte Chancen in allen Lebensbereichen birgt. Digitale Techniken sollen nicht nur unsere Teilhabe am globalen Wettbewerb sichern, sondern dabei auch zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen beitragen. Wenn der Geist durch Demenz verloren geht, könnte künstliche Intelligenz nicht die Lösung sein?[1] Und könnten digitale Pflegetechniken die Antwort auf fehlende Pflegekräfte und überlastete pflegende Angehörige sein?

Im Zuge der Digitalisierung des Gesundheitswesens werden aktuell in Politik und Pflege die Potentiale digitaler Lösungen für Menschen mit demenziellen Erkrankungen ausgelotet. Chancen und Risiken sollen dabei ausbalanciert werden.[2] Das klingt gut. Im Folgenden möchte ich vier Gründe dafür anführen, warum das nicht ausreicht. Dabei schöpfe ich aus soziologischer und ethischer Forschung zum Thema.

Doch zunächst: Worüber genau reden wir? Demenz und Digitalisierung wird in drei Anwendungsbereichen diskutiert.[3] In den Lebenswissenschaften hofft man, mithilfe von Big Data und maschinellem Lernen die molekularen Ursachen und Mechanismen von Demenzen besser zu verstehen. In der Pharmakologie will man so neue Behandlungsmöglichkeiten für Demenz finden. Dieser Beitrag befasst sich mit technischen Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen mit demenziellen Erkrankungen, Pflegende, Angehörige, Ärzt*innen etc. Dabei handelt es sich um ein unübersichtliches Feld verschiedenster Techniken, die sich meist noch in der Entwicklung finden und keine breite Verbreitung in der Praxis haben. Es reicht von Assistenz- und Monitoringsystem über E-Health-Anwendungen, Aktivierungs- und Trainingssysteme, Digitale Techniken für Pflegedienstleister und Informationsangebote für Angehörige und Betroffene. Die folgenden Beispiele vermitteln einen Eindruck des Technikfeldes und sollen im Folgenden meine Argumente bebildern:

  • Eine Tablet-App zur digital gestützten Biographiearbeit. In der App lassen u.a. sich Erinnerungsfotos hochladen und betrachten. Die App macht dem Anwendungsverhalten angepasste Vorschläge, welche Fotos man betrachten könnte.
  • Eine interaktive Puppe, die die Kommunikation zwischen Pflegenden und Gepflegten unterstützen soll. Die Puppe kann Mimik zeigen und sprechen. Sie ist so mit Sensoren ausgestattet, dass sie situationsgerecht reagieren und auf leichte Fragen antworten können soll.
  • Ein selektives Türschließsystem, das „weglaufgefährdete“ Bewohner*innen am Verlassen der Pflegeeinrichtung hindert, während andere Bewohner*innen die Eingangstüre ungehindert passieren können.[4]

Chancen und Risiken lassen sich nicht einfach ausbalancieren.

Dass Chancen und Risiken ausbalanciert werden müssen, sagt sich schnell. Bei genauerer Betrachtung ist es allerdings enorm schwierig, Chancen und Risiken zunächst einmal empirisch zu bestimmen und sich dann auf Kriterien für ihre Bewertung zu einigen. Es ist sinnvoll, ethische, rechtliche und soziale Aspekte bei der Entwicklung digitaler Techniken für Menschen mit Demenz einzubeziehen und auch Pflegende zu ethischen Fragen neuer Techniken fortzubilden. Eine Ausbalancierung von Chancen und Risiken kann beides nicht gewährleisten. Denn Ethiker*innen können in Entwicklungsprojekten zwar ethische Probleme zur Sprache bringen und Impulse geben, aber nicht abschließend garantieren, dass Chancen überwiegen. Und Pflegende verfügen über zu wenig Reflexions- und Entscheidungsspielräume in ihrem ohnehin herausfordernden Arbeitsalltag.

Zudem kann der Fokus auf Chancen und Risiken konkreter Techniken den Blick auf grundsätzlichere Fragen, wie die nach Alternativen, verstellen. Ließen sich die Ziele auch mit anderen Mitteln erreichen? Was könnte man mit den Ressourcen, die für digitale Techniken gebraucht werden, alternativ machen? Und wie könnte eine demenzgerechte Gesellschaft aussehen, so dass die Probleme, die mit Technik gelöst werden sollen, erst gar nicht auftreten oder als problematisch wahrgenommen werden? Beispiel selektive Türschließung: Würde es auch dann als problematisch wahrgenommen werden, dass Bewohner*innen die Einrichtung verlassen wollen, wenn vor der Demenzeinrichtung keine Straße ohne Zebrastreifen und Geschwindigkeitsbegrenzung verlaufen würde, sondern ein öffentlicher Park wäre, und ausreichend Pflegende zur Verfügung stünden, um die Bewohner*innen bei Bedarf zu begleiten oder zurück zu holen?

Teilhabe an technischem Fortschritt würde andere Ansätze erfordern.

Auch ein kritischer Blick auf die Ziele der diskutierten Techniken geht über ein Abwägen von Chancen und Risiken hinaus. Wenn von digitalen Techniken für Menschen mit Demenz die Rede ist, stehen trotzdem häufig die Ziele der Pflegenden im Vordergrund. Die bestehenden Interessenskonflikte und das Machtgefälle zwischen Pflegeeinrichtungen, pflegenden Angehörigen und Pflegebedürftigen[5] werden dabei nicht thematisiert. Eine Metastudie legt offen, dass auch bei der Evaluation digitaler Techniken für Menschen mit Demenz die Perspektiven von Heimbewohner*innen erschreckend wenig berücksichtigt werden.[6] Bei Technikevaluationen in Pflegekontexten wird zudem kaum das Problem sozialer Erwünschtheit bedacht. Für Bewohner*innen wie Angestellte ist es nicht ohne weiteres möglich, Kritik an neuen Techniken zu äußern, weil ihnen dadurch Nachteile entstehen können.

Wenn Menschen mit demenziellen Erkrankungen wirklich am technischen Fortschritt teilhaben sollen, müssen ihre Interessen, ihre Unterschiedlichkeit und verschiedene Dimensionen ihres Daseins besser berücksichtigt werden. Wenn man ihre Schwächen – und unsere Probleme damit – fokussiert, entstehen Anwendungsszenarien, in denen Menschen mit Demenz eher Gegenstand technischer Überwachung statt aktiver Anwender*innen sind. [7] Auch müssten die Anwendungen von einem Pflegeverständnis getragen sein, das dem Stand pflegewissenschaftlicher Forschung entspricht und Fürsorge nicht darauf beschränkt, zu kontrollieren, ob die Gepflegten satt, sauber und sicher sind.

Beispiel selektive Türschließung: Menschen mit demenziellen Erkrankungen werden hier aus einer Defizitperspektive betrachtet. Im Fokus stehen ihre Orientierungslosigkeit und ihr scheinbar sinnloser Bewegungsdrang. Um die Sicherheit der Einrichtungsleitung und die der Menschen mit Demenz selbst zu gewährleisten, sollen „Wegläufe“ verhindert werden. Im Ergebnis sind Menschen mit Demenz Gegenstand technischer Überwachung und keine aktiven Anwender*innen. Dabei könnte ein und dieselbe Technik mit geringfügigen Modifikationen auch dazu eingesetzt werden, die Bewohner*innen zu Ausgängen aus der Einrichtung zu befähigen. Allerdings bräuchte man dafür Personal, um die Bewohner*innen im Bedarfsfall in die Einrichtung zurück zu holen. Das führt zum nächsten Punkt.

Digitale Techniken entfalten nur in gut ausgestatteten Pflegeensembles ihre Potentiale.

Aktuell besteht eine enorme Kluft zwischen humanistischen Pflegekonzepten für Menschen mit demenziellen Erkrankungen und der prekären Praxis der Demenzpflege. Mit digitalen Pflegetechniken wird die Hoffnung verbunden, dass sie die Pflegenden so unterstützen, dass sie mehr Zeit dafür haben, sich Menschen mit Demenz zuzuwenden. Diese Rechnung geht in der Regel nicht auf. Erheblicher kommunikativer und technischer Aufwand ist nötig, um selbst simple Techniken in Pflegekontexten nachhaltig einzuführen und am Funktionieren zu halten.[8] Zumal digitale Techniken und Menschen mit Demenz eine Gemeinsamkeit haben: Beide sind leicht irritierbar. Beispiel interaktive Puppe: Als ich eine solche Puppe zum ersten Mal erlebte, sagte die Puppe zu meiner Irritation wieder und wieder mit schriller Stimme: „Huch! Jetzt habe ich mich aber erschrocken!“ Es war niemand aus dem Entwicklungsteam zugegen, der den Fehler hätte beheben können.

Die Techniken müssen also am Funktionieren gehalten werden, ohne dass Menschen mit Demenz zusätzlich irritiert werden. Das bringt mitunter neue Aufgaben für die Pflegenden mit sich, die ja eigentlich entlastet werden sollen. Meine These ist deshalb, dass digitale Techniken für Menschen mit Demenz keine Lückenfüller sind, sondern ihrerseits auch ein gut ausgestattetes, multidimensionales, menschzentriertes Pflegeensemble brauchen, um ihre Potentiale überhaupt entfalten zu können. Beispiel digitalisierte Biographiearbeit: Wenn man Biographiearbeit ernst nimmt, bedarf sie zwischenmenschlicher Anteilnahme und Anerkennung. Ein Tablet kann sicher dabei unterstützen. Ohne Pflegende, die aktiv und einigermaßen regelmäßig Biographiearbeit machen, kann man allerdings nicht ernsthaft davon sprechen, dass ein Tablet Biographiearbeit leistet.

Selbstbestimmte Technikanwendung muss neu gedacht und fortwährend herstellt werden.

In unserer Gesellschaft sind die Vorstellungen von einer gelungenen Interaktion von Mensch und Technik von den Kriterien Rationalität, Autonomie und Transparenz geprägt. Die Anwender*innen sollten sich bewusst sein über die Technik und ihren Einsatz. Sie sollten informiert entscheiden, wann und zu welchen Zwecken und wie sie Technik nutzen wollen. Sie sollten einen Überblick und die Kontrolle über ihre personenbezogenen Daten haben und an Innovationprozessen beteiligt werden.

Diese Vorstellung kommt nicht erst mit Demenz und Digitalisierung an ihre Grenzen, aber hier besonders sichtbar. Bewusstsein über eine Technik, ein selbstbestimmter Umgang damit, digitale Souveränität und Partizipation wird Menschen mit demenziellen Erkrankungen schnell abgesprochen. Sie lassen sich aber auch nicht unbedingt im üblichen Sinne voraussetzen. Bei der Einführung neuer Techniken wird zu oft nicht der nötige Aufwand getrieben, um sich einem informierten Einverständnis von Menschen mit Demenz zumindest anzunähern. In der knappen Ökonomie der Praxis werden sie mitunter nicht ausreichend über den Einsatz oder die Funktion von Techniken informiert oder gar getäuscht.[9]

Zudem schafft die Digitalisierung hier neue Bedingungen. Einige digitale Techniken werden bewusst so gestaltet, dass sie keine expliziten Gegenstände menschlicher Aufmerksamkeit sind, sondern aus kleinen, verteilten Elementen bestehen, die man nicht wahrnimmt und mit denen man nicht bewusst interagieren muss oder kann. Lernende Systeme werden entwickelt, die automatisierte Entscheidungsvorschläge machen. Die Erhebung und Verarbeitung von Daten werden zeitlich, räumlich und inhaltlich ausgeweitet, so dass der Überblick über personenbezogene Daten immer schwieriger wird. Und mit den schnellen, teils abstrakten, ökonomisch getriebenen Entwicklungsprozessen ist eine bedeutungsvolle Partizipation von Menschen mit demenziellen Erkrankungen kaum kompatibel.

Wir stehen vor der Herausforderung, wie wir Bewusstsein, Selbstbestimmung, Privatheit und Beteiligung angesichts von Demenz und Digitalisierung neu denken und ausreichend herstellen können. Zumal dies eines fortwährenden Prozesses der Bildung, Befähigung und Unterstützung bedürfen würde, der sensibel ist für die sozialen Beziehungen und die Machtstrukturen in denen Menschen mit demenziellen Erkrankungen leben.[10]

Man müsste also Menschen mit demenziellen Erkrankungen und ihre Angehörigen zur selbstbestimmten Anwendung digitaler Techniken befähigen und sie bei der Wahrnehmung ihres Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung unterstützen. Das wäre im Prinzip nicht schlecht. In Anbetracht der Tatsache, dass in vielen Demenzpflegeeinrichtungen kaum einfachste Beschäftigungsangebote gemacht werden, und pflegende Angehörige oft an ihren Belastungsgrenzen sind, wäre das allerdings auch schon wieder absurd. Das führt abschließend zu der Frage, ob über die aktuelle Aufmerksamkeit für Chancen und Risiken digitaler Lösungen für Probleme mit Demenz nicht andere, vielleicht wichtigere ethische Fragen aus dem Blick geraten: Welche Medikation von Menschen mit Demenz ist vertretbar?[11] Wie lässt sich der pflegerische Umgang mit herausforderndem Verhalten verbessern? Und vor allem: Wie schaffen wir es, humanistische Ansätze der Demenzpflege endlich flächendeckend umzusetzen?

Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/229634

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[1] Vgl. Knopp, Anke (2020): Als die Demenz bei uns einzog und ich mir einen Roboter wünschte. Innenansichten eines Demenzalltags. Stuttgart: ibidem Verlag

[2] Vgl. Elger, Bernice S. (2019): Ethical Concerns About the Use of Assistive Technologies: How to Balance Beneficence and Respect for Autonomy in the Care of Dementia Patients, in: Jotterand, Fabrice/Ienca, Marcello/Wangmo, Tenzin/Elger, Bernice S. (Hrsg.): Intelligent assistive technologies for dementia: clinical, ethical, social, and regulatory implications. New York, NY: Oxford University Press, S. 147-165.

[3] Vgl. Wangmo,Tenzin/Ienca, Marcello (2019): Epilogue: Dementia in the Digital Age, in: Jotterand, Fabrice/Ienca, Marcello/Wangmo, Tenzin/Elger, Bernice S. (Hrsg.): Intelligent assistive technologies for dementia: clinical, ethical, social, and regulatory implications. New York, NY: Oxford University Press, S. 294-295.

[4] Vgl. Spindler, Mone (2018): Wie eigenen sich Menschen mit demenziellen Erkrankungen neue Pflegetechniken an? Selektive Türschließtechniken zwischen humanistischer Theorie und ökonomisierter Praxis in der Demenzpflege. In: Harm-Peer Zimmermann (Hg.): Kulturen der Sorge. Wie unsere Gesellschaft ein Leben mit Demenz ermöglichen kann. 1. Auflage. Frankfurt, New York: Campus Verlag, S. 333–360.

[5] Vgl. Niemeijer, Alistair R.; Frederiks, Brenda J. M.; Riphagen, Ingrid I.; Legemaate, Johan; Eefsting, Jan A.; Hertogh, Cees M. P. M. (2010): Ethical and practical concerns of surveillance technologies in residential care for people with dementia or intellectual disabilities. An overview of the literature. In: International psychogeriatrics 22 (7), S. 1129–1142. DOI: 10.1017/S1041610210000037. S. 1129.

[6] Ebd.

[7] Schmidhuber, Martina; Schweda, Mark; Spindler, Mone (2016): Zwischen Überwachung und Fürsorge. Perspektiven der ethischen Debatte um Monitoringtechniken im häuslichen Umfeld älterer Menschen. In: Zeitschrift für medizinische Ethik 62 (1), S. 43–57.

[8] Vgl. z.B. Spindler, Mone (2018): Wie eigenen sich Menschen mit demenziellen Erkrankungen neue Pflegetechniken an? Selektive Türschließtechniken zwischen humanistischer Theorie und ökonomisierter Praxis in der Demenzpflege. In: Harm-Peer Zimmermann (Hg.): Kulturen der Sorge. Wie unsere Gesellschaft ein Leben mit Demenz ermöglichen kann. 1. Auflage. Frankfurt, New York: Campus Verlag, S. 333–360.

[9] Vgl. ebd.

[10] Vgl. Mark Schweda; Silke Schicktanz (2021): Ethische Aspekte co-intelligenter Assistenztechnologien in der Versorgung von Menschen mit Demenz. In: Psychiatrische Praxis 48 (S 01), S37-S41. DOI: 10.1055/a-1369-3178. S39f.

[11] Vgl. Elger, Bernice S. (2019): Ethical Concerns About the Use of Assistive Technologies: How to Balance Beneficence and Respect for Autonomy in the Care of Dementia Patients, in: Jotterand, Fabrice/Ienca, Marcello/Wangmo, Tenzin/Elger, Bernice S. (Hrsg.): Intelligent assistive technologies for dementia: clinical, ethical, social, and regulatory implications. New York, NY: Oxford University Press, S. 147-165.