Mediävistische Merkverse
Arne Holtorf gewidmet von der mediävistischen Abteilung
I. Abteilung: Vom Indogermanischen zum Deutschen
- Die erste Lautverschiebung
- Grammatischer Wechsel
- Verners Gesetz
- Primärer Berührungseffekt
- Die zweite Lautverschiebung
- Althochdeutsche Monophthongierung
- Umlaute
II. Abteilung: Mittelhochdeutsche Grammatik
III. Abteilung: Aussprache und andere Überlebensregeln
- Diphthonge
- Neuhochdeutsche Diphthongierung
- Semantische Verschiebungen
- Bedeutungswandel
- Reimpaarversmetrik
- Negationen
- Konjunktionen
- Neuhochdeutscher Sprachschwund
I. Abteilung: Vom Indogermanischen zum Deutschen
Verschiebung der Plosive
bh dh und gh – so klang es einst,
so weich, charmant, apart.
Die Lautverschiebung mocht das nicht,
sie wollt’s germanisch-hart.
Die aspirierten Medien
verloren ihren Hauch;
und Medien und Tenues
veränderten sich auch:
Die Stimme schwand dem b d g,
jetzt nennt’s sich p t k.
Das alte p t k, empört,
zischt leise f þ h.
Verschiebung der Tenues
Bei den Römern kam der Fisch
noch als piscis auf den Tisch,
doch schon bei den Angelsachsen
ist dem fish ein f gewachsen.
Klar erkennt der Küchenchef:
p wird f und bleibt auch f.
Fischlein hat drei Wünsche frei:
tres wird three und tree wird drei,
t wird þ und þ wird d
durch den Zauberstab der Fee.
Doch wer heilt des cordis Schmerzen?
Sweethearts Kummer geht zu Herzen,
und die Liebe bringt uns nah:
k wird h und bleibt auch h.
Frag nicht nach dem Sinn der Fabel:
merk sie dir und halt den Schnabel!
Wo sich s mit r oder d mit t,
wo sich f mit b, h mit g und w,
schön wurzelverwandt, im Wechsel fand,
hat Grimm dies ‘grammatischen Wechsel’ genannt.
Kurzform für die Konsonantenpaare (aus Bonn): f - b / d - t / h - g / s - r
Frau Bergers / dicke Tochter / hat gerne / suessen Reis.
Falls ein stimmloser Spirant
nicht direkt im Anlaut stand,
ward er immer dann stimmhaft
– in stimmhafter Nachbarschaft –
wenn – das ist der Witz dabei –
da der Wortakzent noch ‘frei’,
dieser nicht unmittelbar
vorher angesiedelt war;
welch Gesetz – nach ihm benannt –
Verner einst im Halbschlaf fand.
Beispiele für Verners Gesetz
– aqua und Akzent dazu
gibt Ach und Au im Nu.
– Wenn f þ h im Anlaut steht
VG spurlos vorübergeht.
Über die Erotik der Primärberührung
Kommt ein t dir nah so sehr,
daß’s dir die Stimm’ verschläkt,
so ist das ein erotischer
Primärberührungseffekt.
Merkwürdige Wörter
Day zu Tag und thirst zu Durst,
Peperoni – Pfefferwurst,
êtan – essen, tîd – die Zeit,
coqua, merk dir, Küchenmaid.
und schon hast du einwandfrei
Lautverschiebung Nr. 2.
Frühe Belege
Rîchlindis und Vndicho
machen den Verschieber froh.
Kurzfassung
Doppelspirans nach Vokal
beschreibt die zweite (Lautverschiebung) allemal.
Neue Lautverschiebungstheorien
Der Vennemann, der Vennemann,
fängt LV2 von oben an.
Althochdeutsche Monophthongierung
Vor h r w
wird ai zu e.
au zu ô
vor Dental und h[o].
bzw.: Mit Dental oder germanisch h verbandelt
au zu langem o sich wandelt.
Primär- und Sekundärumlaut
Edeler Adel und schändende Schand
sind durch primären Umlaut verwandt.
Wächsernes Wachs und mächtige Macht,
kamen erst sekundär in Betracht;
ebenso jeder andre Vokal
ward dann vor i partiell palatal:
höfischer Hof und mördrischer Mord
– mittelhochdeutscher Umlautungssport.
Rückumlaut – in zwei Teilen
Starke Verben, welche Qual,
ändern stets den Stammvokal.
Doch zu unserem Verderben
tuns auch manchmal schwache Verben.
Das ist allgemein vertraut
seit Jacob Grimm als Rückumlaut
Jacob Grimm, der nannte ‘Rück-
umlaut’ dies Grammatikstück:
erben – arbte, hengen – hancte,
küssen – kuste, wenken – wancte.
antwurte, beswârte, ergazte, erschrahte
zeigt, wie das schwache jan-Verb es machte.
II. Abteilung: Mittelhochdeutsche Grammatik
Die Vokale der mhd. Ablautreihen
Zu den Ablautreihen merke: î, ie, iSK, iS, iK
sechstens a, dann reduplizierend: das macht sieben – sic!
Althochdeutsche Merkwörter für die Ablautreihen
rîtan, zîhan, solcherlei ——stehen in der ersten Reih'.
liogan und ziohan ——schließt die zweite Reihe an.
Willst die Reihe drei du findan, ——denk an werfan und an bindan.
neman, stelan, wissen wir, ——passen nur in Reihe vier.
geban wird ganz ungeniert ——in der Reihe fünf notiert.
graban, slahan, dies Gewaechs ——kennen wir in Reihe sechs.
haltan und der Rest, Ihr Lieben, ——hat redupliziert in sieben.
(aus Osnabrück?)
Mittelhochdeutsche Version
rîten, zîhen, biegen, bieten ——bilden eins (1) und zwei (2);
binden, werfen: Unterklassen ——a und b von drei (3);
nemen mit Sonant als vier (4), ——dann geben ohne den (5);
varn ist sechs (6) – mit siebtens (7) raten ——ist es dann gescheh’n.
Dasselbe ausführlicher und neuhochdeutsch:
1a Der Erste will nicht gerne reiten,
b wie soll im Elend er gedeihn?
2a Der Zweite biegt sich ihm zur Seiten
b und bietet Geld fürs Kämmerlein.
3a Den Dritten aber muß man binden,
b sonst wirft er sich hinaus selbsiebt.
4 Der vierte nimmt Reißaus vor Winden,
5 der fünfte sich als Tor ausgibt.
6 So fährt der sechste einsam über Stock und Stein;
7 der siebte rät ihm nur – und läßt ihn dann allein.
Der Reiter ritt,
bog um die Eck',
bands Rößlein an,
nahm Futter weg
und gab es ihm,
fuhr heim geschwind,
und hieß es eilen wie der Wind.
Wie leicht die Ablautreihen sind!
(von Frau Horacek)
Verteilung der Ablautstufen und grammatischer Wechsel
Im Singular Präteritum
wechseln starke Verben um:
ich zôh, du zugi, er zôh
ziehen sie sich hoch.
Es schnitzte einst der liebe Gott
die Präsensform vom Stamme J,
hat ligen, sitzen, bitten
in Klasse V geschnitten
heven schepfen swern
tat er in VI – das lern!
Willst Du schwache Verben machen,
brauchst Du zwei verschiedne Sachen:
Nimm den Stamm vom starken Verbum
– auch ein Nomen ist nicht sehr dumm –
und häng einfach hinten dran
die Suffixe -ên, -ôn, -jan.
Entstehungsgeschichte
Es gibt da ein paar arme Verben,
deren Präsens mußte sterben.
Sie standen da, und das war hart,
gänzlich ohne Gegenwart.
Sie hatten nur noch eine Zeit,
nämlich die Vergangenheit.
„Die soll jetzt Gegenwart bedeuten!“
schlug eines vor; die andern freuten
sich über dieses Angebot.
Doch wiederum, groß war die Not,
blieb vieles dadurch ungesagt.
Da haben sie es keck gewagt,
sich neu Vergangenheit zu formen,
analog, gemäß den Normen.
Sie machten diese Bildung schwach,
des Plurals Wurzel folgt -t nach:
Bestandaufnahme
wizzen, tugen, mugen, gunnen,
turren, durfen, suln und kunnen,
müezen sich die Verben nennen,
die Präteritum als Präsens kennen.
Sonderformen
Abweichend davon ganz und gar
ist nur die zweite Singular:
sie endet nämlich auf ein -t
(normalerweise wärs ein -e).
Und die Vergangenheit danach,
bilden sie ganz einfach schwach.
Bildung und Bedeutung
wizzen – weiz, tugen – touc, gunnen – gan,
durfen – darf, turren – tar, kunnen – kan,
müezen – muoz, mugen – mac, suln – sal/sol:
äußerlich sehn sie– merk dirs wol –
nach starken Präteritalformen aus.
Inhaltlich kommt was andres heraus:
Gegenwart zeigen sie damit an.
Glücklich ist, wer sich das merken kann.
bedürfen begern ——erwinden geniezen
jehen geruochen ——phlegen verdriezen
– geniet dich des Genetivs, ——darbe sein selten,
sonst mußt du leicht ——des Fehlers entgelten.
Deklination der schwachen Femina im Singular (nach Morgenstern)
‘Diu vrouwe’ sprach der guote man,
der vrouwen, Genetiv sodann;
der vrouwen, Dativ (wie man’s nennt);
die vrouwen – denn es hat ein n(d)!
Diu und die
Diu zît ist – da feminin – Nominativ,
der Akkusativ hat die zît.
Im Nominativ wie im Akkusativ
stehn – neutrum und Plural – diu wîp.
III. Abteilung: Aussprache und andere Überlebensregeln
Wie ch sprich h, das ist phliht
auch wenn man’s geschrieben niht siht.
Im Anlaut und zwischen Vokal
da sprich es ganz einfach normal.
Das ie und das üe
bereiten große Mühe.
Doch uo ei öu und ou
kann praktisch jede Sau.
Neuhochdeutsche Diphthongierung
Die Jungfrau i seufzt herzensschwer
"mîn niuwes hûs, das ist so leer,
zwar bist du, Schwester u, stets da,
doch echter Spaß ist mehr als rar."
Drum luden die Damen leis und fein
zum Diphthongierungs-Stelldichein.
Das kecke e ist schnellstens da,
gleich hinterher sein Bruder a.
Jeder gesellt sich mit einer zu zwein
und säuselt sanft ins Ohr ihr hinein:
"Liebste, gebt Euer Herz zu erkennen,
darf ich dies 'mein neues Haus' nennen?"
Bleib beim Übersetzen wach!
siech heißt ‘krank’, doch kranc meist ‘schwach’,
swach ‘gering’ und sleht ‘grad, eben’,
wer veic ist, ist ‘dem Tod gegeben’,
karc ist ‘geizig’, gîtec ‘gierig’ –
dies klingt ja nicht allzu schwierig.
Doch am Merkvers sich ergötzen,
kann den Kontext nicht ersetzen.
Merk dirs und bewegs im Herzen,
dann erhältst statt schimpf du ‘Scherzen’.
Endlich dürfen wir es wagen
– bei aller Ehrfurcht vor den Alten –
und frei heraus die Wahrheit sagen,
daß wir ihr Werk für nichtig halten:
kranc warn sie vor lauter wân,
arc, obschon wie waren milt.
Aller rât ist dort vertan,
wo der vrouwen nît ist wilt.
Wenn sie auch die magt wohl mohten,
war’s das wîp, um das sie fochten.
Dick warn sie zu jener Zeit,
keine mâze hatt’ ihr Kleid.
Langsam ging bei ihrer swære
ihn die arbeit von den Händen.
Und es ist gewiß kein mære
dessen sin wir uns erfänden.
Diesen Spaß kann nur verstehn,
'wer den Wandel hat gesehn.
Der Reimpaarvers hat, merke dir,
der Takte regelmäßig vier.
Kadenzen gibt es zwei mal zwei;´
stumpf, weiblich sind hier nicht dabei.
Erkenntnis, was Kadenz ist, keimt,
wenn man drauf achtet, was sich reimt.
Nur eine Reimsilb? Dran man kennt's:
das ist die männliche Kadenz,
besetzt die Hebung von Takt vier.
Dreisilbig klingend man notier
bei drei Reimsilben. Aber zwei
bringen in Zweifel, was das sei:
Klingend? Zwei Takte, dabei lang
die erste Reimsilb, wie man sang
"Hoppa hoppa Reiter,
wenn er" und so weiter,
auch "in alten mæren
von helden lobebæren".
Zweisilbig männlich – der andre Fall;
nur bei kurzem ungedecktem Vokal
klang's so: "von weinen und von klagen
muget ir nu wunder hœren sagen".
Vor der Senkung hinter der Kadenz
folgt sofort die Versgrenz.
Dann kommt der Auftakt vom nächsten Vers,
auch mehrsilbig oder pausiert. Das wär's.
Beton’ im Vers am rechten Orte
die Silben wohlgestalt’ter Worte.
Denn sind die Iktus falsch erklungen,
hört man häßliche Tonbeugungen.
Negationen und ihre Übersetzung
Bei ne im Nebensatz ohne Konjunktion
trifft „wenn nicht“, wenn nicht „daß nicht“ schon
.
Doch niht vergiz und lâ dih niht verdriezen
– ine kan dichs niht erlân –,
ne im Nebensatz in solchen Fällen
laß ohne translationem stân.
ich spriche niht, ir wellet swîgen,
ich swîge, ir enwellet hœren
– dieses darf dich ja nicht stören,
„wenn nicht“ ist immer hinzukriegen.
en oder ne an ein wort gefüeget
en geht voran, ne hinterher
iewederhalp ouch ein ‘n’ genüeget
– merk dirs gern, dann fällts nicht schwer.
Enlâ dînen sin den sin verwickeln
– gib acht auf Negationspartikeln.
niht, niemen, niemer und Konsorten
stehn gehäuft an manchen Orten.
Zum Ausgleich dafür trifft man dann
iemen für niemen, iht für niht
und weiteres anderswo an.
Exzeptivsatz bringt das ne,
ob’s vor, ob nach dem Hauptsatz steh.
Konjunktiv es mit sich führt,
jener Hauptsatz ist negiert.
Manchmal holt’s ein danne rein,
läßt das danne auch allein.
Niemals du ein Profi heißt,
„es sein denn, daß“ du dieses weißt:
si sælec wîp enspreche sinc
niemer mê gesinc ich dinc.
Übersetzend und beim Sätze drechseln
läßt sich schnell der Sinn verwechseln;
darum wird es Nerven schonen,
merkt man sich die Konjunktionen:
dâ und wâ sind meist lokal
dô dagegen temporal.
Sô und dô sind temporal
zu fassen, unz heißt heute ‚solang bis‘
ê meint ‚bevor‘, und – nicht banal –
stand für ‚obwohl‘ al eine damals; dies
bringt uns noch jetzt in Nöte.
Doch: Das war schon lang vor Goethe.
Neuhochdeutscher Sprachschwund
Schönheit schwindet, muß verderben:
ach, auch die ehrwürd’gen Verben
gâhen eilen, touwen sterben,
jehen sagen, krinnen kerben.
Zur Sammlung haben beigetragen:
Erika Bauer
Andreas Beck
Dietlind Gade
Walter Haug
Christoph Huber
Nicola Kaminski
Franziska Küenzlen
Henrike Lähnemann
Sandra Linden
Anna Mühlherr
Cordula Michael
Derk Ohlenroth
Michael Rupp
Paul Sappler
Frieder Schanze
Manfred Günter Scholz
Justin Vollmann
Burghart Wachinger
Christina Zenker
Nicola Zotz