Walter Hoering (1933-2019)
Nachruf Walter Hoering --- Obituary Walter Hoering (no English version available)
Unter dem Titel "Die Logik in allen ihren Aspekten. Zum Tode von Professor Dr. Dr. Walter Hoering" erschienen im Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2019.
(Foto PSH vom 10.3.2013)
Zusammen mit der Grabrede von Michael Heidelberger veröffentlicht unter DOI 10.15496/publikation-69428
Am 25. August 2019 ist Prof. Dr. Dr. Walter Hoering in München verstorben. Er war von 1978 bis 1998 Professor für Philosophie am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen. Sein Schwerpunkt in Forschung und Lehre war die Logik in allen ihren Verzweigungen.
Walter Hoering war ein Pionier der deutschen Logik der Nachkriegszeit, bei dem viele bekannte (darunter auch heute in Tübingen wirkende) Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Logikausbildung erhielten. Er gehörte zu denen, die der modernen Logik in der deutschen Philosophie ihre (heute nicht mehr bestrittene) Anerkennung verschafften. Im Übrigen ist an ihm und seinem Logik-Grundkurs in den zwei Jahrzehnten seines Tübinger Wirkens kein Philosophiestudent vorbeigekommen - andere Philosophieprofessoren konnte man beim Weg zum Magisterexamen oder zur Promotion je nach Interessenlage links oder rechts liegen lassen.
Nach dem zweiten Weltkrieg hatte die deutsche Philosophie überwiegend an existentialistische und idealistische Traditionen angeknüpft. Die Besinnung auf die Bedeutung der modernen, insbesondere durch die Mathematik geprägten, Logik für die Philosophie - in der englischsprachigen Welt längst ein allgemein akzeptiertes Faktum - blieb kleinen Zirkeln vorbehalten, teilweise außerhalb der akademischen Philosophie und vielfach getragen von Naturwissenschaftlern und Mathematikern. Ein solcher Kreis war derjenige um Wilhelm Britzelmayr in München, der es sich in einem (heute legendären) Kolloquium zur Aufgabe gemacht hatte, zeitgenössische Logik-Texte zu lesen und deren philosophischen Gehalt motivierten Studenten nahezubringen. Zu diesem Kreis (zu dem eine Reihe heute namhafter Logiker, Mathematiker und Juristen gehörten) stieß Walter Hoering 1953 ein Jahr nach Aufnahme seines Physikstudiums. Die Logik hatte ihn seitdem nicht mehr aus ihrem Bann gelassen. Eigentlich war das Interesse an ihr schon während der Gymnasialzeit durch die Lektüre eines englischen Buches über den berühmten Gödelschen Satz und die prinzipiellen Grenzen formaler Systeme geweckt worden, ausgeliehen von Landshut aus im Amerika-Haus in München. In Landshut hatte Hoering nach Memmingen und vor München das naturwissenschaftliche Gymnasium (damals unter dem Namen "Oberrealschule") besucht, nachdem die Familie des am 22.5.1933 in Tetschen (heute Tschechische Republik) Geborenen nach Süddeutschland vertrieben worden war. Das Interesse an der Logik und im Gefolge davon an der Philosophie hat dasjenige an der Physik jedoch nicht vermindert - Hoering hat beides parallel studiert und in beiden Fächern promoviert. Eine Assistentenstelle erhielt er in München schon vor der philosophischen Promotion bei seinem Lehrer Wolfgang Stegmüller, dem Nestor der deutschen Wissenschaftstheorie. Zusammen mit Stegmüller arbeitete er daran, die deutsche Logik-Forschung auf den internationalen Stand zu bringen, auch durch Übersetzungen zahlreicher Bücher und Artikel aus dem Englischen (ohne dies war es damals kaum möglich, maßgebliche Texte zur Logik und Wissenschaftstheorie Studierenden - und häufig leider auch Lehrenden - zuzumuten). Seinen internationalen Schliff erhielt Hoering während mehrjähriger Aufenthalte in Oxford und Stanford.
1978 wurde Walter Hoering drei Jahre nach seiner Münchner Habilitation als Nachfolger von Baron von Freytag-Löringhoff nach Tübingen berufen. Während Freytag-Löringhoff als "streitbarer Logiker" (Hoering) die Aristotelische Begriffslogik weiterentwickelte und gegen die moderne mathematische Logik zur Geltung brachte, vertrat Hoering eben diese mathematische Logik als die moderne Gestalt der Logik und leitete insofern in Tübingen einen grundsätzlichen Richtungswechsel im Logikunterricht ein. Die fundamentalen Differenzen auf wissenschaftlicher Ebene störten jedoch keinesfalls das gute persönliche Verhältnis beider - der "Baron" gehörte zeitweilig zu Hoerings Hörern und war z.B. recht aktiv in dessen Seminaren über "LISP und Logik".
Als Forscher hat sich Hoering vor allem durch Beiträge zur Theorie der Entscheidbarkeit von Theorien und ihrer philosophischen Deutung, zur Analyse logischer Grundbegriffe der Wissenschaftstheorie, wie z.B. des Begriffs des Naturgesetzes und der Reduktion von Theorien, sowie allgemeiner zum Begriff der wissenschaftlichen Rationalität einen Namen gemacht. Hinzu kommen Arbeiten, in die er seine physikalische Kompetenz einbrachte, etwa zur Quantenlogik und zum Determinismus in der klassischen Physik. Ein weiteres Interesse galt der Wissenschaftsgeschichte. Basierend auf der Überzeugung, dass ohne Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte keine brauchbare Wissenschaftstheorie entwickelt werden kann, legte er eine Reihe von Fallstudien zur Wissenschaftsentwicklung vor, teilweise im Rahmen von umfangreichen Drittmittelprojekten. Schon Mitte der achtziger Jahre entwickelte und implementierte er in einem Arbeitskreis "Automatisches Beweisen" mit engagierten Studenten ein computergestütztes Lernprogramm zur Logik. Hoering war national und international einer der ersten, die Computerhilfsmittel in der Philosophie zum Einsatz brachten. Mitte der 1980er Jahre wurde unter seiner Beteiligung der erste geisteswissenschaftliche Computerpool an der Neuphilologischen Fakultät der Universität Tübingen geschaffen.
Bis kurz vor seinem Tode war er regelmäßiger Referent, Gast und Diskutant in Arbeitskreisen und Kolloquien zur Logik und zur Philosophie und Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften, nicht nur in Tübingen und München, sondern auch z.B. an den Archives Henri-Poincaré in Nancy.
Walter Hoering war ein herausragender Vertreter der Tübinger Logik-Tradition, die 1750 mit der Berufung von Gottfried Ploucquet auf einen Lehrstuhl für Logik und Metaphysik begründet wurde. Persönlich war er ein allseits geschätzter Kollege, mit dem zusammenzuarbeiten eine Freude war.
Prof. Dr. Peter Schroeder-Heister