Prof. Dr. Möhring-Hesse
Drei Tage nach der russischen Invasion in die Ukraine sprach Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages von einer »Zeitenwende«: » ... das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.« Auch wenn man das mit der »Zeitenwende« nicht gar so punktuell nehmen, wenn man also den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine »nur« als ein Moment davon nehmen sollte, trifft der Begriff die weltpolitische und weltwirtschaftliche Situation recht gut: Die internationale Ordnung ist seit einiger Zeit in »Un-Ordnung« und ohne stabile und eindeutigen Konturen, die weltwirtschaftliche Lage ist instabil, die Lieferketten unterbrochen und die Wertschöpfungsketten hochriskant, die Sicherheitsordnung ist wenig sicher und deren »Friedensdividenden« längst aufgebraucht. Durch den Ukrainekrieg ist vor allem die »ökonomistische« Grundlage der Geo-, Außen- und Sicherheitspolitik radikal infrage gestellt, politische Macht und internationale Kohäsion über wirtschaftliche Macht und nicht über militärische Macht zu erzielen.
In dem Seminar wird die weltpolitische und weltwirtschaftliche Situation nach der »Zeitenwende« für verschiedene Themen untersucht. Wir werden uns mit den unterschiedlich imperialen Ländern China und Russland, mit »America First« und mit der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, aber auch mit der De-Globalisierung der weltwirtschaftlichen Produktion und Wertschöpfung, der globalen Energie- und Ernährungsversorgung und der Klimapolitik beschäftigen. Angesichts der Vielzahl der Themen werden wir uns eher einen Überblick verschaffen, statt genaue und tiefgründige Analysen zu betreiben. Dabei werden wir auch die Begriffe kritisch in den Blick nehmen müssen, mit deren Hilfe wir diesen Überblick gewinnen, – und dabei den Begriff ›Geopolitik‹ an erster Stelle. Schließlich wird nach der gerechten Ordnung der internationalen Beziehungen und der Weltwirtschaft gefragt – und danach, ob und wie man sinnvollerweise in diesen Zusammenhängen überhaupt an »Gerechtigkeit« denken kann und sollte. In der theologischen Sozialethik sollte man aber genau das tun, sofern man (zumindest auch) subsidiär auf das Solidaritäts- und Friedensengagement von Christ:innen Bezug nimmt. Nimmt man sich die Gerechtigkeit der internationalen Beziehungen vor, dann wird man vermutlich sehen, dass weder die »Dämonisierung« Russlands ein belastbares geopolitisches noch Aufrüstung allein ein vertrauenswürdiges sicherheitspolitisches Konzept für diese »eine« Welt nach der »Zeitenwende« ist.
Leistungsnachweis
Textlektüre und regelmäßige Teilnahme
Literatur
Deitelhoff, Nicole (2022): Zurück auf Null. Putins Krieg und die Europäische Sicherheitsordnung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik Heft 6/2022, S. 69–76.
Politikum 5. Jg., Heft 5/2019 (»Neue Geopolitik«).
Neutatz, Dietmar u.a. (2022): Die Rückkehr der Imperien? Putins Krieg und seine globalen Implikationen, in: Journal of Modern European History Vol. 20, Issue 2/May 2022, pp. 148–160, online verfügbar: <doi.org/10.1177%2F16118944221095639>.